Dieser Fokus bildet die klar benannte und in den einzelnen Beiträgen des
Bandes stets erkennbare theoretische Klammer. Die sozialwissenschaftliche
Systemtheorie wurde in ihren Grundlagen hauptsächlich durch Niklas
Luhmann mit kritischem Bezug zu Talcott Parsons entwickelt. In ihrer
Weiterentwicklung und Anwendung, zu der der Sammelband beitragen möchte,
entfaltet sie eine ganz bestimmte Lesart von System und Raum (neben vielen
anderen möglichen), die auf den Begriffen der Kommunikation, Beobachtung
und Unterscheidung beruht. Systeme werden nicht als Set von Objekten und
ihren Relationen untereinander gedacht, sondern sie entstehen im Moment der
Unterscheidung eines Innen (System) von einem Außen (Umwelt). Diese
Unterscheidung wird durch Kommunikation realisiert, fortgeschrieben und
kontrolliert. Systemtheoretische Betrachtungen nehmen eine Beobachterrolle
ein, die neben die Selbstbeobachtungen des Systems tritt und die deren
Grenzziehung durch Kommunikation feststellt und untersucht. Typischerweise
ist mit „System“ so etwas wie „Recht“,
„Wissenschaft“, „Kunst“ oder „Religion“ gemeint; Bereiche, die in
besonders deutlichem Maße ihre eigene Kodierung der Wirklichkeit, eine
spezifische Sprache entwickelt haben. Sie erzeugen ständig Operationen
der Unterscheidung und sind gleichzeitig für ihr Existieren auf diese
Unterscheidungen angewiesen. Aufbauend auf dieser Denkweise ist es nur
konsequent, nach der Rolle des Räumlichen für diese Kommunikation
der Unterscheidung zu fragen. Raum wird demnach als Unterscheidungsfolie
verstanden; Kommunikation erfolgt nicht
Der Band „Konstruktion und Kontrolle“ repräsentiert nun die Arbeit eines über mehrere Jahre bestehenden Netzwerks „Systemtheoretische Geographie“, welches regelmäßig Forschende aus der Humangeographie und aus anderen Disziplinen versammelt hat. Die in diesem Zusammenhang entstandenen insgesamt 14 Beiträge des Bandes werden in vier Sektionen untergliedert: Räume und Grenzen, Territorien und Netzwerke, Dinge und Körper sowie Natur und Technik.
Die Themen der Beiträge können hier – selbstredend – lediglich benannt, keinesfalls aber hinreichend argumentativ rekonstruiert werden. In der Einleitung von Pascal Goeke, Roland Lippuner und Johannes Wirths wird neben dem begrifflichen Zugang auch ein zeitdiagnostisches Feld aufgespannt, welches systemtheoretische Geographie mit den Dynamiken der „Ökologisierung, Mediatisierung, Globalisierung und Technisierung“ in Beziehung setzt. Systemtheoretische Geographie beschäftigt sich also nicht nur mit den selbstreferentiellen, Differenz erzeugenden kommunikativen Operationen, sondern setzt diese auch zu systemübergreifenden Entwicklungen in Beziehung.
Im ersten Teil des Bandes „Räume und Grenzen“ wird das Prinzip der begrifflichen Grenzziehung in mehreren Facetten eingeführt. Johannes Wirths beobachtet die Rede über Raum in Gesellschaft, Philosophie, Geographie und in einer räumlich gewendeten Kulturwissenschaft. Er beschreibt die Funktion des Raumbegriffes in vielfältigen diskursiven Kontexten als reifizierend und fixierend, etwa verbunden mit Grenzziehungen zwischen Natur und Kultur oder Fragen der Landschaft. Während der Beitrag Wirths' als eine Hilfe zur Ordnung und Sichtung der empirisch beobachtbaren Fülle an Diskursen um Raum, also als Öffnung des Feldes verstanden werden kann, vollzieht Dirk Baecker eher den gegenläufigen Schritt hin zu Reduktion und Abstraktion. Formentheoretisch wird in Abgrenzung zum euklidischen Raum die Grundfigur des Unterscheidens als Raum vorgestellt, die allen möglichen empirischen Raumphänomenen zugrunde liegt, sich meist als Grundprinzip der Raumkonstruktionen aber selbst nicht kenntlich macht. Diese Form oder Figur des Räumlichen wird in den folgenden beiden Beiträgen (Katharina Mohring über Medien, Marc Redepenning über Ländlichkeit) mit empirischen Bezügen angereichert und weitergedacht. Nach Katharina Mohring sind Medien als Unterscheidungsproduzenten (Hier-Dort) an ihren Standort und an den Raum des Publikums gebunden. Dies wird am Beispiel des Themas Abwanderung aus Ostdeutschland erläutert. Marc Redepenning zeigt, wie das Ländliche als Gegenbild des Urbanen nicht etwa materielle Wirklichkeiten abbildet, sondern diese als „raumbezogene Semantik“ erzeugt – nicht nur im konstruktivistischen Sinne, sondern auch im Sinne der Materialisierungen von Handlungen, die sich auf die gemachte Grenze beziehen.
Der zweite Teil „Territorien und Netzwerke“ bündelt Beiträge zu einer empirischen, teilweise historischen politischen Geographie sozialer Systeme. Isabel Kusche behandelt die postkoloniale Situation des globalen Südens. Sie versucht, diese nicht einfach als rudimentäre Modernisierung oder mangelhafte Ausbildung bzw. Trennung von Subsystemen zu beschreiben. Stattdessen kommt sie umgekehrt zum Befund, dass die Kongruenz von funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung und nationalstaatlicher Territorialisierung eigentlich nur vor dem historisch sehr spezifischen Hintergrund der europäischen Nationalstaatsentwicklung überhaupt als normatives Ideal postuliert werden kann. Poul Kjaer zeigt, dass aus systemtheoretischer Sicht die europäische Integration ein hybrides Gebilde darstellt, welches organisationale und (meta)nationale Differenzierung und Integration verbindet. Erstaunlich erscheint hierbei weniger die Unvollständigkeit der Integration, sondern das trotzdem real beobachtbare Funktionieren ihrer Institutionen, wenn diese auch stark auf dem Status quo beharren. Informelle Prozesse und Praktiken der Raumkonstruktion untersucht Aldo Mascareño im lateinamerikanischen Kontext anhand zweier Beispiele. In der Favela erkennt er einen deutlich markierten Behälter-Raum, während kriminelle Netzwerke eher einen relationalen Raum machtgeladener Reziprozität erzeugen. Pascal Goeke und Swen Zehetmair legen Überlegungen zur Verbindung von Netzwerk- und Systemtheorie dar. Erstere müsste entsprechend der systemtheoretischen Grundperspektive von einer akteurs- zu einer kommunikationsbasierten Festlegung von Knoten und Kanten der Netzwerke übergehen. Komplexe und differenzierte Netzwerke – so die These – „emanzipieren“ sich durch Differenzierung und Komplexitätszuwächse vom topographischen Erdraum.
„Dinge und Körper“ bilden den dritten thematischen
Schwerpunkt des Bandes. Peter Fuchs reflektiert die körperliche
Innenwelt als Kognition, die mit der äußerlichen Sinnbildung durch
Auswahl und kommunikative Anschlussoperationen in Verbindung gebracht werden
muss. Der Widerständigkeit des Körperlichen und Materiellen ist
dabei mit theoretischer Flexibilität und Kreativität zu begegnen.
Anna Henkel beschäftigt sich mit dem ambivalenten
Verhältnis von sozialer Konstruktion und gleichzeitigem
Kontroll
Der abschließende vierte Teil „Natur und Technik“ umfasst
drei Beiträge. Michael Guggenheim begreift Katastrophen nicht
als Zerstörung, sondern Umordnung des Gesellschaftlichen. Was eine
Katastrophe ist, hängt davon ab, wie sich die „Endostruktur“ (z.B. Infrastrukturen) zur Sphäre gesellschaftlich
differenzierter Funktionssysteme verhält. Welche Verbindungen zwischen
beiden werden gestört und durch den Katastrophenbewältigungsbetrieb
ersetzt? Kontrollierte, notfallplanmäßige
Katastrophen
Eine in mehreren Beiträgen reflektierte Herausforderung bleibt die Beschreibung des Verhältnisses zwischen System und Umwelt in dem Sinne, dass es neben den ausgewählten, adressierten und im System repräsentierten Teilen der Umwelt auch stets eine inkontingente räumliche Umwelt gibt (Fuchs spricht von der scheinbaren „Unhintertreibbarkeit“ des Körpers), die sich zunächst gegen die systemische Kommunikation und auch gegen die systemtheoretische Modellierung sperrt. Zwar gilt: „Alles, was beobachtet wird, kann anders beobachtet werden“ (Beitrag v. Fuchs:216). Gleichzeitig gibt es ein „Außen“, an dem das „Innen“ trotz kommunikativer Selektion nicht vorbeikommt, das es aber auch nicht einfach bruchlos verarbeiten kann. Die ursprüngliche Idee der Systemtheorie, Dinglichkeit und Materialität begrifflich in Kommunikation aufzulösen, lässt sich nicht ohne Reduktionismen durchhalten – neue Konzepte werden gebraucht, um dieses nicht-kommunizierte Außen zu fassen, ohne in den klassischen Dualismus von Sinn und Materie zurückzufallen. Mehrere Beiträge reflektieren dieses Problem der Inkontingenz bei gleichzeitiger Kommunikationsabhängigkeit des Räumlichen: als „Faitichisierung“ bei Redepenning, als Erdraum, der eine mehr oder weniger relevante Bezugsebene bildet für kommunikative Netzwerke bei Goeke/Zehetmair, als basale Infrastrukturen der Versorgung („Endostruktur“), als „dingliche Stützung der Gesellschaft“ bei Guggenheim, oder als urbane „Präsenz“ jenseits bloßer Anwesenheit bei Dirksmeier/Lippuner.
Insgesamt bildet der Band eine gelungene Zusammenschau systemtheoretischer Arbeiten mit räumlichem Bezug. Beim Durchgang der Beiträge zeigt sich ein hohes Maß an begrifflicher Strenge und Präzision. Abstrakte theoretische Instrumentarien und komplexe Modelle werden auf sehr verschiedene Beispiele angewendet, aber immer mit dem Fokus auf Raum bzw. ökologische Problemlagen. Die Heterogenität der empirischen Forschungsfelder wird durch den gemeinsamen theoretischen Zugang in stringenter Weise überwölbt, was sicherlich auch der intensiven Zusammenarbeit der Autoren im Netzwerk zu verdanken ist. Es werden zudem auch andere interessante theoretische Grundlagen jenseits der Luhmannschen Arbeiten eingesetzt (z.B. Gregory Bateson, Spencer-Brown).
Die empirische Anschlussfähigkeit der im Grundsatz maximal
abstrahierenden Systemtheorie wird deutlich, weil die funktionale
Differenzierung von Gesellschaften eben nicht nur eine Konstruktion der
wissenschaftlichen Beobachtung ist. Es handelt sich auch um innerhalb dieser
Gesellschaften kursierende Selbstbeschreibungen. Differenzierungen qua
unterscheidender Kommunikation und Beobachtung sind eben auch der
„Stoff“, aus dem die Wirklichkeit alltäglich gemacht wird.
Darüber hinaus bildet die Einsicht, dass spätmoderne Gesellschaften
systematisch differenziert