Chapeau! Möchte man sagen: ein gelungenes Buch über die deutsche Geopolitik, ihre Denker, ihr Einfluss auf die Politik, und als leckeres Dessert noch ein kritischer Blick auf alternative Theorien der Geopolitik von Hardt/Negri und Latour. Im nächsten Augenblick überkommt einen jedoch die Schwermut: schon wieder war es keine Geographin, die dieses wichtige Buch über ein urgeographisches Thema geschrieben hat. Das déja vu bezieht sich natürlich auf „Im Raume lesen wir die Zeit“ des Historikers Karl Schlögel – ebenfalls ein elegant geschriebenes Werk, das sich mit Geopolitik auseinandergesetzt. Auch Timothy Snyders „Bloodlands“, das Buch par excellence zur Frage, wie Gewalt sich im Raum einschreibt, stammt aus der Feder eines Historikers. Zugegeben, Schlögels (2003), Snyders (2011) und Werbers (2014) Bücher sind sehr unterschiedlicher Natur – hier opulente historische Erzählungen, dort ein begrifflich und disziplingeschichtlich orientierter schlanker Einführungsband. Die Lektüre lohnt jedoch in allen Fällen. In dieser Rezension geht es primär um Werbers Band.
Werber kann sich eine Provokation gleich zu Beginn nicht verkneifen, wenn er Benno Werlen für seine Definition von Geopolitik kritisiert, weil dieser der Geopolitik ein raumdeterministisches Denken unterstellt. Werber schreibt: „Dies ist sicher eine bündige Formel, aber sie ist nicht sehr genau ...“ (S. 9), denn eigentlich gehe es bei Ratzel um Staatsbiologie und darwinistisches Denken, das gerade nicht deterministisch sei: „Darwinismus ist nicht das Gleiche wie Determinismus“ (S. 10). Für Werber wird Geopolitik von spezifischen diskursiven Aussageregeln gesprägt, die „Räume und biologische Entitäten ... in einen politischen Entwicklungszusammenhang ‚stellen‘“ (S. 13). Es handelt sich also um bellizistische, rassistische, kolonialistische, imperialistische Umschreibungen sogenannter „Gebote des Raumes“ (Ratzel). Mit dieser Definition in der Hand beobachtet Werber, der Literaturwissenschaftler, diese Regeln „gewissermassen bei der Arbeit“ (S. 12). Dabei interessiert ihn vor allem die klassische deutsche Geopolitik, deren Aussageregeln sich aber bis in die heutige Zeit weiterverfolgen lassen – bei so unverdächtigen Autoren (es sind alles Männer), wie Bruno Latour oder Hardt/Negri.
Als Literaturwissenschaftler hat Werber durchaus ein Faible für populäre Geopolitik, wie er bereits in seinem Buch „Geopolitik als Literatur“ herausgearbeitet hat. Dieses Buch, 2007 bei Hanser erschienen, ist noch erstaunlich wenig unter Geographinnen und Geographen rezipiert worden. Im vorliegenden Buch steigt Werber mit Tolkiens Lord of the Rings ein, um eine anschauliche Beschreibung des im geopolitischen Diskurs immer schon angelegten Freund-Feind-Denkens vorzulegen. Bei Tolkien wird selbst die Natur in diesen Kampf zwischen Freund und Feind hineingezogen – der Fluss Bruinen reisst Pferde und Reiter des Feindes hinweg und rettet den Hobbit Frodo und seine Freunde. Der Fluss wird damit zu einem politischen Akteur – in Tolkiens geopolitischer Erzählung. Erinnert uns das nicht stark an Latour? Vielleicht ist es dann gar nicht so überraschend, im letzten Kapitel des Buches zu lesen, wie Latour die Schriften Carl Schmitts rezipiert und ein radikalisiertes Freund-Feind-Denken propagiert. Aber mehr dazu später.
Werber geht weitgehend chronologisch und ideengeschichtlich vor: Dabei finden wir vieles wieder, was in der Politischen Geographie ausgreifend diskutiert wurde, z.B. die geopolitischen Denkstile von Ratzel, Kjellen und Haushofer, aber auch von Mackinder und Mahan. Werber zeigt nicht nur, welche Ideen in diesen Schriften entwickelt wurden und wie diese Schriften in gegenseitiger intellektueller Befruchtung standen. Vielmehr zeigt er auch auf, wie diese Texte in gesellschaftspolitischen Diskussionen ihre jeweilige Wirkung erzielten. So betont Werber zum Beispiel, dass Ratzels Schriften erst mit der Niederlage des Deutschen Reiches im ersten Weltkrieg ihre öffentliche Wirkung erzielten; Ratzels „Schule des Raumes“ fand ihre Schüler primär posthum. In seinen ideengeschichtlichen Analysen greift Werber auch auf einschlägige geographische Arbeiten von HD Schultz, Klaus Kost und Werner Köster zurück, aber auch auf diejenige von Historikern (Schlögel, Osterhammel), immer jedoch in kritischer Lesart. (Es sind übrigens alles Männer, die über Geopolitiker geschrieben haben).
Werber bezeichnet die Geopolitik als „Denkstil“ im Sinne von Ludwig Fleck. Dieser Denkstil ist „hochselektiv: ... Staaten sind Lebensformen; sie leben in einer Umwelt darwinistischer Bedingungen; sie wachsen und schrumpfen im Raum usf.; zu unterscheiden sind Land und Meer; Volk und Raum; Landmacht und Seemacht; Grenzen und Lebensadern ...“ (S. 107). Zentral für die letzten Punkte in dieser Aufzählung sind weniger die Arbeiten von Ratzel, sondern diejnigen von Halford Mackinder und Carl Schmitt. Werber rezipiert ausgiebig Schmitts Schriften zum „Nomos der Erde“ und zu „Land und Meer“, in denen die Ausdifferenzierung von Land- und Seemacht weitergeführt und ideologisch positioniert wird. Werber zeigt zudem, wie im Begriff vom „glatten“ und „gekerbten“ Raum, den Deleuze/Guattari eingeführt haben, Schmitts Unterscheidung von Land und Meer aufgegriffen wird. Es ist Werbers Verdienst, auf das problematische geopolitische Erbe hinzuweisen, das Deleuze/Guattari weiterführen, ohne es explizit auszuweisen.
Besonders innovativ und spannend ist das letzte Kapitel des Buches. Dort zeigt Werber das Wirken des geopolitischen Denkstils im 21. Jahrhundert. Wenig überraschend hat Samuel Huntington seinen Auftritt mit seiner These vom Zusammenprall der Zivilisationen. Aber Werber zeigt auch, wie der geopolitische Denkstil die Arbeiten von Hardt/Negri zu „Empire“ und „Multitude“ durchzieht, wenn sie von Krieg, Ausnahmezustand, Feindschaft und Partisanenkampf sprechen. Wir finden hier das Freund-Feind-Denken wieder, das im geopolitischen Diskurs notwendigerweise angelegt ist. Dieser Kampf, so Hardt/Negri, werde im 21. Jahrhundert ein netzwerkartiger sein, in dem sich das Empire und die Multitude als vernetzte Schwärme gegenüberstehen. Die Form der Auseinandersetzung wird also eine andere Sein als im alten (modernen) Nomos der Erde. Der globale Krieg wird ein enthegter – auch hier folgen Hardt/Negri einer Schmittschen Figur.
Auch Bruno Latour ist ein geopolitischer Denker auf den Spuren von Carl Schmitt. In seinen Gifford Lectures postuliert Latour, dass um die Zukunft „unseres Planeten“ ein Krieg geführt werde, in dem sich niemand neutral erklären könne. In diesem Krieg gehe es darum, ob man sich auf die Seite von Gaia stelle, der Erde als Lebewesen, oder zu ihren Gegnerinnen gehöre. Diese Frage könne nicht durch einen unparteilichen Schiedspruch gelöst werden, sondern nur durch Krieg zwischen diesen beiden Lagern. Bei Latour führen diesen Krieg Kollektive menschlicher und nicht-menschlicher Agenten. Latour fordert uns auf, gegen die Feinde der Erde Stellung zu beziehen, alles andere bedeute, das Politische aufzugeben. Die Geopolitik des Anthropozäns politisiere die ganze Erde – fast wie bei Tolkien, merkt Werber noch an. Wer sich jetzt die Augen reibt angesichts des bellizistischen Vokabulars, der oder die sollte sich vielleicht noch einmal sorgfältig in Latours Schriften einlesen, bevor man sich Latour als intellektuellen Held einer hybriden Geographie zurechtlegt.
Michel Foucault schrieb: „Man muss unter dem Frieden den Krieg herauslesen“ (Foucault, 1986:12). Ist die Metapher des „allgegenwärtigen Krieges“ (Gregory) vielleicht noch wörtlicher und weitgehender zu lesen? Als Krieg der Erde mit sich selbst? Wenn wir anfangen, so zu denken, haben wir die Axiome des geopolitischen Denkstils bereits verinnerlicht. Aber als „kritische“ Geographinnen sollten wir uns eine anti-geopolitische Haltung zumindest immer wieder als Denkmöglichkeit offen halten. Das würde bedeuten, dass wir uns die Denkstile von Schmitt, Ratzel, Mackinder, aber eben auch von Deleuze/Guattari, Hardt/Negri und Latour immer mit einer kritischen Distanz aneignen. Was für Schmitt, Ratzel und Konsorten als eine politische Selbstverständlichkeit gilt, geht bei „linken“ Denkerinnen allzugern in Vergessenheit. Es gibt eben auch eine „linke“ Geopolitik, wie Niels Werber in seinem wichtigen Buch aufgezeigt hat. Anti-geopolitisch denken würde bedeuten, Foucault vom Kopf auf die Füsse zu stellen: Man muss unter dem Krieg immer schon den Frieden herauslesen. Ja, im Raume lesen wir die Spuren der Gewalt und des Krieges. Aber ebenso diejenigen des Friedens.