...weil das Politische nicht notwendig, sondern
willkürlich geschieht, genauer: aus Pannen und Zufällen, aus
unvorhergesehenen Konstellationen heraus (Dürrenmatt, 1998:20).
Die Lektüre von Michael Hermanns „Was die Schweiz zusammenhält“ erinnerte mich an eine mehrwöchige Wanderung, die mich vor einigen Jahren in wunderbarer Begleitung von Pruntrut bis auf den Gotthard führte. Die Vielfalt der durchquerten Landschaften, der Architektur, der Siedlungsformen, ja sogar der Kirchtürme und der Wanderzeichen ist mir heute noch in bester Erinnerung. Erst zu Fuss wurde mir der Reichtum der Schweiz so richtig bewusst.
Vielleicht hat Michael Hermann einmal eine ähnliche Wanderung gemacht. „Was die Schweiz zusammenhält“ ist auch eine versteckte Liebeserklärung an die Schweizer Vielfalt. Eine typisch schweizerische Liebeserklärung zwar, mit Vorsicht, Vorbehalten, Kritik, aber auch mit leisem Humor. Dennoch, eine Liebeserklärung an dieses eigentümliche und vielschichtige, ja „unwahrscheinliche“ Land (S. 16) und an dessen spannungsgeladenen Zusammenhalt.
Hermann versteht „Vielfalt“ und „Zusammenhalt“ eben gerade nicht als antagonistisch, sondern als eng verwoben und korreliert. Es sind die Kontraste der Schweiz, aus denen sich ein komplexes Gewebe ergeben hat, das nicht nur den Charme, sondern auch die Kohäsion des Landes begründet. Dabei stellt Hermann gleich zu Beginn des Buches klar: Den einen Faktor, die eine Erklärung des Schweizer Zusammenhalts gibt es nicht (S. 9). Ebenso wenig ist die Schweiz als Endprodukt eines geplanten und konsequent durchgeführten Projektes zu verstehen. Vielmehr ist sie das Resultat vielschichtiger Prozesse und „Pannen“, um auf Friedrich Dürrenmatts Anfangszitat zurückzukommen. Dürrenmatt kommt im Übrigen auch in Hermanns Arbeit nicht zu kurz, insbesondere mit seinem berühmten Gefängnisvergleich zur Schweiz (Dürrenmatt, 1990). Überhaupt greift Hermann in seiner Argumentation gerne auf die ganz Grossen zurück, von Jeremias Gotthelf zu Johanna Spyri und von Pierre Bourdieu zu Georg Simmel.
Inhaltlich ist „Was die Schweiz zusammenhält“ in vier Hauptteile gegliedert. Der erste Teil des Buches behandelt die Frage des Zusammenhalts der Schweiz aus einer historischen Perspektive. Die Rede ist vom Schweizerischen Unabhängigkeitswillen; von Widerstandsinszenierungen und Sonderfall-Narrationen – von Guisan bis Blocher – aber auch von Minderwertigkeitskomplexen und Bauernschläue. Hermann will dabei immer auch zum Denken anregen, wie er dies seit Jahren mit seinen Kolumnen im „Tagesanzeiger“ und im „Bund“ sehr erfolgreich tut. Seine Argumente könnten aus einer wissenschaftlichen Perspektive zum Teil komplettiert werden, oder verfeinert. Aber genau dies ist auch ein spannender Aspekt des bewusst essayistisch geschriebenen, und damit an eine breite Leserschaft gerichteten Buches.
Im zweiten Teil des Buches werden dann die mannigfachen Gegensätze und
Kontraste der Schweiz ins Zentrum gerückt. Dadurch wird Hermanns
zentrale These untermauert, dass die Schweiz eben gerade wegen ihrer
unterschiedlich verlaufenden Spannungsfelder – konfessioneller,
sprachlicher, politischer, wirtschaftlicher und sozialer Natur – zu einem
stabilen und vor allem funktionalen Gebilde zusammenwuchs.
„Spannungsfelder, die sich nicht aufschaukeln, sondern durchkreuzen, festigen
das Gewebe“ (S. 74–75). Daraus folgt auch, dass dieses Gewebe nicht top
down geschaffen wird, sondern im helvetischen Alltag, fast schon
beiläufig, von der Gesamtbevölkerung erzeugt wird. Hermann bringt
dies sehr schön auf den Punkt: Der „Wille“ einer Willensnation lässt sich
nicht in einem das ganze Land umfassenden, gruppendynamischen Prozess
erschaffen. Er muss ganz beiläufig entstehen, während die Menschen
ihren alltäglichen Bedürfnissen und Interessen nachgehen und dabei,
ohne es wollen zu müssen, Kohäsion erzeugen. [...] Die
Schweiz existiert, weil sie funktioniert (S. 107–108). In der Agglomeration [...] wird es immer
anspruchsvoller, das Beste beider Welten [der Ländlichen und der
Städtischen] zu verbinden, weil die voranschreitende Verstädterung
und die überlasteten Verkehrsnetze das Beste nicht mehr so leicht vom
Schlechten trennen lassen. Vieles, was einmal die Schweiz ausgemacht hat,
ist am Erodieren und Verbleichen. [...] Und doch ist das Land
diesen Herausforderungen nicht einfach machtlos ausgeliefert. Die
Schweizerische Kunst, am Wandel teilzuhaben, ohne die Verwurzelung
aufzugeben, muss jedoch neu begründet werden (S. 156).
Ich habe „Was die Schweiz zusammenhält“ sehr gerne gelesen. Das Buch ist sehr gut geschrieben und vermittelt einen ebenso unterhaltsamen, wie auch informativen Einblick in das Wesen der Schweiz. Wäre das Buch auch auf Englisch erhältlich, so hätte ich es wohl kürzlich einem guten kanadischen Freund geschenkt, der nach einigen Jahren in der Schweiz zurück nach Toronto gereist ist. So empfehle ich das Buch dann auch gerne jedem und jeder zur Lektüre, der oder die den Schweizer Politalltag kritisch und anteilnehmend verfolgt.
Im Übrigen ist das Buch meiner Meinung nach auch von ganz speziellem Interesse für die Geographica Helvetica, deren Grundprojekt und -Philosophie ja genau darauf abzielt, unterschiedliche Sprach- und Wissenschafts-Traditionen der Geographie zusammenzuführen (Korf al., 2013). Auch hier stellt Vielfalt nicht ein Problem dar, sondern eine Ressource und eine Stärke. In Hermann's Worten: „Sich kompetent in einer Welt der vielen Perspektiven zu bewegen, das könnte die wahre Schweizer Stärke sein“ (S. 68–69).
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.