GHGeographica HelveticaGHGeogr. Helv.2194-8798Copernicus PublicationsGöttingen, Germany10.5194/gh-73-95-2018Lebenswelt, Leiblichkeit und Resonanz: Eine
raumphänomenologisch-rekonstruktive Perspektive auf
Geographien der AlltäglichkeitLebenswelt, Leiblichkeit und ResonanzDörflerThomasthomas.doerfler@fu-berlin.deRothfußEberhardeberhard.rothfuss@uni-bayreuth.deInstitut für Geographische Geowissenschaften, Fachrichtung
Anthropogeographie, Malteserstrasse 74–100, 12249 Berlin,
GermanyGeographisches Institut, Universität Bayreuth,
Universitätstrasse 30, 95440 Bayreuth, GermanyThomas Dörfler (thomas.doerfler@fu-berlin.de)
and Eberhard Rothfuß (eberhard.rothfuss@uni-bayreuth.de)26February2018731951078June201717December201725January2018This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License. To view a copy of this licence, visit https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/This article is available from https://gh.copernicus.org/articles/73/95/2018/gh-73-95-2018.htmlThe full text article is available as a PDF file from https://gh.copernicus.org/articles/73/95/2018/gh-73-95-2018.pdf
This article aims to explore the potential of Alfred Schütz' sociological
phenomenology for spatial phenomena and its integration into human geography.
Although the influence and productivity of phenomenology in general could
contribute significantly to shed light on spatial phenomena of the
life-world, such as a progressive sense of place (Massey,
1993), transnationalities
(Pries, 2001),
socio-spatial atmospheres (Hasse, 2017), “home” and encounters (Seamon, 1979,
2014), enforced life(s) in refugee camps and others, it has never become a
major strand of contemporary (German speaking) human geography. According to
Hasse (2017) phenomenology has even remained almost absent in
geographical research. In contrast to this proposition, the analytically
endorsed and empirically examined theorems of phenomenology have recently
been challenged by “post-phenomenology” and “non-representational
theory”. These approaches raise – though both argumentatively and
empirically unproven – their voice against pretended limitations of
“classical” phenomenology in arguing with “imagined” limits of meaning
and understanding. Irrespective of these developments, we would like to refer
to the analytical and methodological stringency of approaches that arise from
the rich tradition of phenomenology and emphasize their still largely
untapped potential for human geography by suggesting a
“Leib”-based approach rooted in reconstructive methodologies to
analyse the various spatial phenomena of the life-world.
Einleitung
Der Beitrag möchte das Potential sozialwissenschaftlicher
Phänomenologie für raumbezogene Phänomene und Erklärungen und
deren mögliche Zugänge in der Humangeographie ausloten. Obgleich der
Einfluß und die Produktivität der Phänomenologie wesentlich dazu
beitragen könnte, Raumphänomene wie einen „progressive sense of
place“ (Massey, 1993), Transnationalitäten (Pries, 2001),
Heimaten, Herkünfte und Begegnungen (Seamon, 1979, 2014), das
aufgezwungene Leben in Flüchtlingslagern und vieles mehr zu untersuchen,
ist sie bis zum heutigen Tage nicht zu einem wesentlichen Strang in der
zeitgenössischen Humangeographie avanciert. Nach Jürgen Hasse (2017;
in diesem Themenheft) zu urteilen, ist sie sogar fast gänzlich
abwesend geblieben. Ihre analytisch vielfach bestätigten und
weiterentwickelten sowie empirisch bewährten Theoreme werden in
jüngerer Zeit von „Post-Phänomenologie“ (vgl. Ihde, 2009;
Lea, 2009; Spinney, 2015; Ash and Simpson, 2016; u.a.) und
„non-representational theory“ herausgefordert (vgl. Dewsbury,
2003, 2015; Lorimer, 2005; McCormack, 2006; Thrift, 2007, 2009; Anderson and
Harrison, 2010; u.a.). Diese erheben – meist sowohl argumentativ wie
empirisch ungeprüft – ihre Stimme gegen angebliche
Erkenntnislimitationen klassischer Phänomenologie und bringen dabei
imaginierte Grenzen von Sinn und Verstehen in Anschlag. Wir möchten im
Gegensatz dazu auf die analytische und methodologische Stringenz von
Ansätzen verweisen, die der phänomenologischen Bewegung entspringen,
sowie deren nach wie vor keineswegs ausgeschöpftes Potential für die
Humangeographie nutzen, indem wir einen Vorschlag für einen geistes- und
sozialwissenschaftlich fundierten, leiborientierten Zugang zu
Raumphänomenen unterbreiten möchten.
Der Artikel wird mit einem kursorischen Blick auf den Forschungsstand
phänomenologischer Ansätze in der Humangeographie beginnen und mit
Ausführungen zu sozialwissenschaftlich begründeten Limitationen
„post-phänomenologischer“ und
„nicht-repräsentationaler“ Zugänge fortfahren. Danach
erfolgt eine Rekonstruktion der Grundgedanken von Alfred Schütz'
Verstehender Soziologie (1993 [1932]) und seiner
„Theorie der Lebensformen“ (1981). Wir möchten argumentieren,
daß die Schützsche Phänomenologie als eine Protosoziologie des
Raumes Möglichkeiten bereitstellt, die alltäglichen
Erfahrungsdimensionen der Lebenswelt, die an Orte, Intersubjektivität(en)
und (soziale) Atmosphären gebunden sind, methodologisch zu erfassen und
sinnadäquat zu rekonstruieren. Darin sehen wir eine tragfähige
Konzeptionierung, die dem zeitgenössischen Vorrang des Zeichens bzw. der
Kommunikation bei der Konstitution des Sozialen entgeht und diesem eine
leiborientierte, sinnlich-körperliche Perspektive auch bei der
Grand Theory soziologischer wie geographischer Theoriebildung
gegenüberstellen kann. Als finalen Exkurs des Beitrages möchten wir
das neue leibphänomenologisch begründete Werk von Hartmut Rosa
„Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ (2016) aufscheinen
lassen. In dieser kritischen Gesellschaftstheorie erkennen wir das Potential
im hier dargelegten Sinne, einen leiblich-lebensweltlichen Raumbezug zu
spätkapitalistischen Lebensformen unter Globalisierungs-,
Beschleunigungs- und Digitalisierungsbedingungen herzustellen.
Phänomenologische Geographie und Limitationen „post-phänomenologischer“ und „nicht-repräsentationaler
Geographien“
Jürgen Hasse (2017) attestierte der deutschen Humangeographie
unlängst eine andauernde „Abwesenheit der
Phänomenologie“. Dies ist erstaunlich, waren doch die wegweisenden
Arbeiten etwa von Buttimer (1976), Relph (1976), Buttimer and Seamon (1980), oder Pickles (1985)
angetreten, eine humanistische Geographie zu begründen, die sich als
phänomenologisch fundierte, antipositivistisch ausgerichtete und mit
einer Konzentration auf lebensweltliche Probleme und Sinnfragen befassende
Humangeographie verstand. Ihr Einfluss im deutschsprachigen Raum blieb eher
gering und bis heute stehen deshalb die Studien von Jürgen
Hasse (2012a, b, 2014, 2017, u.v.a.) zur (Neuen) Phänomenologie der
Räumlichkeit von (urbanen) Atmosphären, Gefühlen und Leiblichkeit
solitär in der geographischen Forschungs- und Publikationslandschaft. In
jüngerer Zeit wurden jedoch von Dörfler and Manns (2013),
Rothfuß (2013), Dörfler (2015), Zahnen (2015), Gammerl und
Herrn (2015), Runkel (2016), Dörfler und Rothfuß (2017) u.a. Versuche
unternommen, (leib-)phänomenologische Perspektiven für die Geographie
zu entfalten. Diese Arbeiten stellen damit – zumindest implizit – eine
Kritik von zeichen- bzw. diskursorientierten sowie
post-phänomenologischen Ansätzen dar, die sich in Form der
erwähnten „nicht-repräsentationalen Geographien“ formieren
und mit differenten und z.T. inkommensurablen epistemologischen Setzungen zu
hermeneutischen Verstehensakten aufwarten. Diese Widersprüche sollen im
Weiteren herausgearbeitet werden, um die Differenzen zwischen beiden
Paradigmen deutlich hervortreten zu lassen.
Der gegenwärtige – insbesondere in Großbritannien prominente –
Diskurs um „nicht-repräsentationale“ und
„mehr-als-repräsentationale Geographien“ kreist vornehmlich um
flüchtige und nichtbewußte Affekte, die klassische (kognitive)
Deutungs- und Verstehensprozesse unterlaufen sollen. Affekte werden als
„spontane“ und „natürliche“ Reaktionen auf
Erfahrungen der (sozialen) Welt angesehen (Lorimer, 2005; McCormack, 2006;
Thrift, 2007, 2009). Pile (2010:8) definiert Affekte “in opposition to
cognition, reflexivity, conscoiusness and humanness“. Affekte seien
demnach „not yet been closed down, represented, labelled, communicated,
shaped and structured. Affect is `virtual', untamed and inassimilable, always
in the process of becoming, and the leading edge of the wave of any
engagement with the world before human minds get to it“ (Wetherell, 2012:59,
zitiert in Schurr, 2014:151). Es wird damit behauptet, daß soziale
Kausalitäten auf Einflüsse nicht-reflexiver Art bezogen werden
können, die ihren Weg „direkt“ und „unsystematisiert“
in das soziale „Kosmion“ (Srubar, 1988) schaffen sollen; jede
Symbolisierung (Kommunikation, Benennung etc.) würde diesen
„natürlichen“ Zugang verzerren und verstellen, unter das Label
Sinn subsumieren, und damit verfehlen. Solche Affekte seien
darüber hinaus das Grundmoment jedweden sozialen Austausches vor der Symbolisierung, oder – im Jargon ausgedrückt – vor jeder
Repräsentation, und deswegen wert, gesondert betrachtet zu werden. Es
steckt darin eine (naive) Suche nach „ursprünglichen“
Einheiten/Dimensionen, die noch nicht durch das Soziale eingehegt seien.
Entgegen den in den Sozialwissenschaften gut begründeten Argumenten
sozialer, also gesellschaftlich „gemachter“ Tatsachen, auf
denen die soziale Welt aufgebaut ist, setzen diese Ansätze auf
vorsignifikative Prozesse direkter Einflüsse auf Individuen, die nicht
mehr adäquat dargestellt („repräsentiert“) werden
können. Jegliche Bedeutung bereits gedeuteter Sinnwelten und Diskurse,
die die Einordnung neuer Erfahrungen typisieren können (also auch von
Affekten und Emotionen), lehnen diese Ansätze als sinnzentrierend ab.
Affekte seien komplexer als eine Darstellung von ihnen, weswegen man sie nur
registrieren und mit neuen Methodologien ‚abtragen‘ oder beobachten
kann (beispielhaft Massumi, 2002; Ihde, 2009).
Bereits diese
dichotome Binarität, Affekte gegen Sozialität zu stellen, ist wenig
überzeugend an den genannten Ansätzen, sind doch Affekte wie Scham
oder Lächeln nichts anderes als soziale Reaktionen; zudem sind sie
geradewegs zentral für die conditio humana, weil sie an der
Schnittstelle Natur/Kultur angesiedelt sind (vgl. etwa
Plessner's Werk „Lachen und
Weinen“, 1970).
Hierzu werden auch neue „performative Methoden“ ins Feld
geführt, um damit die “(…) ‚know-and-tell‘ politics of
much sociological methodology” zu kritisieren (Dewsbury, 2010:321).
Allerdings bleibt unklar, wie dies dann tatsächlich methodisch (und mit
welchem empirischen Gegenstand) einzulösen gelingen soll, denn
alternativ-experimentelle Modi von „Thinking“,
„Sensing“ und „Presenting“ (ebd.) werden nicht
methodologisch ausgebreitet, sondern nur konzeptionell als Möglichkeit
dargelegt. Diese – wie wir meinen – paradigmatische, aber
widersprüchliche Kritik an der Phänomenologie kann somit keine ihrer
Einwände substantiell stützen, geschweige denn alternative,
methodologisch ausgewiesene Wege zum sozialwissenschaftlichen Erkennen
anbieten.
Mit dieser einschlägigen Positionierung handelt man sich aus unserer
Sicht mehrere argumentative wie inhaltliche Schwierigkeiten ein, die wir im
Weiteren aufzeigen wollen, und von denen wir nicht glauben, daß sie sich
in jenem Paradigma widerspruchsfrei lösen lassen. Vielmehr scheint es
angebracht, gerade auf die hermeneutischen und leiblichen Grundlagen jedweden
reflexiven Verstehens von (räumlichen) Erfahrungen zu verweisen, ohne die
im Weiteren eine kulturelle Ausdeutung derselben nicht stattfinden kann. Ohne
Kommunikation kann es keine dauerhafte Aneignung von Tatsachen geben, und
diese wiederum ist generalisierter Sinn in nuce. Diese Setzung
erkennt zwar auch Pile (2010:9), ein wichtiger Protagonist „affektiver
Geographien“, wenn er formuliert: „(…) its archetypal object
of study – affect – cannot, by its own account, be shown or
understood“. Er bietet jedoch keinen methodologischen Ausweg aus dem
von ihm erkannten Dilemma an. Auch Bondi et al. (2005:11) schreiben in
ähnlich ratlosem Duktus: „How can we represent that which lies
beyond the scope of representation?“
Man muß argumentativ also nicht weit ausholen, um sich klar zu machen,
daß auf keine andere Weise soziale Ordnung möglich ist, denn diese
beruht, gleichwo auf diesem Planeten, unter der Spezies homo auf
sprachlicher und leiblicher Interaktion. Dies gilt selbstverständlich
auch für die wissenschaftliche Kommunikation, um akademische Erkenntnisse
überhaupt intersubjektiv vermitteln zu können – und um überhaupt
einen Gegenstand der Wissenschaft zu haben. Hier mutet es – vorsichtig
formuliert – paradox an, wenn über ‚avantgardistische‘ Formen
der Wissensgenerierung in der “more-than-representational-theory”
nachgedacht wird (z.B. Schurr and Strüver,
2016:94).
„Doch
wie können wir all diese unterschiedlichen (nicht)-repräsentationalen
Praktiken empirisch einfangen und methodisch erfassen? Wie können
wir Bewegungen, Körper, Artefakte und Affekte untersuchen und wie
können wir die Forschungsergebnisse ‚re-präsentieren‘? Denn
wenn wir Ereignisse jenseits von Repräsentation und Bewusstsein
untersuchen wollen, kommen wir mit Sprache nicht weiter“ (Schurr and
Strüver, 2016:94). Kritisch darauf darf erwidert werden: Mit was dann? Denn bereits dieser Befund ist sprachlich ausgedrückt, und so wird
es sich auch mit etwaigen Erkenntnissen ergeben, die aus solch einer
Perspektive generiert werden.
Bedeutung und auch nachträglich konstruierter Sinn von Erfahrungen
müssen ex post und als Reflektion im Rahmen des subjektiv und
wissenschaftlich Möglichen konstruiert werden, anders ist keine
Perspektive auf soziale Tatsachen möglich. Die ‚Kunst‘ der
Sozialwissenschaften liegt darin, diese Bedeutungsstrukturen so genau wie
möglich und methodologisch abgesichert aufzudecken. Dies nennen wir in
Anlehnung an Dreyfus and Taylor (2016) [2015] die notwendige
„Wiedergewinnung des Realismus“ für weite Teile der
sozialwissenschaftlichen Debatte, insbesondere auch der um den Raum (vgl.
auch Korf, 2012).
Kann es eine Erfahrung zwischen Latenz und Unbewußtem geben?
Wenn man sich auf das Gedankenspiel einläßt, Erfahrung jenseits des
Bewußtseins zu machen, die es zweifellos gibt, so wäre zunächst
festzuhalten, daß allein die Idee „subbewußten“
Erfahrens, das laut solcher Konzeptionen seinen Eingang in die soziale Welt
finden soll, weder neu noch unthematisiert ist. Das Unbewußte
bei Freud, Bourdieus Habitus, Doxa und Hexis oder
die latenten Sinnstrukturen der Oevermann-Schule sind solche
Konzepte nicht bewußter Regelhaftigkeit, die sozial relevant werden. Dies
tun sie aber gerade dadurch, daß sie in einer sozialen Instanz (dem
Subjekt als „Produkt“ dieser Umstände) wirkmächtig
werden. Als „soziale Tatsache“ (Durkheim, 1988
[1895])
„Toute manière de faire, fixée ou non,
susceptible d'exercer sur l'individu une contrainte extérieure“
(Durkheim, 1988 [1895]:107).
schlagen sie sich u.a. im Leibhandeln nieder
und können mehr oder weniger adäquat reflexiv eingeholt werden. Diese
Typisierungen sind Grundlage jedweder Alltagskommunikation, wie auch – und
das ist an diesem Punkt offen zur Schau gestellter methodologischer
Hilflosigkeit der „Post-Hermeneutik“ entscheidend – jeder
wissenschaftlichen Reflexion über die soziale Welt.
In den hier kritisierten Ansätzen ist es jedoch völlig ungeklärt,
wie sich das Verhältnis Erfahrung – Wissen – Deutung
ausgestaltet, das die Grundlage jedweden subjektiven und objektiven
Verstehens sozialer wie materieller Tatsachen darstellt. Ohne solches gibt es
aber keine sozial relevante Kommunikation. Denn ob eine Erfahrung vor-,
unter- oder unbewußt angelegt ist (um nur die gängigsten Konzepte zu
nennen), macht einen entscheidenden Unterschied, ob und wie man diese
beobachten, deuten und reflektieren kann, z.B. in wissenschaftlichen Artikeln
über „nicht-repräsentationale Geographien“. Von der
Möglichkeit, Zugang zu solchen „subbewußten“, neuronalen
oder ähnlich gearteten vorreflexiven Zuständen zu bekommen, hängt
es also ab, ob diese überhaupt wissenschaftlich bearbeitet werden
können: welche Instanz gibt darüber Auskunft? Was ist die Stellung
dieses „Beobachters“ oder „Registrateurs“ im
gesellschaftlichen Gefüge? Kann man diese vorsignifikativen Erfahrungen
objektiv erkennen und richtig deuten? Wenn ja, wie und warum? Warum sollte
stimmen, was die „nicht-repräsentationale“ Geographie sagt?
Dieser vorsignifikative „Zustand“, der die Hermeneutik des
Sozialen ersetzen können soll, könnte dabei auf mehreren Wegen
thematisiert werden, die jedoch alle von der
„nicht-repräsentationalen“ Geographie ausgeschlagen werden:
Als ein völlig von bewußter Erfahrung abgekoppelter, physiologisch
selbständiger Bereich, weil er vielleicht auf biochemischen
Synapsenreaktionen beruht (dafür sprechen die meisten Indizien in jenen
Arbeiten). Dann beschreibt dies etwas, was für die Sozialwissenschaften
gänzlich unbrauchbar und von ihnen auch nicht sinnvoll zu thematisieren
ist: wovon kein mentaler Prozess sich synthetische Urteile bilden kann, das
kann keine soziale Tatsache werden, weil darüber nicht symbolisch
generalisiert, also reflektiert kommuniziert werden kann. Mehr noch: solche
‚subbewußten‘ Zustände wären auch für Subjekte der
Lebenswelt (also für jede/n von uns) völlig unbrauchbare
Daten (denn Erkenntnisse können es nicht sein, da diese auf
Verstehen beruhen), da sie – weil für immer nichtbewußt – in keine
Kommunikationsform eingebunden werden könnten.
Gäbe es die Möglichkeit, daß jenes „Synapsenwissen“ (Ihde, 2009; Massumi, 1996, 2002) vor- bzw.
unterbewußt angelegt ist, wofür allerdings wenig spricht. Denn dann
wäre es gleichermaßen paradox, da es zur Konzeption unterbewußter
Phänomene gehört, daß sie – im Gegensatz zum Unbewußten –
lediglich „verschütt“ gegangen sind, also in guten Momenten
jederzeit reflektiert und bewußt gemacht werden können. Dies wiederum
würde konzeptionell ein Subjekt benötigen, das darüber
reflektieren kann.
Als letzte Möglichkeit verbliebe noch, jenes
nicht-repräsentationale Erfahrungswissen als unbewußtes Wissen zu
konzipieren. Damit wäre man eindeutig in der Traditionslinie Freuds
angesiedelt, was angesichts vieler anderer Aspekte der Psychoanalyse
(Latenzen, Wiederholung und Verschiebung, Verdrängung) kaum ein
Anknüpfungspunkt für nicht-repräsentationale-Ansätze sein
kann. Denn auch Freud und der Psychoanalyse geht es, sonst ist jedwede
Therapie sinnlos, darum, dem Subjekt einen reflexiven Zugriff auf sein
(verdrängtes) Wissen zu gewährleisten.
Dies gilt sogar noch
für die radikale Weiterentwicklung seiner Gedanken in der Lacanschen
Lehre, die die phantasmagorische Anerkennung des Sinthomes als
unmögliche Möglichkeit zum Konstitutivum einer gelungenen
Subjektivierung macht (Lacan, 2005).
Damit soll deutlich werden, daß es auch und gerade angesichts
gegenwärtiger gesellschaftlicher Krisensymptome (Nachtwey, 2016; Streeck,
2015) mehr denn je notwendig erscheint, die in den Moden der
wissenschaftlichen Aufmerksamkeit verdrängte Relevanz des Subjektiven
für das Verständnis aktueller sozialer Phänomene (vgl.
Kapitel sieben) wieder herauszustreichen. Da dies insbesondere im Hinblick
auf „posthumane“, „mehr-als-humane“ oder
„post-phänomenologische“ Zugänge gilt, die sich meist
unkritisch von technischen Innovationen inspirieren lassen (Digitalität,
Neurowissenschaft, Reproduktionsmedizin u.a.)
„Wo das
rationale Subjekt seine eigenen leiblichen Empfindungen, seine sinnlichen
Wahrnehmungen und sein fühlendes Werterleben der Geltung beraubt,
indem es all dies zu Epiphänomenen neuronaler Schaltkreisfunktionen
(…) erklärt, droht eine schleichende Entleerung der Welt von allem,
was dieses Subjekt noch sinnlich ansprechen, gefühlshaft ergreifen und
persönlich betreffen kann“ (Fuchs, 2000:18).
, möchten wir uns
auf raum- bzw. ortsbezogene Wirklichkeiten als
Wirksamkeiten des Sozialen, wie etwa Obdachlosigkeit, regionale
Identitäten oder Migrationserfahrungen beziehen, um daran die Relevanz
von Orts- und Raumerfahrungen für die subjektive Ausdeutung sozialer
Praxis zu verdeutlichen.
Dabei muß an dieser Stelle die –
gewichtige – Differenzierung zwischen Ort und Raum, place und
space, unerörtert bleiben, um die Argumentation nicht weiter
ausufern zu lassen. Es wäre ein logischer Folgeschritt, die hier
gemachten Überlegungen in Anknüpfung an diese etablierten
Differenzierungen raumkonzeptionellen Denkens zu bringen.
Vor diesem Hintergrund scheinen deshalb angekündigte Neuerungen einer
„Post-Hermeneutik“ nicht in der Lage zu sein, konkrete
Erfahrungsdimensionen der Lebenswelt wie Orte, andere Menschen,
Intersubjektivitäten oder Atmosphären überhaupt erfassen und
adäquat rekonstruieren zu können. Genau darin liegt aber eine der
Chancen, eine Wiederaneignung gesellschaftlicher Teilhabe in Zeiten sozialer
und ökologischer Krisis zu verstehen und wissenschaftlich reflektieren zu
können.
Bspw. neue Formen der Selbstorganisation, die
fundamental bisherige der Partizipation überschreiten
können, vgl. Atkinson et al. (2017) sowie das Projekt SELFCITY
(http://www.selfcity-project.com), aus welchem dieser Beitrag
resultierte.
Schwer wiegt überdies auch, daß diese Art der Kritik nicht nur
konzeptionell widersprüchlich operiert, sondern sie auch eine sinnvolle
Auslegung eines für sinnfrei erklärten Phänomens anstrebt, also
in der Zurückweisung von Sinn und Verstehen Verständnisleistungen des
Gedeuteten in Anschlag bringt, die sie selber zurückweist, was vorsichtig
ausgedrückt widersprüchlich erscheint. „Wird jedoch die
Sinnhaftigkeit des menschlichen Weltzugangs ausschließlich an die
Semiosis gebunden, wie es uns die post-hermeneutische Kritik nahelegt, so
steht dieser Ansatz vor dem paradoxen Versuch, die sinnvolle Auslegung eines
für sinnfrei erklärten Phänomens zu verfolgen. Diese Paradoxie
ist nicht unbekannt“ (Srubar, 2012:207). Sie kennzeichnet seit Husserl
jedweden Ansatz, der sich um Verstehensleistungen der sozialen Welt
bemüht, und der die Schwierigkeit bearbeitet, als Individuum (Forscher,
mundänes Alltagssubjekt) das Objektive (generalisierte Allgemeine) zu
erkennen. Im Gegensatz zu den hier kritisierten
„post-hermeneutischen“ und
„nicht-repräsentationalen“ Ansätzen bietet die aus der
Phänomenologie entstammende sozialwissenschaftliche Hermeneutik
allerdings ausreichend Erkenntnisse und vor allem Methodologien an, wie
dieses Verhältnis objektiv und damit wissenschaftlich erforscht
ausgewiesen werden kann – ein Zug, den jene Ansätze vermissen
lassen.
Vgl. etwa grundlegend, wenngleich ob der Fülle an
fundierten Beiträgen kursorisch aufgelistet: Eberle (1984),
Soeffner (2004), Hitzler (2015), Oevermann (2000) u.v.a.
Jenseits von Konstruktion und Dekonstruktion des Raumes: Die soziale
Rekonstruktion räumlicher Bedeutung und Erfahrung
Um unsere Position deutlicher zu machen, ist es nötig, die Potentiale und
Stärken sozialer Rekonstruktion gegenüber einem (radikalen)
Konstruktivismus oder der Dekonstruktion herauszustreichen (vgl. Dörfler und Rothfuß, 2013). Soziale
Rekonstruktionen haben etwa gegenüber anderen Zugängen nicht den
Nachteil, proklamierte Thesen vom „anti-essentiellen“ oder
„nicht-repräsentativen“ Charakter des Performativen empirisch
nicht überprüfen und verallgemeinern zu können. Da sie von den
Grundannahmen der Orientierung kompetenter sozialer Akteure an den Relevanzen
der Lebenswelt ausgehen, orientieren sie sich an „Mitteilungen“
(symbolisch generalisierte Deutungen) von Praktiken anhand der sprachlichen
oder leiblichen Repräsentation der Akteure/Subjekte.
Dies sind Relevanzfestlegungen kompetenter Sprecher, die diese selber
tätigen und in einem generalisierten Medium ausdrücken. Sie
können deswegen auch unabhängig von Dritten mit geeigneten
Methodologien erkannt werden, weil dies erstens im Alltag bereits von
Menschen ständig vollzogen wird – wenn auch nicht in theoretischer,
sondern in pragmatischer Einstellung – und zweitens dies bereits in
generalisierter, also sozial objektivierter Form vor sich geht. Diese
Relevanzfestlegungen vollziehen sich nach gesellschaftlich rekonstruierbaren
Regeln, existieren also als objektive, jenseits von konkreten Akteuren
geteilte Strukturen, gleichwie subjektiv der Einzelne dazu stehen mag und wie
immer man diese „Vorstrukturiertheit“ anlegt. Bourdieu (1979)
etwa hat diese Doppelwertigkeit am Konzept des Habitus herausgearbeitet, der
nicht ermöglichend und gleichzeitig als sozial erworbener
Standort begrenzend wirkt, sondern ermöglicht,
indem er begrenzt. Dadurch werden Standorte und typische
Ausdeutungen der Lebenswelt erkennbar, weil genau dies die (in diesem Fall
unbewußten, klassenlogischen) Relevanzfestlegungen der Akteure zum
Ausdruck bringt – sie bleiben dessen ungeachtet aber Akteure, also
intentional Handelnde.
Unsere Zugangsweise zu räumlichen Aspekten der Lebenswelt orientiert sich
an ähnlichen Überlegungen, um der weit verbreiteten Dichotomie von
Raum als entweder begrenzende oder ermöglichende Struktur zu
entgehen, da er weder Materie/Essenz ist, noch bloße Hintergrundfolie
für Handlungen: der subjektive Raumbezug ermöglicht, indem er
begrenzt (durch die materiellen Relevanzfestlegungen der
Subjekte).
Vgl. zu dieser Argumentation und Positionierung
ausführlicher Dörfler (2015).
Die räumlichen Aspekte der
Lebenswelt sind ebenso wie alle anderen Aspekte in der Perspektive der
Rekonstruktion als alltagsweltlich notwendige Konstruktionen der Subjekte zu
erforschen, also als Sinnstrukturen, die bereits erfahren, ausgedeutet und
„sinnhaft“ für die Akteure sind (Schütz, 1993). Aber die
Raumerfahrung – und das ist entscheidend – setzt für die
Subjekte bereits vor dieser reflexiven Ebene ein, und zwar auf der
Ebene leiblichen Erlebens. Die sozialen Konstruktionen zum Raum
ruhen in alltagspragmatischer Hinsicht auf den je subjektiven Erlebnissen
asemiotischer Sinnbildung auf. Dies wiederum benötigt
Subjektivität auf zwei Ebenen, um sozial wirkmächtig zu werden:
erstens um Raum überhaupt zu erfahren, darüber zu reflektieren und
sich generalisiert mitzuteilen, und zweitens auch bei der Beobachtung und
gegebenenfalls der konzeptionell-wissenschaftlichen Modellbildung, die z.B.
frames (Goffman, 1977) oder sinnadäquate Rekonstruktionen nach
Schütz (1971) zu Raumerfahrungen herausarbeiten.
Es benötigt also – und das ist paradoxerweise auch bei Auskünften zu
post-hermeneutischen Erfahrungen der Fall – leiblich erfahrende Subjekte, die diese Wirkungen von Raum qua Bedeutungsstrukturen mitteilen,
denn anders lassen sich diese nicht generalisieren und verstehen. Verstehen
heißt dabei „einer Erfahrung Sinn verleih[en]“,
Fremdverstehen „einer Erfahrung den Sinn verleihen, daß sie sich
auf ein Ereignis in der Welt bezieht, dem Alter Ego bereits einen Sinn
verliehen hat“ (Soeffner, 2010:165). Da dieses Geschäft mühsam
ist und methodologisch gut abgesichert werden muß, verweisen einige
Vertreterinnen und Vertreter post-phänomenologischer Ansätze auf
„Erfahrungen“ jenseits der Signifikation,
Affektiv,
vorreflexiv, synapseninduziert, spontane „encounter“ u.a., etwa
Ihde (2009), Massumi (2002), McCormack (2003, 2006), Dirksmeier and
Helbrecht (2015) u.a.
welche durch diesen Kunstgriff quasi
„interpretationsfrei“ und damit „neutral“ beobachtbar
seien. Dieser Bezug, auf ein Quasi-Reiz-Reaktionsschema
“The
skin”, so ein Mantra von Massumi (1996), sei “faster than the word”. Dem mag
man physiologisch zustimmen, es stellt sich lediglich die Frage: Für was
hat das eine Bedeutung? Sicher nicht für die Erfassung sozialer
Wirklichkeiten.
statt auf symbolisch generalisiertes Verstehen zu
rekurrieren (was im Übrigen selber einen Verstehensprozeß darstellt),
solle nach deren Vertretern außerdem gewährleisten, daß man die
Vielheit solcher möglichen „Erfahrungen“ nicht einengt und
unter einer Ausdeutung „hegemonial“ typisiert.
Der argumentative Fehlschluß, in welchem man sich damit begibt, ist nun
offenbar geworden. Hermeneutisch angelegte Methoden zeigen seit
langem,
Vgl. abermals Eberle (1984), Soeffner (2004),
Hitzler (2015), Oevermann (2000), u.a. für die Soziologie;
Birkenhauer (1987), Pohl (1986), Zahnen (2007), Rothfuß (2009),
Verne (2012), u.a. für die Humangeographie.
daß dies kaum den
alltagsweltlichen Erfahrungen der Untersuchten entsprechen kann, sondern
vielmehr den Phantasien spätmoderner Wissenschaftssubjektivierungen
entspringt, und damit den Realien der Sozialen Welt „hegemonial“
übergestülpt wird. Für Alltagssubjekte gibt es dagegen meist eine
herausragende Bedeutung, einen relevanten frame der Lebenswelt, eben
eine Narration unter der man seine Biographie organisiert. Diese mag
vielfältige, bisweilen widersprüchliche Aspekte aufweisen, die
Identität des Subjekts läßt sich aber nur organisieren (und sie
muß organisiert werden), wenn man sie in einen subjektiv-kohärenten
Zusammenhang bringt, was man im Grunde an sich selbst überprüfen und
auch wissenschaftlich nachzeichnen kann, wie es etwa die Biographieforschung
unternimmt. Ob Oevermann, Schütz, Soeffner oder die Ethnomethodologie: im
Grunde zeigen alle Arbeiten, die sich mit solchen selbst geschaffenen
Strukturen der Lebenswelt befassen, daß wir nicht „viele“
sind (eine Phantasie der Postmoderne, gespeist aus Rimbauds Poesie), sondern
ein konkreter Akteur, der auf Basis selbstgeschaffener, aber unter
Bedingungen entwickelter Fähigkeiten handlungsmächtig ist – also
weder ohn- noch allmächtig, wie manche Kritiken am Subjektbegriff
behaupten. Diese Perspektive ist zudem nicht „von außen“
oktroyiert, sondern am empirischen Material methodologisch-rekonstruktiv
gewonnen, da sie sich bereits durch die Akteure selbst vollzieht bzw.
vollzogen hat.
Vorurteile gegen eine solche Vorstellung speisen sich meist aus
Erfahrungsdefiziten konkreter empirischer Arbeit, die sich eben nicht nur aus
(eigenen) Erhebungen und Beobachtungen ergibt, sondern auch aus konzisen
Auswertungen und mühseliger „Begriffsarbeit“, die soziale
Wirklichkeit der untersuchten Lebenswelt sinnadäquat zu interpretieren
und zu beschreiben. Wir bemühen deshalb an dieser Stelle die analytische
Stringenz der Hermeneutik bei ihren Versuchen, Bedeutungs- und
Relevanzstrukturen der sozialen Welt aufzudecken, die vor allem
wissenschaftlichen Zugriff existieren und bedeutungsvoll für die Akteure
sind. Sie kommen also gut ohne wissenschaftliche Ausdeutung aus. Wenn sie
aber erfolgt, so hat deren Rekonstruktion adäquat zu erfolgen, also
herausgearbeitet nach bestem Wissen, anhand gesättigter Daten sowie
methodologisch kontrolliert, um subjektiv zutreffend zu sein und
intersubjektiv nachvollzogen werden zu können. Darum kann dieser Zugang
als objektiv oder objektivierend im Sinne qualitativer Sozialforschung gelten
und dies auch tatsächlich für sich beanspruchen.
Leibliches Erfahren des Raumes
Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß die Perspektive
sozialwissenschaftlicher Phänomenologie im Gegensatz zu trans-, nicht-,
oder mehr-als-humanen „Erfahrungen“, welche im analytischen Sinne
überhaupt nicht existieren, anti-spekulativ und
adäquat im Sinne der Rekonstruktion der Wirklichkeit sozialer
Realität der untersuchten Subjekte ist (vgl. Schütz, 1971:3–54).
Insbesondere gilt dies für die Analyse raumbezogener Alltagserfahrungen
(wie sie bereits Tuan, 1977 und Seamon, 1979 beschrieben haben; unlängst
Sullivan, 2017), die mit affektbezogenen Ansätzen als Konsequenz ihrer
Positionierung überhaupt nicht eingefangen werden können. Die
„Affektforschung“ stützt sich auf eine abstrakte oder
technische Konzeption von „Körper“, verstanden als
„Hülle“ oder „Gefäß“, die lediglich als
Reaktion auf Einflüsse von außen (z. B. visuell, sensorisch etc.)
konzipiert wird (vgl. etwa Strüver, 2011:5; auch Reckwitz, 2006:515).
„Körper“ wird in diesem Paradigma nicht als somatische
Einheit begriffen, die fähig ist, über eine körperliche
Phänomenologie leiblich wahrzunehmen
Wir verstehen den
Leib in Anlehnung an Merleau-Ponty (1974) und Waldenfels (1999:21, 41ff.) als
grundlegendes Sinnes- und Erfahrungsmedium sowie Orientierungszentrum, der
Medium der Wahrnehmung und Wahrgenommenes zugleich ist.
. Da aber gilt,
“[a]wareness of the body is not a thought” (Buttimer, 1976:283), ist es
demnach entscheidend zu begreifen, wie wir nicht nur Ego und
Alter Ego, sondern auch Orte und Räume als leibliche Praxis
erfahren, und man damit weit über die Vorstellung des Körpers als
eines kognitiven, visuellen und virtuellen „Interfaces“
hinausgeht, das etwa „encounter“ über Affekte registriert
(vgl. Dirksmeier and Helbrecht, 2013, 2015). Dies bedingt den
phänomenologischen Zugang mittels eines lebendigen, somatischen
Körperkonzepts und impliziert wiederum einen subjektlogischen Ansatz und
nicht seine Ablehnung, weil nur der Leib ein subjektives Wissen
(Erfahrung) der objektiven räumlichen und sozialen Welt (des Alltags)
ermöglicht (Seamon, 1979; Schütz, 1993 [1932]; Malpas, 1999, 2012;
Dörfler and Rothfuß, 2017; Sullivan,
2017:133ff.).
„Von den diversen phänomenologischen
Ansätzen […] können drei besonders einschlägige Betrachtungsweisen
herausgehoben werden, die […] von der Empathie als eigentümlichem
Modus der Intentionalität, […] von der Leiblichkeit sowie [die des]
ursprünglichen Weltbezug des Subjekts, der am Paradigma der
Objektwahrnehmung expliziert wird“ (Breyer, 2012:3).
Neben vielen grundsätzlichen Einsichten in die pragmatische Relevanz
alltagsweltlicher Handlungs- und Orientierungsweisen ist es vor allem ein
Aspekt, der unserer Ansicht nach eine fundamentale Erkenntnisleistung der
Phänomenologie und der – wenn auch anders abgeleitet – Philosophischen
Anthropologie darstellt, nämlich die Realisierung, daß Raum und Ort
konstitutiv und existentiell für jedwedes Subjekt ist, „insofern
sein Welt- und Selbstbezug durch einen psychophysischen Leibkörper
realisiert ist“ (Breyer, 2012:3) (vgl. auch Großheim et al., 2015), und dies sowohl in phylo- als auch in
ontogenetischer Hinsicht (vgl. Plessner, 1970; Dux, 1994:177ff.). Ein Raum-
und Ortsbezug gehört demnach zur conditio humana des Subjekts,
als Ergebnis dialektischer Weltauseinandersetzung und Weltaneignung, als der
„im Erleben und Handeln erschlossene Raum“ (Kruse and
Graumann, 1978:177, Herv. i. O.): „Endlich ist mein Leib für mich so
wenig nur ein Fragment des Raumes, daß überhaupt kein Raum für
mich wäre, hätte ich keinen Leib“ (Merleau-Ponty, 1974:127).
Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass es notwendig ist, im Auge
zu behalten, daß die Organisation des Subjektleibes die einzige Basis
für Signifikation und Typisierung von (räumlichen) Erfahrungen sein
kann. Zu diesem Leib gehören selbstverständlich auch das Gehirn und
seine kognitiven Prozesse. Aber dieser Leib und sein Erfahrungspotential
gehen nicht in diesen auf, und es sind gerade die räumlichen Aspekte der
Lebenswelt (Nähe, Ferne, Ko-Präsenz, Atmosphären, etc.), die u.a.
auf vorkognitiven Erlebnissen aufbauen, auf leiblichem Erkennen. Um
diesen bislang verdrängten Aspekt einer kognitivistisch dominierten
Denktradition seit Descartes
Vgl. Dreyfus and Taylor, 2016 [2015].
ist eine jüngere Diskussion entstanden (vgl. etwa Eberlein, 2016:9f.;
Stadelbacher, 2016; Abraham and Müller, 2010; Böhle and Weihrich,
2010; Shilling, 2007; Gugutzer, 2006; Lindemann, 2017; Gugutzer, 2017).
Lindemann (2005:115) hat den Sozialwissenschaften gar eine
„quasimentalistische Bornierung“ attestiert, insofern es
mittlerweile schwierig geworden ist, sich vorzustellen, dass Subjekte etwa
auch leiblich kommunizieren können oder gebaute Umwelt und Architektur
leiblich und nicht vorrangig signifikativ oder diskursiv wirken. Hingegen
kann ein hermeneutisches Vorgehen, verstanden als Methode, diese Erfahrungen
und die subjektive Reflexion darauf einzufangen, aufzeigen, daß es kein
Wissen von der Welt geben kann jenseits des Wechselspiels von Leib und
Sprache.
Hier muß angemerkt werden, daß eine –
disziplinhistorisch zu verstehende – Kombination aus der pragmatischen bzw.
verstehenden Soziologie (in der Husserl-Schütz-Linie) und der
Leibphänomenologie (in der Schmitz-Tradition) bislang unterblieb bzw. mit
Untiefen verbunden ist, die für das hier aufgemachte Argument aber
eigentlich notwendig zumindest anzudeuten ist. Auch dies ließ sich im
Rahmen dieses Textes nicht bewerkstelligen und es muß auf zukünftige
Weiterführungen der Überlegungen verwiesen werden.
Unser zentrales Argument liegt darin begründet, dass durch die so
verstandene leibliche Organisation eines jeden Menschen Orte und Räume
grundkonstitutiv für dessen Subjektivierung sind. Der Subjektleib ist
dabei also keine „abgesonderte Provinz, sondern der universale
Resonanzboden, wo alles Betroffensein des Menschen seinen Sitz hat und in die
Initiative eigenen Verhaltens umgeformt wird; nur im Verhältnis zu seiner
Leiblichkeit bestimmt sich der Mensch als Person“
(Schmitz, 1990:116; zitiert in Adermann, 2012:141). Es ist
unsere exklusive leibliche Konstitution, die uns diesen Blick auf
räumliche Aspekte des Lebens erlaubt. Insofern ist Raum nicht
„einfach da“, er ist weder metaphysisch, noch eine
„Essenz“, aber Teil der physischen Welt, die notwendigerweise
unseren Leib beeinflusst, ob wir es mögen oder nicht. Es ist dieser
Umstand, der uns dazu nötigt, mit der physischen Widerständigkeit der
räumlichen wie sozialen Welt zu verfahren, und unsere eigene kulturelle
Welt zu kreieren (vgl. Piaget, 1954; Piaget and Inhelder, 1967). Orte, als
Signifikation und Herstellung von Raum als sinngebende Umwelt, resultieren
also aus einer aktiven und notwendigen leiblichen Subjektivierung mit dieser
Welt. Die soziale Welt ist gemacht, gewiß, aber in phylogenetischer wie
auch ontogenetischer Hinsicht nur unter vorgefundenen Bedingungen; eine davon
ist das Räumliche mit seiner eigenen Materialität, der Leib sein
Erfahrungsmedium.
Auf dem Weg zu einer pragmatischen, raumbezogenen Sozialtheorie: Die
Relevanz von Schütz' Lebenswelt-Konzept
Wie wird nun der „soziale Raum“ bei Alfred Schütz
konzeptionalisiert? Dieser wird wie andere Aspekte der Lebenswelt, etwa die
Zeit oder die Intersubjektivität als „Typisierung“ von
Erfahrungen des Subjekts angeeignet (Schütz and Luckmann, 1979). Insofern
ist das Subjekt und sein Leib Zentrum allen lebens- und alltagsweltlichen
Erlebens, die vom Raum ausgehen (vgl. auch Srubar, 2012; Sullivan, 2017
Sullivan (2017:133)
hierzu: “There is no position from which to view the everyday except via the
body.”
). Als „Lebenswelt des Alltags“ bezeichnet Schütz dabei
den Bereich der Wirklichkeit, in dem wir hellwach sind, pragmatisch handeln
und in der Außenwelt Veränderungen bewirken. Dabei wird
„Räumliches“ wie eine dimensionale, typisierte Hülle
gesehen, die das Subjekt um sich herum webt, mit Graden der Kenntnis,
sozusagen als „räumliche Ringe“, die den Handelnden in seiner
leiblichen Situiertheit umspannen. Innerhalb der Welt der aktuellen und
potentiellen Reichweite gibt es für Schütz and Luckmann (1979:72)
eine Zone, auf die ich durch direktes Handeln einwirken kann, die
„Wirkzone“ oder „manipulative Zone“, wie sie Georg
Herbert Mead beschrieben hat. Die manipulative Zone umfasst Objekte, die
sowohl gesehen als auch betastet werden konnen. Nur die Erfahrung physischer
Gegenstände in der manipulativen Zone gestattet uns den „Grundtest
aller Realität“, die Erfahrung des Widerstands zu machen (Schütz
and Luckmann, 1979:63ff.).
Ausgehend von phänomenologischen Grundeinsichten, die mit Husserls
‚phänomenologischer Revolution‘ wirkmächtig wurden, geht
Schütz vom leiblich gebundenen Subjekt aus, das sich als in der
Lebenswelt erfahrend intentional orientieren muss. Seine primordiale
Erfahrungswelt ist das erfahrende Ich, das sich als leiblichen
Mittelpunkt seiner Welt um es herum erfährt. Durch
Du-Erfahrungen in der durée ‚sozialisiert‘ es
sich, wie es Husserl in seiner Krisis-Schrift auf den Punkt brachte:
„die erkennende Subjektivität [ist die; d. Verf.] Urstätte
aller objektiven Sinnbildung und Seinsgeltung“ (Krisis, Husserliana
VI:52).
Obwohl sich deutlich von Descartes abgrenzend, schlägt
Husserl aber im Weiteren nicht den Weg ein, diese Subjektivität auch als
leiblich erkennende Subjektivität aufzulösen, die sich ebenso
objektivieren ließe, sondern als erkennendes Bewußtsein, das
zwar leibgebunden, aber eben davon unabhängig das ‚gesellschaftlich
Allgemeine‘ am Sinn von Erfahrungen und Typisierungen erfasst.
Insofern
ist es die Sprache, die „unter diesem Gesichtspunkt eine
Symbolisierung, die die Veräußerlichung mitträgt und es
so dem Bewußtsein ermöglicht, durch Apperzeption die Wirklichkeit
anderer zu erfassen. Dadurch aber verdeckt die Sprache zugleich die
qualitativen, in der durée erlebten Inhalte […]“ (Srubar,
1981:31; Herv. i. O.).
Raum bzw. Räumliches kann als Beispiel par excellence gelten,
wie dieser Prozeß vonstattengeht, denn kaum ein „räumlicher
Begriff“ vermag die Erfahrungsqualitäten des Raumes umfänglich
zu beschreiben; sie sind praktische Versuche, Kommunikation über – dem
Prinzip nach – singuläre Erfahrungswelten herzustellen, die aber als
Anlaß eine gemeinsam geteilte Welt haben (ein Berg bleibt derselbe, egal,
wer ihn besteigt). Deshalb ist bei Raumanalysen in lebensweltlicher Absicht
nach den „asemiotischen Prozessen der pragmatischen Sinnbildung“
(Srubar, 2012:98) zu suchen, um möglichst nahe an jene erlebten Inhalte
räumlicher Dimension zu gelangen. „Hier verbindet sich der
intentionale Handlungsbezug mit der materialen Präsenz der Dinge zu einem
habitualisierten Wirklichkeitsschema, so daß Merleau-Ponty (1966:370) wie
eine dimensionale, von einem Übergang von der Kommunikation zu einer
„Kommunion“ von Leib und Welt spricht, um das Asemiotische, nicht
Mittelbare dieses Prozesses zu betonen“ (Srubar, 2012:98).
Das methodologische Problem, das daraus erwächst, will man
sozialwissenschaftlich an dieses asemiotische „Leibwissen“
herankommen, besteht darin, daß diese im Sinne der Lebensphilosophie
direkt erlebten Inhalte der sozialen und materiellen Welt nicht
„verlustfrei“ in Sprache überführbar sind, da ein Hiatus
zwischen leiblichen und kognitiven Erlebnisinhalten sowie der Reflektion
darauf anhand der „Intellektualisierung“ durch Sprache besteht:
nach Schütz' hat selbst der aufmerksam zuhörende und adäquat
generalisierende Andere keinen direkten Zugriff auf die Erlebnisinhalte von
alter.
Dieser Umstand gilt erst recht auch für die
Wissenschaft.
Dies spielt vor allem für das hier verhandelte Raumerleben
eine sehr zentrale Rolle, da dieses vermutlich, neben Schmerzen und
Emotionen, das leiblichste Wissen des Subjekts darstellt. Soll Raumerleben
(wissenschaftlich) verobjektiviert werden, muß dies im Sinne des
Erörterten mit einem Verlust an Informationen über dieses Erleben
einhergehen: „Die beständige, intersubjektive Geltung der
Wortzeichen, die sozialen Ursprungs ist, impliziert also eine Reduktion der
Erlebnisfülle des Subjekts hinsichtlich ihrer Ausdrückbarkeit“
(Srubar, 1981:31). Bislang ist es allerdings unterblieben, diese (notwendige)
Reduktion als Bedingung der Möglichkeit überhaupt anzusehen, nicht
nur um an räumliches Erfahrungswissen zu gelangen. Denn nur das Subjekt
ist selbst in der Lage, die Raumerfahrung und ihre Deutung als eine für
ego adäquate Sinnzuschreibung im Sinne des reflektierenden Ichs
auf seine leiblichen Erlebnisse zu gestalten.
Schütz geht im
weiteren Verlauf seiner Theoriebildung verstärkt auf die Klärung des
Problems ein, wie intersubjektives Verstehen überhaupt möglich und
sozialwissenschaftlich zu konzipieren ist, um damit auf die Erklärung der
möglichen Generalisierungen von Sinn abzuzielen (Typisierungen wie
Sprache, Symbole, gespeist aus der Reflexion auf Erlebnisse usw.). Damit
rückt aber die Analyse der direkten Erlebnisinhalte notgedrungen in den
Hintergrund, die in seiner „lebensphilosophischen Anfangsphase“
noch eine größere Bedeutung hatte, als insbesondere Henri Bergsons
„Materie und Gedächtnis“ wie eine dimensionale, eine
entscheidende Rolle spielte (Bergson, 2015) (vgl. Srubar, 1981:30).
Dies muß deshalb methodologisch für die rekonstruktive Analyse der
räumlichen Erfahrungen wieder ans Tageslicht geholt werden, und zwar als
soziale Relation zwischen Zeichen/Typisierung und der leiblichen Erfahrung
von Materialität, genauso, wie es Schütz noch in der Frühphase
für die „Spracharbeit“ konzipiert hat (Srubar, 1981:53). Zum
anderen muß die Aufmerksamkeit dafür geschärft werden, daß
räumliche Erlebnisinhalte und Typisierungen auf Basis asemiotischer
Erfahrungen (z. B. heimelige/unheimliche Orte, angenehme/abweisende
Atmosphären, die soziale Nähe bzw. Ferne ausdrücken) zu den
grundlegenden und Gesellschaft überhaupt ermöglichenden
Erfahrungsinhalten gehören, mithin also sozial konstitutiv sind. Es sind
gerade jene – durch Sprache in Retentionen und Protentionen mitgeteilten –
Erlebnisinhalte räumlicher Art, die für die Humangeographie von
großer Bedeutung sind. Damit dies in den Fokus rückt, muß aber
konzeptionell die Möglichkeit des Subjekts, diese eigenständigen
asemiotischen Erfahrungen von Welt zu machen, eingeräumt werden, und
quasi wieder aus dem Fundus des phänomenologischen Tafelsilbers
zurück in die Theorie- und Methodologiedebatte geholt werden. Der Sinn
der „Begriffsarbeit“ der sozialen Sphäre (die Gesellschaft
und ihre Wissensvorräte) liegt laut Schütz in ihrer adäquaten
Typisierung, daß also Begriffe in irgendeiner Beziehung zum Erlebten
stehen müssen, sollen sie sinnhaft für die Subjekte
sein.
Man sagt z.B. alltagslogisch „Mit diesem Begriff kann
ich nichts anfangen“ oder „das bringt es nicht auf den
Punkt“ um das (hier fehlende) Adäquanzprinzip zu verdeutlichen, und
dies gilt insbesondere für Erlebnisse von räumlichen
Zusammenhängen, die zunächst leiblich erfahren, und dann später
begrifflich zu verallgemeinern versucht werden („Angsträume“
usf.). Dabei sind alle diese Versuche nur unzureichende Symbolisierungen, die
notwendig verallgemeinernd sind, um verstanden zu werden, aber eben
keineswegs allgemeinverbindlich, weil sie auf den Residuen des subjektiven
Erlebens aufruhen: was dem einen eine beängstigende Tiefgarage oder ein
Parkhaus, ist dem anderen ein perfekter urbaner Spielpark (vgl. Hasse,
2012b).
So sind subjektive Raumerfahrungen (z.B. Angst in einer Tiefgarage) nicht
arbiträr und losgelöst vom konkreten Raumerleben, gewinnen aber erst
Sinnhaftigkeit, wenn sich andere Subjekte in der Wahl von Begrifflichkeiten
zumindest in Retentionen an ihre durée erinnern und nun
Du-Erlebnisse produzieren, die ein solch gemeinsam geteiltes
In-der-Welt-sein als symbolisch aktualisierte frühere
Raum-Erlebnisse darstellen: mehrere Menschen, für die Tiefgaragen
bedrohlich wirken. Dabei ist zuzugestehen, daß unterschiedliche Menschen
(Milieuhintergrund, Geschlecht, o.a.) habituell und Doxa-begründet
durchaus zu unterschiedlichen Ausdeutungen von Raumphänomenen kommen
können. Diese lassen sich aber selbst wieder typisieren und
zusammenfassen im Sinne einer Bourdieuschen Klassen- respektive Milieuanalyse
(vgl. etwa Dörfler and Manns, 2013; Dörfler, 2013). Beiden
Perspektiven gemein bleibt aber das Problem des Asemiotischen der
Raumerfahrung. Es ist kein Zufall, wie diese Ausdeutungen sich gestalten, da
ein wesentlicher Teil davon in ihrer Materialität und damit leibhaften
Erfassung begründet liegt. Dies gilt auch im Hinblick auf den sozialen
Anderen, mit dem Leib als materiellen Interpretanten.
In diesem Sinne sollte Raum weder als Vorbedingungen des Denkens oder als
apriorisches Etwas angesehen werden, wie das in der „euklidischen
Tradition“ der Fall ist,
Vgl. die Darstellung zum absoluten
Raum in Jammer (1960), ähnlich in Löw (2001, 2008).
noch als
bloßes soziales „Konstrukt“ oder „signifikativer
Verweisungszusammenhang“, wie es eine diskurshygienische
„Stilllegung des Denkens in Kategorien individuellen Erlebens und
leiblichen Spürens mitweltlicher Milieus“ (Hasse,
2017:352; Herv. i.Orig.) erreicht hat, denn er geht über beides hinaus.
Durch menschliche Wahrnehmung, die nicht nur kognitiv, sondern auch leiblich
erfolgt, und die eng an Kultur, Gesellschaft und Habitat gebunden ist
(Siedlungs- und Umgangsformen, Wohnen, Straßen/Wege, Plätze etc.)
spannt sich der für den Menschen relevante Raum in der Zeit und auf
Grundlage menschlicher Erfahrungen objektiv auf, also jenseits der
Subjekte und gleichzeitig durch sie konstituiert: der
„durchorganisierte Raum [ist] Bestandteil des objektiven Geistes
[…] und uns von diesem her verständlich: Die Ordnung der
Sitzgelegenheiten in einem Wohnraum, die Ordnung der Häuser entlang der
Straße usw.: alles dies ist uns verständlich, weil sich menschliche
Zwecksetzung darin objektiviert hat“ (Bollnow,
1960:408).
Bollnow (1963) legte dar, dass Raum kein
„linguistisches“ oder „diskursives“ Problem darstellt
(wie wir also Plätze und Räume via Sprache „herstellen“),
sondern ein leibliches Phänomen ist, das sich auch nur auf diese Weise
erfahren läßt: wie wir also leiblich die materiellen Dimensionen der
Lebenswelt erfassen und erlernen, seien sie kulturell (Zeichen auf der
Straße), natürlich (Klima, Landschaft), oder sozial (die Lebenswelten
der anderen).
Es ist dies gewissermaßen der räumliche Aspekt der
„Externalisierung“, „Objektivierung“ und
„Internalisierung“, wie es Berger and Luckmann (1969) generell
für die Etablierung sozialer Tatsachen eingeführt haben (vgl. Steets,
2015 für die gebaute Umwelt).
Synthese und Exkurs: Auf der Suche nach leiblichen „Resonanzräumen“?
In dem vorliegenden Beitrag wurde gezeigt, daß der „soziale
Raum“ weder kausal vor-, noch lediglich konstruktiv nachgeordnet ist,
sondern selber, als habituell organisiertes Leibwissen, ein Konstitutivuum
des Gesellschaftlichen darstellt. Eine raumphänomenologische Deutung des
Sozialen erfordert dabei eine Erforschung der (Alltags-)Welt, wie sie von
jenen, die darin situiert und involviert sind, erfahren wird. Es
ging darum, aufzuzeigen, wie und warum menschliche Erfahrungen von
räumlichen Dimensionen der sozialen und vor allem materiellen Welt als
Grundlage wissenschaftlicher Rekonstruktion gelten können: indem sie
ihren Ausgangspunkt in den Symbolisierungen und dem Sinn nehmen, den Menschen
ihrer sozio-räumlichen Erfahrung geben (ja sogar geben müssen).
Hierzu wurde die Dimensionen des sozialen Raumes sowie Räumlichkeiten des
Sozialen bei Alfred Schütz sowie in den Strukturen der Lebenswelt von Schütz and Luckmann (1979) aufgezeigt, um methodologisch
die Möglichkeit für eine empirisch fundierte raumbezogene
Sozialforschung zu eröffnen, und um damit die subjektbezogenen Erfahrungsdimensionen des Räumlichen nutzbar zu machen. Denn es stellt
sich bis heute das Problem, wie gegenstandsorientierte, empirische
sozialwissenschaftliche Forschung zum Räumlichen der Gesellschaft – etwa
auf Basis von Herrmann Schmitz' Neuer Phänomenologie (1980), worin auch
im Spätwerk leibliche Räumlichkeit(en) eine zentrale Rolle spielen
(vgl. Schmitz, 2007) – über individuelle und kollektive Raum-Erfahrungen
zu betreiben wäre? Hierin existiert aus unserer Sicht eine
disziplinübergreifende Leerstelle, weswegen wir in der Phänomenologie
von Alfred Schütz eine epistemologisch und konzeptionell angemessene
Möglichkeit sehen, Raumerfahrungen und Raumerleben ihren subjektiven
(erlebten) Sinn nach zu verstehen und rekonstruieren zu können. Diese
Erfahrungen bilden die notwendige Grundlage, um sie für den akademischen
Diskurs im Bourdieuschen Sinne verobjektivieren zu können und um eine
neue Theorie sozialer Räumlichkeit zu entwickeln.
Es erscheint uns deshalb zentral, diese geisteswissenschaftlichen Aspekte
der Sozialphänomenologie von Alfred Schütz in der Humangeographie zu
verankern, da viele theoriegeleiteten Debatten der letzten Jahre explizit in
eine andere Richtung voranschritten und dabei grundsätzliche
Voraussetzungen anthropologischer wie phänomenologischer Art bei der
Analyse sozioräumlicher Bedingungen mißachtet haben. Diese in das
Bewußtsein zu rufen und auf die conditio humana des Subjektleibes gerade in Zeiten
biopolitisch zurichtender und kasernierender Politiken hinzuweisen, scheint
uns existentiell, um Gegenentwürfe nicht nur theoretischer Art zu
unternehmen.
Hierzu möchten wir einen knappen Ausblick auf Analysen
zeitgenössischer Lebenswelten unter post-postmodernen Bedingungen
anschließen, um die methodologische und praktische Tragweite der hier
vorgestellten leibphänomenologischen Lebensweltanalyse zu verdeutlichen.
„Confronted with society's possible collapse, that is, with a crisis in
its integration on both social and system level, significant parts of society
activate morphogenetic processes that consist in creating networks of
relations in which the functionalist principle is replaced by other
principles“ (Donati, 2015:100). Subjekte der Moderne (vgl.
Weisenbacher, 1993) zeichnen sich durch die gelebte Ambivalenz der Zumutungen
der modernen Welt aus: einerseits sind sie eingebunden in die funktionalen
Ermöglichungsspielräume der Arbeitsteilung und erfahren sich dabei
durchaus als frei, autonom und handlungsgestaltend; andererseits entfremdet
sie diese notwendig abstrakte Vergesellschaftungsform von Erfahrungen und
zwischenmenschlichen Beziehungen, die anthropologisch als fundamental für
den Menschen gelten können.
So zeichnet sich die (post-)moderne
Epoche als Dialektik zwischen funktionaler Ausdifferenzierung und intimer
„Entdifferenzierung“ aus (Familie, Subkulturen etc.) und kann als
Charaktermerkmal – vermutlich für alle von der kapitalistischen
Modernisierung betroffenen Gesellschaften – gelten.
„Vom
post-postmodernen Menschen wird immer noch mehr Mobilität und
Flexibilität, sowie qua neue Medien permanente Erreichbarkeit und
Omipräsenz gefordert, was zu einer immer stärkeren räumlichen
Gleichgültigkeit, zu Unverbundenheit und Unverbindlichkeit in Bezug auf
bestimmte Orte sowie – kritisch beleuchtet – zu Entwurzelung
führt“ (Fischer-Geboers and Geboers, 2015:263).
Mit der Steigerung der Entfremdungserfahrungen z.B. durch die benannte
Flexibilisierung und Mobilität sowie Beschleunigungserfahrungen, wie sie
seit einiger Zeit auch in der Soziologie thematisiert werden (vgl. Sennett,
2000; Rosa, 2013:8ff.), erfährt diese Dialektik eine Verstärkung, und
so erscheint es beim Blick auf gegenwärtige populäre
Subjektivierungsformen als evident, daß Menschen im Zeichen
gegenwärtiger ökonomischer und (sozial-)ökologischer Krisis
vermehrt das Bedürfnis entwickeln, sich in relationalen Beziehungen zu
organisieren, die personal nicht-funktional und leiblich authentisch sind
(Donati, 2017). Viele streben zudem auch in der persönlichen
Lebensführung eine ethisch konsistente Verankerung an (ausgerichtet an
Nachhaltigkeit, Suffizienz, authentische Leib-Praktiken etc.), um den aus
ihrer Sicht Zumutungen der Zeit eine andere Praxis entgegenzusetzen.
Es liegt darin eine Suche nach reziproken Beziehungen zugrunde, die den
Funktionen der Moderne entgegenstehen bzw. diese hinter sich lassen
möchte, um einen (neuen) sozialen wie persönlichen
Lebens-Sinn zu entwickeln.
In ähnlicher Begründungslinie führt Hartmut Rosa (2016)
unlängst an, dass Globalisierungs-, Beschleunigungs- und
Digitalisierungsprozesse das eigentliche praktische Problem der
zeitgenössischen Lebenswelten verdrängen: den
modernistisch-funktionalen Zwang zur Anpassung an Technisierung und
fortschreitender Modernisierung, bei gleichzeitiger leiblicher und
psychologischer (anthropologischer) Notwendigkeit des Erlebens von sozialen
„Resonanzräumen“ (Rosa and Endres, 2016:20).
Unter Resonanz versteht Rosa (2016:298) dabei „eine durch Affizierung
und Emotion, intrinsisches Interesse und Selbstwirksamkeitserwartung
gebildete Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig
berühren und zugleich transformieren“. Grundsätzlich ist eine
Resonanzerfahrung ein „momenthafter Dreiklang aus konvergierenden
Bewegungen von Leib, Geist und erfahrbarer Welt“ (Rosa, 2016:290).
Dabei unterscheidet er (ebd.: 151ff.) – in Rekurs auf Plessners
Differenzierung von Mitwelt, Außenwelt und Innenwelt –
drei „Resonanzachsen“: (1) horizontale Resonanzachsen, womit
Familie, Freundschaft und Politik die soziale Mitwelt betreffend
gemeint sind, (2) diagonale Resonanzachsen, die mit Objekten, Arbeit,
Ausbildung, Konsum und Sport die Außenwelt betreffen; sowie
(3) vertikale Resonanzachsen, die mit Natur, Religion, Kunst und Geschichte
die Affektionen der subjektiven Innenwelt betreffen.
Darin werde das Streben nach „einer anderen Form der
Weltbeziehung“ deutlich, um Selbstwirksamkeitsgefühle zu
mobilisieren, die auf ein kollaboratives Gestalten des Gemeinwesens abzielt
(ebd.:737; vgl. Sennett, 2014). Damit soll der Übergang in eine
stärker resonante (und damit weniger entfremdete) Gesellschaft
möglich werden, durch andere Praxen der Gesellung, also als
konkretes und praktisches Zusammenleben (vgl. Adloff and Heins, 2015). Dieser
Wertewandel wird als Hinweis gesehen, daß es „im Leben auf die Qualität der
Weltbeziehung ankommt, das heißt auf die Art und Weise, in der wir als
Subjekte Welt erfahren und in der wir zur Welt Stellung nehmen“ (Rosa,
2016:19).
Die hier nur en passant thematisierten
„post-postmodernen“ Bedürfnisse resonanter Raum- und
Leibbezügen basierenden Praxis eröffnen damit den Blick auf (neue)
leiblich begründete Interaktionen und Handlungsformen, will man
verstehen, was für Subjekte als ein gelingendes Leben unter
spätkapitalistischen Bedingungen gelten kann. Die Autoren untersuchen
dies aktuell in einem Projekt zur Selbstorganisation im Zeichen
sozialökologischer Krisen,
Vgl.
http://www.selfcity-project.com.
dessen Erkenntnisse sehr deutlich
darauf hinweisen, daß ein „resonanter“ Sozialraum Bedingung
und Potential emanzipatorischer, auf Handlungsautonomie abzielender Praxis
ist. Jenes gelingende Leben ist ohne eine dem Subjektiven
„adäquate“ Raumerfahrung nicht zu haben. „[I]n dem von
Menschen implizit erlebten Ineinandergehen von Raum- und Selbstwahrnehmung
bzw. in dem kaum voneinander trennbaren gleichzeitigen Erleben eines Raums
und der eigenen Person“ (Müller, 2017:13) liegt der Schlüssel
für das Verständnis desselben, der noch seiner Ausarbeitung in der
zeitgenössischen Theoriebildung harrt.
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Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt
besteht.
Danksagung
Wir danken den drei anonymen Gutachter/innen für ihre konstruktiven Kritiken an diesem Beitrag.
Edited by: Benedikt Korf
Reviewed by: three anonymous referees
Literatur
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Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld,
transcript, Bielefeld, 2010.
Adermann, K.: Herrmann Schmitz – Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und
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Anderson, B. and Harrison, P.: Taking-place: non-representational theories
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Adloff, F. und Heins, V.: Konvivialismus. Eine Debatte, transcript,
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Ash, J. and Simpson, P.: Geography and post-phenomenology, Prog. Hum. Geog.,
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Atkinson, R., Hasanov, M., Dörfler, T., Rothfuß, E., and
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collective action, International Journal of Sustainable Society, 9,
193–209, 2017.
Berger, P. und Luckmann, T.: Die gesellschaftliche Konstruktion
der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Fischer, Frankfurt, 1969.
Bergson, H.: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die
Beziehung zwischen Körper und Geist, Meiner, Hamburg,
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Birkenhauer, J.: Hermeneutik: Ein legitimer wissenschaftlicher Ansatz in der
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Böhle, F. und Weihrich, M. (Hrsg.): Die Körperlichkeit
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