Das Anthropozän mutet der Soziologie, aber auch vielen anderen Wissenschaften wie etwa der Humangeographie, allerlei zu: Lange Zeit anerkannte Unabhängigkeitserklärungen zur disziplinären Selbstvergewisserung („soziologische Erklärungen sind unabhängig von …“) und Gegenstandsabgrenzung („Gesellschaft ist unabhängig von …“) werden offen angegriffen; naturwissenschaftliche Erkenntnisse bedrängen mit ihren twitterfähigen „stunning facts“ sozialwissenschaftliche Diskussionsmodi und ermöglichen eine neue Blüte von Welterklärern, die eine vergessen geglaubte Universalgeschichte im planetarischen Massstab wiederbeleben; und deutlich wird auch, dass die lange Zeit von Handlungspressionen relativ befreiten Sozial- und Geisteswissenschaften verstärkt hinsichtlich ihrer Nützlichkeit für die grosse sozial-ökologische Transformation geprüft werden.
In dem von Henning Laux und Anna Henkel editierten Band „Die Erde, der Mensch und das Soziale“ finden sich 13 Aufsätze von 14 Autor*innen, die in den Horizont dieser und ähnlicher Zumutungen zu stellen sind. Leider, um mit dem kleinen Manko des Bandes zu beginnen, verzichten die beiden Herausgeber*innen auf eine systematische Benennung der Zumutungen und ersparen sich zudem die Mühen einer leitenden Fragestellung. Stattdessen präsentiert die autor*innenlose Einleitung lediglich die bekannte Erfolgsgeschichte des Anthropozänbegriffs und fasst die Beiträge zusammen. Diese Orientierungslücke gleichen die Herausgeber*innen auch in ihren eigenen Beiträgen nicht aus. Zwar skizziert Laux die „Soziogenese“ des Anthropozäns facettenreicher als in der Einleitung, aber die von ihm vorgestellten soziologischen Strategien im Umgang mit dem Anthropozän möchte ich hier schon allein deshalb nicht wiederholen, weil sie entweder gar nicht oder nur unzureichend belegt werden. Und obwohl Henkel im Titel ihres Beitrags verspricht, die Herausforderungen des Anthropozäns für die Soziologie zu skizzieren, wirbt sie lediglich für ihre eigene Position einer Soziologie der Nachhaltigkeit.
Zum Glück sind viele Beiträge mehr als nur „explorative Sondierungen“ (S. 13) und somit für die Geographie lehrreicher. Es lohnt sich daher der Frage nachzugehen, ob und wie die Autor*innen, die mehrheitlich aus der Soziologie, aber auch aus der Geographie, der Philosophie sowie der Wissenschafts- und Technikforschung kommen, mit den Zumutungen des Anthropozäns umgehen.
Besonders inspirierend lesen sich die Beiträge von den Autor*innen, die sich der verschiedenen Zumutungen des Anthropozäns bewusst sind und ihnen nicht mit rechthaberischem Grummeln oder diffamierender Süffisanz begegnen, sondern sich offen für Veränderungen zeigen. Dies gilt zum Beispiel für Roland Lippuner, leider der einzige Geograph im Band, der die Herausforderungen des Anthropozäns für die Sozialwissenschaften kenntnisreich aufzeigt, aber nicht der Versuchung erliegt, bestehende ideenreiche und elaborierte Theorien wegen einiger Unzulänglichkeiten gleich gänzlich über Bord schmeissen zu wollen. Und weil er das Anthropozän grundsätzlich weiter und vielfältiger als die Geologie begreift, muss er es auch nicht wegen seines vermeintlich entpolitisierenden Charakters verwerfen, sondern kann sich für mehrere und verschiedene Theorien und Begriffe öffnen. Im Ergebnis skizziert er eine neo-kybernetische Ökologie mit den Leitbegriffen der Komplexität und Kontrolle und wird so den vielen Neben-, Mit- und Gegeneinandern im Anthropozän epistemologisch und sachlich gerecht. Ähnlich verhält sich der Beitrag von Stephan Lorenz. Zwar behagt ihm der Anthropozänbegriff nicht, aber weil er davon absehen und seine theoretischen Prämissen mit dem Anthropozän verbinden kann, entwickelt er über das Thema Bienen verschiedene sozialwissenschaftliche Perspektiven im und auf das Anthropozän, die neue Einsichten und eventuell auch neue Handlungsoptionen versprechen. Der gemeinsame Nenner dieser teils neuen Perspektiven im Anthropozän – er würde Ökozän bevorzugen – ähnelt Lippuners Argumentationen: Detailkenntnisse seien nötig, aber nicht hinreichend, um einen Sinn für die „Dynamiken ökologischen Zusammenlebens zu entwickeln“ (S. 245).
Als Auftrag für die empirische Forschung sehen Tanja Bogusz und Nico Lüdtke das Anthropozän. Beide fragen, welche Konsequenzen es für die Wissenschaft hat, wenn anthropozäne Förderkulissen mit Transformationsimperativen errichtet werden. Theoretisch vielschichtig reflektiert und empirisch reichhaltig berichtet Bogusz von ihren Beobachtungen über soziotechnische, geopolitische und epistemische Arrangements eines vorrangig am Pariser Naturkundemuseum beheimateten Expeditionsteams, das sie nicht allein in Frankreich, sondern auch bei einer Expedition zum Bismarck-Archipel begleitete. Das Ergebnis: Die mit dem Anthropozän verbundenen epistemischen, politischen und soziotechnischen Triften wirbeln den traditionellen Forschungsmodus Expedition durcheinander. Das ist mühsam, aber mit Blick auf Gerechtigkeitsansprüche auch lohnend. Lüdtkes Beitrag hat zunächst wenig mit dem Anthropozän zu tun. Weil er aber die Probleme und Bearbeitungsmodi transdisziplinären Arbeitens benennt und die Idee der (Selbst-)Verantwortung theoretisch ausarbeitet und empirisch illustriert, bietet er Einsichten in praktische und moralische Aspekte dieser Arbeitsweise. Cordula Kropp weist im Zusammenhang mit der geforderten Transformation noch auf die Widerständigkeiten von Infrastrukturen hin und rückt ihr Forschungsthema in den Horizont der Anthropozändiskussionen. Dabei stellt sie überzeugend heraus, dass im Anthropozän „jedes stabile Gegenüber de-ontologisiert und in einen Strudel hybrider Identitäten gerissen“ wird (S. 191).
Weil die Anthropozändiskussionen auf praktisch alle Weltverhältnisse
abstellen, kann man ihnen und ihren Transformationsimperativen kaum
entrinnen. Zudem zwingt der universalistische Charakter des
Anthropozänbegriffs zu Positionierungen. Katharina Block weist in diesem
Zusammenhang auf eine konstitutive Ambivalenz des Anthropozäns hin: Mit
dem Bewusstsein vom Anthropozän geselle sich zu den von Sigmund Freud
benannten kosmischen, evolutionären und psychologischen Kränkungen
des Menschen eine vierte narzisstische Kränkung, für die Block
selbst keinen knappen Begriff anbietet, die sich aber als
natürlich-umweltliche Kränkung und zukünftig vielleicht noch
zusätzlich als digitale Kränkung bezeichnen ließe. Obwohl also der
Mensch im Anthropozänbegriff zentral gestellt wird, gelte es zu
erkennen, dass der Mensch immer auch ein Naturwesen sei und entsprechend
auch von der Natur, der Umwelt oder dem Körper her zu begreifen sei. Aus
der in den Anthropozändiskussionen angezeigten Not will Block eine
Tugend machen und plädiert dafür, mit dem Begriff des
Anthropozäns nicht allein die Kränkung anzunehmen, sondern an der
Überwindung des Anthropozäns zu arbeiten. Es überrascht zu
sehen, dass diese Position, obwohl in der Argumentation von Helmuth Plessner
stehend und mit interessanter philosophischer Raffinesse versehen, nicht
mehr sonderlich weit vom bekannten Anthropozännarrativ der Grossen
Transformation entfernt ist. Auch Joachim Fischer wendet sich der
Philosophischen Anthropologie Plessners zu, stellt ausgewählte
Grundzüge sehr gut vor und riegelt die Theorie doch ab: Sie sei aufgrund
ihrer Architektur gut geeignet, um (i) sozialkonstruktivistische und
kulturalistische Ansätze, (ii) überdehnte Vitalismusansätze,
(iii) die engere Anthropozän-Theorie und (iv) kritische Theorien des
Anthropozentrismus
Die recht schroffe Rückweisung einer wunderbaren Einladung zur
Veränderung – denn auch das ist das Anthropozän – schimmert
auch in Arno Bammés Beitrag durch. Die natürlich-umweltliche
Kränkung ficht ihn nicht an. Stattdessen stellt er im Gestus des
Welterklärers auf das Gesamtbild ab: neolithische Revolution,
Achsenzeit, Mosaische Unterscheidung, griechisches Mirakel, europäisches
Mirakel und schliesslich das Anthropozän seien die wichtigsten
„sozialhistorischen Wegscheiden“ für ein angemessenes
Verständnis der Gegenwart. Aphorismen stützen sein grosses Bild: Nur
Apokalyptiker, so Bammé mit Verweis auf Sloterdijk, könnten heute
noch vernünftige Zukunftspolitik machen (S. 38). Bitte nicht! Die von
ihm identifizierten fünf Gestaltungsaufgaben (Konzeption einer
Weltregierung unter Beibehaltung der Errungenschaften demokratischer
Zivilgesellschaften; Gemeinwohlökonomie mit kreativer Dynamik;
nachhaltige Gesellschaftspolitik; postakademische Wissenschaft im Dienste
der Gesellschaft bei gleichzeitiger Wahrung wissenschaftlicher Autonomie;
und Weltethik unter Berücksichtigung der modernen Lebenswissenschaften
ohne Rückbezug auf konkurrierende Gottheiten) sind zwar nicht falsch,
aber in ihren Begründungen erratisch. Und wenn er wiederkehrend von
Aus Platzgründen konnten nicht alle Texte des Bandes gebührend
kommentiert werden – Karl-Werner Brand verbindet gesellschaftliche
Naturverhältnisse noch aufs Engste mit kapitalistischen Entwicklungen
und das Autorenduo Jeremias Herberg und Gregor Schmieg widmen sich der viel
zu oft vergessenen Technosphäre. Die (deutschsprachige) Geographie kann
und sollte in meinen Augen dreierlei aus dem vielfältigen Band lernen.