A central diagnosis driving research around social relations of nature is the thesis of the “end of nature”. In an era marked by climate change and global warming, the image of nature as a pristine and stable foundation of human existence seems outdated. In light of this, recent scholarship demonstrates how environmental changes and conflicts increasingly affect people's daily lives and present significant threats to psychic well-being. In contrast, in this paper we investigate the conditions under which nature continues to function as an effective source of `ontological security'. As part of an international comparative research project that engages geographical imaginaries of security and insecurity in Berlin, Vancouver, and Singapore, we analyze how nature is imagined by city dwellers as an object of desire that offers a place of refuge to escape the burdens from urban everyday life. Against this background, we emphasize imaginary nature as a powerful everyday source for the ontological security of subjects even under today's postnatural conditions.
Eine zentrale Diagnose, die die Forschungen zu gesellschaftlichen
Naturverhältnissen antreibt, ist die These vom „Ende der
Natur“ (McKibben, 2006 [1989]). Das gängige Bild der (ersten) Natur als
eines unberührten, harmonischen und stabilen Hintergrundes, vor dem sich
Kultur und Gesellschaft abspielen, wird nicht zuletzt durch den Klimawandel
obsolet. Phänomene wie Hitzewellen, Überschwemmungen,
Wirbelstürme, Dürren oder Waldbrände lassen sich nur hinreichend
erklären, wenn man sie im Sinne einer vergesellschafteten (zweiten)
Natur versteht, die inhärent mit unseren sozialen, kulturellen und
politischen Lebensweisen verbunden ist. Dieses Ende der (ersten) Natur
bringt eine zutiefst verunsichernde Dimension mit sich, wie sie bereits
Ulrich Beck (1986, 1999) in seiner Theorie der Risikogesellschaft
beschreibt. Während das 19. Jahrhundert von der Phantasie einer
vollständigen Naturbeherrschung beflügelt war, wurde dieser Glaube,
so Beck, durch die ökologische Krise erschüttert und es setzte sich
die Erkenntnis durch, dass die Folgen menschlicher Eingriffe in die Natur
mit zunehmenden existenziellen Verunsicherungen verbunden sind:
„Die Kehrseite der vergesellschafteten Natur ist die
Vergesellschaftung der Naturzerstörungen, ihre Verwandlung in soziale,
ökonomische und politische Systembedrohungen“ (Beck, 1986, p. 10).
Hiervon ausgehend hat sich eine Debatte zu Fragen der „Umweltunsicherheit“ (
Während diese Studien den Fokus auf raumbezogene Konflikte
legen, die als ökologische „Geographien der Gewalt“ (Korf
und Schetter, 2015) mit der zunehmenden Umweltzerstörung und
Ressourcenknappheit einhergehen (Barnett und Adger, 2007; Welzer, 2008),
konzentriert sich ein weiterer Forschungsstrang auf die alltäglichen
Dimensionen von Umweltunsicherheit. Studien haben in diesem Zusammenhang
untersucht, inwiefern das zunehmende Bewusstsein rund um
Umweltveränderungen zu einer möglichen Bedrohung für die
psychische Gesundheit und das psychische Wohlbefinden werden kann
(für einen Überblick
siehe Cianconi et al., 2020). Zentral wurde hierbei betont, wie mediale
Berichte und Expert*innenprognosen gegenwärtig zu einem diffusen
Gefühl der allgemeinen Verunsicherung führen, welches mit einer
Reihe negativer psychologischer Auswirkungen verbunden ist, darunter
Depressionen, Suizidgedanken und posttraumatischem Stress sowie Gefühlen
von Wut, Hoffnungslosigkeit, Bedrängnis und Verzweiflung
(Cunsolo und Ellis, 2018). Der Alltag sei demnach zunehmend
begleitet von „ökologischen Ängsten“ (Robbins
und Moore, 2013), „ökologischer Trauer“ (Cunsolo
und Landmann, 2017), sogar einem „anthropozänen Horror“ (Clark, 2020), der aus Gefühlen des Entsetzens über die sich
global verändernde Umwelt hervorgehen kann. Erik Swyngedouw (2015, p. 135) interpretiert die verunsichernde Dimension der
vergesellschafteten Natur als eine Art bröckliges Fundament, mit
tiefgreifenden gesellschaftlichen Auswirkungen: Die Natur ist unberechenbar, erratisch, sprunghaft und blind. Es gibt keine
endgültige Garantie in der Natur, auf die wir unsere Politik oder das
Soziale gründen können, auf die wir unsere Träume, Hoffnungen
oder Bestrebungen stützen können. (eigene Übersetzung)
Unserer Auseinandersetzung mit imaginären Naturverhältnissen liegt
das Konzept der „ontologischen Sicherheit“ zugrunde.
Eingeführt von dem Psychiater Ronald D. Laing (1983 [1960]) in
seinem Buch Ein Mensch kann das Gefühl seiner Präsenz in der Welt haben als eine
reale, lebendige, ganze und, in einem temporalen Sinn, kontinuierliche
Person. Als solche kann er in der Welt leben und andere treffen: Eine Welt
und andere, die als gleichermaßen real, lebendig, ganz und
kontinuierlich erfahren werden. Solch eine fundamental ontologisch sichere
Person wird allen Zufällen des Lebens, sozialen, ethischen, geistigen,
biologischen, begegnen mit einem zentralen, unveränderlichen Gefühl
von der eigenen Realität und Identität und der anderer. (Laing, 1983 [1960], p. 47)
Mit diesem Beitrag machen wir das Konzept der ontologischen Sicherheit hinsichtlich der alltäglichen Bedeutung von Naturverhältnissen fruchtbar. Schließlich wurde es bislang hauptsächlich auf zwischenmenschliche Zusammenhänge angewendet und Mensch-Umwelt-Beziehungen wurden weitestgehend außer Acht gelassen. Dieser Mangel an Forschung spiegelt jedoch keineswegs das Potenzial des Konzepts der ontologischen Sicherheit für die Bedeutung menschlicher und nicht-menschlicher Interaktionen wider (Banham 2020, p. 134). Schon die Forschungen von Sarah Whatmore (2013) zu mehr-als-menschlichen Geographien haben gezeigt, dass Menschen durch bedrohliche Naturereignisse wie z.B. Flutkatastrophen fundamental affiziert werden. Gerade im Kontext gegenwärtiger Umweltveränderungen, insbesondere im Zuge des Klimawandels, wo die Vorstellung einer „natürlichen Umwelt, wie sie sich unabhängig von menschlichen sozialen Aktivitäten konstituiert“ (Giddens, 1991, p. 168, eigene Übersetzung), zunehmend obsolet zu werden scheint, werden von der Forschung ebenso wie von politischen Aktivist*innen oftmals die negativen Gefühle und Assoziationen hinsichtlich der bedrohlichen Umweltveränderungen stark gemacht. Die Frage, ob Natur gegenwärtig nicht auch (noch) als Garant für ontologische Sicherheit dienen kann, scheint theoretisch ebenso wie empirisch (und auch politisch) aus dem Blick geraten zu sein. In eben diese Forschungslücke schreiten wir hinein.
Wir untersuchen, wie Natur zu einer Instanz für die ontologische
Sicherstellung von Subjekten wird (siehe auch Pohl und Helbrecht, 2022a)
bzw. fragen danach, mit welchen Vorstellungen von Natur sich Subjekte
ontologisch versichern. Damit knüpfen wir an eine grundlegende
Prämisse an, die in der Humangeographie eine lange Tradition hat: die
gesellschaftliche Konstruiertheit von Natur. Schließlich kommt die These
vom „Ende der Natur“, wie wir sie in der Einleitung skizziert
haben, nicht nur in den naturwissenschaftlichen Befunden über den
Klimawandel zum Ausdruck, sondern findet auch in den Sozial- und
Geisteswissenschaften großen Anklang. Gerade in der Humangeographie
besteht seit langem Konsens darüber, dass es keine einheitliche, vom
Menschen losgelöste Natur gibt, sondern einzig konkurrierende
Naturverhältnisse und umkämpftes ökologisches Wissen (Macnaghten
und Urry, 1999; Castree, 2014; Castree und Braun, 2001; Flitner, 1998;
Willems-Braun, 1997). So hat die poststrukturalistische Geographie den Fokus
auf die soziale Konstruktion von Naturverständnissen gelegt, um
nachzuvollziehen, wie der Natur diskursiv Bedeutung zugeschrieben wird
(Bauriedl, 2016; Chilla, 2005; Demeritt, 2002; Otto, 2018).
Posthumanistische Geographien betonen jedoch, dass es über die
sprachliche Repräsentation hinaus weiterer empirischer wie methodischer
Zugänge für die Erforschung von Interaktionen zwischen Menschen und
nicht-menschlicher Mitwelt bedarf (Whatmore, 2006, 2013). Ein Aspekt, den wir
daran anschließend besonders herausstellen, ist – neben der Analyse von
Diskursen – die Rolle des Bildhaften bzw. Imaginären für das
Verständnis emotionaler Gesellschaft-Natur-Verhältnisse (siehe auch
Fischer, 2004). Im Anschluss an den Psychoanalytiker Jacques Lacan begreifen
wir das Imaginäre als Prozess der „räumlichen
Identifizierung“ (Lacan, 2016 [1966], p. 114), durch den ein Subjekt ein
Bild verinnerlicht, um dadurch ein Gefühl von Stabilität, Konsistenz
und Vollständigkeit (bzw. ontologische Sicherheit) in Bezug auf sich und
die Welt um sich herum herzustellen (siehe auch Blum und Nast, 1996; Nobus,
1999). Von der Annahme ausgehend, dass Menschen keine „an
sich“ vollständigen, konsistenten und stabilen, sondern dynamische,
inkonsistente und konflikthafte Wesen sind, zielt das Imaginäre folglich
darauf, nachzuvollziehen, wie Menschen überhaupt zu einer Vorstellung
von sich selbst und anderen kommen, und betont dabei die Projektionen von
Vorstellungen (von Kohärenz, Einheit, Stabilität usw.) auf Bilder,
die dem Subjekt strenggenommen äußerlich sind. Das
wichtigste Bild, das Lacan hierbei in den Blick nimmt, ist das Spiegelbild,
durch das das Subjekt von früh an fälschlicherweise annimmt, dass es
„sich selbst“ sieht und nicht nur die Projektion des Spiegels.
Dieses Bild fungiert für Lacan als eine Art Prototyp für das
Imaginäre, weil darin der illusorische Charakter der subjektiven
Verbindung von „Ich“ und Bild sehr deutlich zum Ausdruck
kommt. Allerdings macht Lacan von Beginn an klar, dass der Spiegel nicht das
einzige Bild ist, auf das sich das Subjekt projiziert. Im Gegenteil:
„Alle möglichen Dinge in der Welt verhalten sich wie
Spiegel“ (Lacan, 2015 [1978], p. 67). Lacan findet bei Giddens eher beiläufig
Erwähnung als jener Psychoanalytiker, der in „manchen
Bereichen der Gesellschaftstheorie einen stärkeren Einfluss“ habe,
dessen Ansatz jedoch für die Frage der ontologischen Sicherheit wenig
hilfreich sei, da er zwar „die Zerbrechlichkeit und
Fragmentierung des Ichs zu erfassen“ helfe, nicht jedoch auf „die Art und Weise eingeht, in der das Individuum zu einem Gefühl von
Kohärenz gelangt, und [auch nicht] untersucht, inwiefern das
zusammenhängt mit der Sicherheit hinsichtlich der ‚Realität‘ der Außenwelt“ (Giddens, 1996, p. 122). Dem
widersprechen wir, indem wir aufzeigen, wie ein Lacan'scher Ansatz sehr wohl
hilfreich sein kann, um nachzuvollziehen, wie ein Individuum auf Basis der
Annahme einer „Realität“ als Außenwelt zu einem
Gefühl von Kohärenz gelangt. Für vorangegangene
Verknüpfungen des Konzepts der ontologischen Sicherheit mit einem
Lacan'schen Ansatz siehe auch (Browning, 2019; Eberle, 2019;
Pohl et al., 2022).
In unserem Forschungsprojekt wurden insgesamt 180 qualitative Interviews in
Deutschland, Kanada und Singapur geführt, um über (ontologische)
sicherheitsbezogene Themen und Herausforderungen zu sprechen, denen Menschen
in ihrem jeweiligen Alltag begegnen. Die Interviews in Vancouver
und Singapur wurden auf Englisch geführt. Alle Zitate wurden von uns ins
Deutsche übersetzt.
Das strukturierende Element der Interviews waren Fotografien, die nach dem methodischen Ansatz der Foto-Elizitation verwendet wurden, um die emotionalen und affektiven Dimensionen sicherheitsbezogenen Raumwissens zu beleuchten (Dobrusskin et al., 2021; Pohl und Helbrecht, 2022b). Aufgrund des Samples an Bildern, die jeweils unterschiedliche Raumtypen und Maßstabsebenen in den Fokus rückten – von Zimmern über Plätze bis hin zu Grenzen und dem Weltraum –, berührten die Interviews eine Vielzahl von Themen: von den ontologisch ver(un)sichernden Aspekten, die vom Wohnen in Städten wie Berlin und Vancouver ausgehen (Genz und Helbrecht, 2022; Pohl et al., 2022) bis hin zu Fragen danach, wie migrantische Care-Arbeiterinnen in Singapur durch sozialräumliche Praktiken Sichtbarkeit und Zugehörigkeit erlangen, um sich dadurch ontologisch zu versichern (Dobrusskin und Helbrecht, 2021).
Für die Bildauswahl und Interviewführung in unserem Forschungsprojekt war es entscheidend, dass die Bilder und Gespräche genug Raum für Interpretationen und freie Assoziationen lassen. Abgesehen von der Auswahl der Fotografien folgten die Interviews einem offenen Ansatz, bei dem die Bilder den Befragten nacheinander gezeigt wurden, während ihnen allgemeine Fragen gestellt wurden, wie: „Was sehen Sie auf diesem Bild?“ oder „Löst dieses Bild irgendwelche Gefühle in Ihnen aus?“. Der Satz von Bildern, der in den Interviews verwendet wurde, bestand aus fünf Fotografien, die in jedem Interview verwendet wurden, sowie einer freien Auswahl von acht weiteren Fotografien, aus denen die Befragten selbst wählen konnten, worüber sie sprechen möchten (siehe exemplarisch Abbildung 1–3).
gettyimages, jayk7, Seniors Travelling.
iStock, Adrian Wojcik, Sun Glare Frost.
Arthur Crestani, Royale Ville.
Zwar wurden ökologische Motive bei der Bildauswahl in unterschiedlicher
Weise berücksichtigt, Naturverhältnisse standen jedoch zunächst
nicht dezidiert im Fokus der Forschung. Erst im (offenen)
Gesprächsverlauf und der anschließenden Interviewanalyse zeigte
sich, dass „Natur“ beinahe in allen Interviews zur Sprache
gebracht wurde und eine Vielzahl von divergierenden Reaktionen hervorrief,
die einer genaueren Untersuchung bedurften. Insbesondere das Bild einer von
den Interviewer*innen nicht weiter spezifizierten Landschaft (Abbildung 2),
das dezidiert für die Vancouver-Empirie ausgewählt wurde, evozierte
eine ganze Bandbreite naturbezogener Gesprächsthemen, die wir im
Folgenden hinsichtlich Gefühlen von Sicherheit, Zugehörigkeit und
Wohlbefinden näher erörtern. Einige Ergebnisse der
Vancouver-Fallstudie haben wir bereits in einem englischsprachigen Paper
dargelegt (siehe Pohl und Helbrecht, 2022a). Diese Erkenntnisse werden im
Folgenden über einen vergleichenden Ansatz mit Singapur und Berlin
vertieft.
Auf den ersten Blick scheint es sich bei Singapur, Vancouver und Berlin um
drei vollkommen unterschiedliche städtische Naturverhältnisse zu
handeln. Die Stadt mit dem prominentesten Naturbezug ist vermutlich
Vancouver. Von Wasser umgeben und im Norden und Osten von einer Gebirgskette
umschlossen, lehnt sich das Stadtgebiet Vancouvers unmittelbar an eine Natur
an, die dünn besiedelt und infrastrukturell unerschlossen ist. Im Fall von Vancouver muss betont werden, dass die Vorstellung einer vom
Menschen unberührten Wildnis wesentlich von der kolonialen Geschichte
und einer neokolonialen Rhetorik geprägt ist. Nur auf Basis einer
(verbalen und physischen) Unsichtbarmachung der First Nations, was in
British Columbia eine lange und andauernde Tradition hat (siehe hierzu auch
Willems-Braun, 1997), lässt sich auf die Wildnis in jener
phantasmatischen Weise Bezug nehmen, wie wir sie im Folgenden rekonstruieren
werden.
Auch wenn die drei untersuchten Städte somit auf den ersten Blick mit
sehr unterschiedlichen Naturverhältnissen in Verbindung gebracht werden
können, werden wir im Folgenden eine zentrale Gemeinsamkeit
herausarbeiten, die in den Interviews in Berlin, Singapur und Vancouver zum
Ausdruck kam: In allen drei Kontexten wurde eine spezifische
Naturvorstellung artikuliert, die in klarer Abgrenzung zum Stadtraum
existiert. In der Vancouver-Empirie kulminierte diese Naturvorstellung in
der sprachlichen Unterscheidung zwischen Wenn man außerhalb von Vancouver ist, ist dort einfach nur meilenweite
Wildnis. Ich habe ein paar Wanderungen in Insbesondere der US-amerikanische Wildnisbegriff
ist bereits seit langem Bestandteil wissenschaftlicher Auseinandersetzungen
(siehe Callicott und Nelson, 1998; Nash, 2014; Nelson und Callicott, 2008).
Für eine kritische Perspektive sei auf den einschlägigen Aufsatz von
William Cronon (1996) verwiesen. Für einen kürzlich
erschienen deutschsprachigen Beitrag, siehe auch Katharina Kapitza und
Sabine Hofmeister (2020) hierzu. Ich meine, warum entvölkern sich ganze Gegenden von
Mecklenburg-Vorpommern? Weil sie halt wirtschaftlich abgehängt sind und
du die Jobs hier findest in Berlin. Nicht? Und diese Entwicklung wird ja
immer stärker. Nicht? Dafür kommen die Wölfe. (lacht) … Umso
weniger Menschen dort im ländlichen Raum leben, umso stärker kommt
die Natur wieder zurück in diese Räume. Nicht? (Ber31, 88) Siehe hierzu auch kritisch Julia
Poerting and Nadine Marquardt (2019) sowie Poerting et al. (2020). In Singapur gibt es sehr viele hübsche Naturräume. Rasen, Gärten
und Parks in Singapur sind oft für den Massenkonsum zugeschnitten. Das
ist für mich im Zusammenhang mit meinen Erfahrungen, die ich in Gebieten
wie Kambodscha, Vietnam und Indonesien gemacht habe so etwas, ähm, wie
soll ich sagen … wie der Versuch des Menschen, die Natur zu zähmen.
(Sing58, 285)
In der Einleitung zu dem Sammelband Dieser Gedanke wird von Lacan an vielen
Stellen seines Werkes wiederholt. Exemplarisch beschränken wir uns auf
ein Zitat aus seinem sechsten Seminar. Hier heißt es: „Für das Subjekt erscheint das Objekt, wenn ich das so sagen kann,
draußen“ (Lacan, 2020 [2013], p. 416). Timothy Morton (2007,
p. 113) weist auf diese subjektive Dimension der Ferne hin, die an den
Begriff der Wildnis gekoppelt ist: „Was die Wildnis betrifft,
so ist die Distanz keine empirische, sondern eine soziale und
psychologische, die auch dann bestehen bleibt, wenn man sich in einer
Wildnis befindet. Wenn man ihr zu nahekäme, sagen wir, indem man
tatsächlich in ihr lebt, dann wäre sie keine Wildnis mehr“ (eigene
Übersetzung). Manche Menschen sind sehr gut darin, raus [in die Natur] zu kommen, aber ich
mit meiner Promotion bin so beschäftigt. Ich arbeite bis spät, jeden
Tag, und komme nicht oft genug raus aus der Stadt. (Van16, 284)
Im vorangegangenen Abschnitt haben wir dargelegt, dass der Natur gerade aus
städtischer Sicht eine gewisse Erhabenheit zugeschrieben werden kann.
Insofern die Natur, in ihrer vermeintlich unberührten „ersten“ Form, im städtischen Alltag vor allem aus der Distanz
wahrgenommen wird, wird sie zu einem Ort der Beständigkeit, der
losgelöst vom Treiben der Stadt existiert. In der Tourismusforschung
gilt diese Vorstellung der Wildnis im Sinne einer „ersten“ Natur daher als Paradebeispiel für das, was Daniel C. Knudsen et al. (2016) als „Phantasie der Authentizität“ bezeichnen, einen
gesellschaftlich produzierten Raum, zu dem sich Tourist*innen hingezogen
fühlen, weil er von den entfremdenden Strukturen der Gesellschaft
losgelöst zu sein scheint: Als einzigartige und kraftvolle Bühne für die Phantasie schafft die
Wildnis ein Gefühl für das Authentische und ist ein Mittel, durch
das wir uns, insbesondere im Westen, mit der Phantasie der Authentizität
beschäftigen. Als eine Quintessenz des „Anderen“ ist die
Wildnis … ein Ort, zu dem sich viele von uns hingezogen
fühlen, um sich erfüllt, autark, vollständig und nicht
entfremdet von unserem wahren, biologischen Selbst zu fühlen (Vidon,
2019, p. 19, eigene Übersetzung). Ich liebe grün. Und ich liebe eh die Natur. Ich fühle mich ihr sehr
verbunden, ich kann mich dort erholen. Also, da kann ich auftauen. (Ber13,
2) … und die Blumen, es ist wunderschön. Und es gibt
überall Vögel. Ich liebe es. Ja, ich fühle mich darin
unglaublich glücklich. (Sing53, 637) Ich liebe die Natur. Ich liebe die Bäume, ich liebe das Wasser, ich
liebe die Tiere … seit ich ein Kind war. Ja, ich liebe die freie
Natur … (Van07, 274) [W]enn man die Augen schließt und sich vorstellt, dass man dort ist,
wird man das Gefühl haben, dass die Luft kalt ist und es sich sehr
frisch und sauber anfühlt, weil niemand in der Nähe ist
… Man hat das Gefühl, dass man den ganzen Raum genießen
kann und ganz allein ist. Niemand sonst ist hier und verbaut oder ruiniert
die Natur. (Van54, 58) Ich war sehr traurig, als ich diesen Ort [wieder]sah. Früher war es ein
glücklicher Ort für mich, jetzt ist es eine Straße …
Aber dann sagte ich mir, in Singapur kommen wir nur voran, indem wir in die
Natur eingreifen, im Namen des Fortschritts. (Sing41, 594) Ich glaube, dass wir Menschen mit der Natur verbunden sind, auch wenn wir
versuchen, in Städten zu leben und in Apartmenthäusern zu wohnen.
Ich glaube, tief im Inneren sind wir immer noch so, wie wir uns entwickelt
haben. Unsere Vorfahren waren es gewohnt, nahe an der Natur zu leben. Ich
glaube, dass das immer noch ein Teil von uns ist. (Van21, 260) Dieser Aspekt ist wesentlich, gerade
für Lacan. So schreibt Bruce Fink (2011, p. 131) in seiner Einführung
in die Lacan'sche Subjekttheorie: „Das ‚verlorene Objekt‘ gab es nie; es wird bloß im Nachhinein als Verlorenes
konstituiert, da das Subjekt nicht in der Lage ist, es anderswo als im
Phantasma oder im Traumleben zu finden“. Ähnliches können wir
über die Natur sagen, wie sie in den Interviews verhandelt wurde:
Die „verlorene Natur“ gab es (in der Form) nie; sie wird erst
im Nachhinein als Verlorenes konstituiert, da die Interviewten nicht in der
Lage waren, sie anderswo als im Phantasma zu finden.
Auch wenn diese Art, die Natur in ihrem (verlorenen) Zustand der Unschuld
und Unberührtheit zu erleben, wie Slavoj Žižek (2010,
p. 80) betont, einem „Phantasma in Reinform“ verhaftet ist,
möchten wir den machtvollen Gehalt dieses Phantasmas für die
ontologische Sicherheit betonen. Als einem Interviewpartner aus Vancouver
das Bild in Abbildung 2 gezeigt wurde, identifizierte er dieses unmittelbar
mit Kanada und begann sofort einen Monolog darüber, was es für ihn
bedeutet, in der (kanadischen) Natur zu sein: Es fühlt sich an wie die Berge von BC [British Columbia] …
Ich liebe diese Art von Aussichten … Ja, ich mag es. Es ist
positiv. Wenn man solche Orte besucht, fühlt man diese innere Frische in
sich … Es gibt einem das Gefühl, alles neu beginnen zu
können. Selbst wenn man manchmal verloren ist, sich hoffnungslos
fühlt … das Gefühl hat, dass alles, was passiert, alles
Negative, alle negativen Gefühle auf einen gerichtet sind. Dann geht man
in die Berge, sieht diese Natur, die Flüsse, die
Gewässer … die frische Luft, das Sonnenlicht. Das gibt einem
ein Gefühl des Neuanfangs … es gibt einem Hoffnung. Man
fühlt sich vollständig. (Van18, 410) Ich habe vor kurzem meinen Job gekündigt und angefangen spazieren zu
gehen… Wenn man in der Natur verloren geht, vergisst man sich
selbst und lernt von der Natur. […] Du musst deine Ordnung von
der Natur wiedererlangen. Das hilft dir, dich zu regenerieren. Das ist sehr
wichtig. (Van09, 529) Aufzuwachsen und immer auf die Berge zu blicken, hat wirklich viel von
meiner Art zu denken geprägt… Ich liebe die
Berge… so sehr, dass ich sogar ein Tattoo von ihnen auf meinem
Körper habe. (Van33, 666)
Die Humangeographie geht heute mehrheitlich davon aus, dass es „da draußen keine Natur“ gibt, die als „Fundament“ für menschliches Handeln fungieren könne, und dass jegliche Natur „radikal imaginiert, konstruiert und symbolisch aufgeladen“ ist (Swyngedouw, 2009, p. 378). Aufbauend auf dieser Einsicht haben wir in diesem Beitrag imaginäre Naturverhältnisse in Deutschland, Kanada und Singapur anhand von bildgestützten Interviews (Foto-Elizitation) untersucht. Hierbei stand die Frage im Mittelpunkt, welche Vorstellungen von Natur sich – unter Verwendung von Jacques Lacans Konzept des Imaginären – finden lassen und welche alltägliche Wirkmächtigkeit diese konstruierten Naturvorstellungen haben. Entgegen den potenziellen Verunsicherungen, die sich aus gesellschaftlichen Krisendiskursen rund um das „Ende der Natur“ etwa in Bezug auf Klimawandel, Umweltzerstörungen und ökologischem Raubbau ableiten ließen, konnten wir herausstellen, wie Subjekte über ein bestimmtes Bild von Natur zu ontologisch versichernden Vorstellungen über sich selbst und ihrer Umwelt gelangen. Dieser vermeintliche Widerspruch erinnert an ausgewählte Ergebnisse der Tourismusforschung, in denen entlang eines Lacan'schen Ansatzes untersucht wurde, inwiefern die „Wildnis“ bedeutungsvolle und damit „authentische“ Erfahrungen von Sicherheit und Geborgenheit in Naturtourist*innen hervorrufen kann, selbst wenn es an diesem Reiseziel per se nichts Authentisches gibt: „Auch wenn die unberührte Wildnis […] in keinem ‚wissenschaftlichen‘ oder ‚realen‘ Sinne existiert, hat sie dennoch die beabsichtigte Wirkung auf das touristische Subjekt“ (Vidon et al., 2018, p. 68, eigene Übersetzung).
Unser Beitrag erweitert diese Beobachtung der Tourismusforschung empirisch
und überträgt sie auf städtische Subjekte im Allgemeinen. Wir
konnten in unserem internationalen Vergleich zeigen, auf welche Weise die
Vorstellung einer vom Menschen losgelösten Natur bis heute
vielfältige und zugleich ähnlich emotional versichernde Wirkungen in
städtischen Subjekten freisetzt
Das Ziel dieses Beitrages war es, einige der Bedingungen dafür zu
identifizieren, wie Natur zu einem imaginären Bezugspunkt für
ontologische Sicherheit werden kann. Auf Basis der Interviews haben wir
dabei erstens herausgestellt, dass sich Natur in Distanz zum städtischen
Alltag konstituiert, was die Grundbedingung dafür bildet, um sie mit
bestimmten Qualitäten aufzuladen. Daran anschließend ist es
möglich, die Natur zu einem Rückzugsort werden zu lassen, den man
(gedanklich oder leibhaftig) bereisen kann, um sich eine Auszeit zu nehmen
und Abstand zum städtischen Alltag zu gewinnen. Schließlich haben
wir drittens herausgearbeitet, wie die Natur dadurch zu einem Ort der
Identifizierung für das Subjekt und genauer für dessen Idealbild
werden kann, indem sie einen Raum für Projektionen rund um Eigenschaften
wie Ausgewogenheit, Stabilität, Gesetzmäßigkeit und Harmonie
eröffnet, die das Subjekt als begehrenswert für sich selbst
erachtet. Somit lässt sich ein ähnliches Modell, wie Ann Dupuis und David C. Thorns (1998, p. 29) es hinsichtlich des Verhältnisses von
Wohnen bzw. Zuhause und ontologischer Sicherheit entwickelt haben, auch auf
das Verhältnis von (imaginärer) Natur und ontologischer Sicherheit
übertragen. Die Natur wirkt vor allem dann ontologisch versichernd, wenn
sie:
als Ort der Beständigkeit aufgefasst wird (der losgelöst vom
städtischen Alltag existiert); als (gedanklicher und leibhaftiger) Zufluchtsort dient, an den man sich frei
von den Zwängen fühlen kann, die einem von der (städtischen)
Gesellschaft auferlegt werden; als räumlicher Kontext fungiert, in dem alltägliche Routinen
ausgeführt werden (insbesondere während persönlicher Krisen); als sichere Basis herhält, um die herum Identitäten (und
Idealbilder) aufgebaut werden können.
Eine Forschung, die den Fokus darauflegt, unter welchen Bedingungen die
Natur zu einem imaginären Bezugspunkt für ontologische Sicherheit
wird, muss die möglichen Licht- und Schattenseiten zugleich in den Blick
nehmen, die mit imaginären Naturkonstruktionen einhergehen. Was bedeuten
unsere Forschungsergebnisse zur subjektiven ontologischen Versicherung durch
Imaginationen von Natur angesichts von Klimawandel und zunehmender
Umweltzerstörung weltweit?
Einerseits könnte man pessimistisch argumentieren, dass die Persistenz der Vorstellung einer „ersten“ Natur, die unabhängig vom menschlichen Handeln existiert und ontologisch versichernd ist, die politische Notwendigkeit und Handlungsbereitschaft schmälert, global wie lokal etwas gegen die weltweite Klimaerwärmung und die zerstörerischen Konsequenzen dessen zu unternehmen: „Auf diese Weise wird die Natur zur Ideologie schlechthin, da ihr leerer Bedeutungskern mit homogenisierten Generalisierungen gefüllt wird, was als Geste der Entpolitisierung schlechthin fungiert“ (Dash und Cater, 2015, p. 269, eigene Übersetzung; siehe auch Smith, 2008; Swyngedouw, 2011). In dieser Sichtweise haben die von uns untersuchten Imaginationen von Natur zwar eine ontologisch versichernde Funktion, könnten jedoch zugleich politisch lähmend auf Subjekte wirken. Imaginierte Natur liefe Gefahr, zu einer „zeitgenössischen Form des Opium des Volkes“ zu werden (siehe auch Swyngedouw, 2009).
Andererseits könnte gerade die ontologische Sicherheit, die Menschen durch ihre Imaginationen von Natur erfahren, sie dazu veranlassen, den Schutz ihrer imaginierten Natur als existenziellen Wert zu einem politischen Ziel zu machen. So argumentiert Rosa (2019, 463) in seiner kritischen Gesellschaftstheorie, dass gerade dort, wo der Mensch die Natur nicht instrumentell und zweckrational betrachtet, etwa als auszubeutende Ressource, sondern als „Resonanzsphäre“ emotional in großer Tiefe erlebt, auch ein geschärftes Umweltbewusstsein und modernisierungskritisches Handeln möglich wird.
Beide gesellschaftspolitischen Deutungen unserer empirischen Ergebnisse, die optimistische wie die pessimistische, sind gleichermaßen spekulativ und möglich. Um zu erfahren, welche Deutung die Oberhand behalten wird, sind weitere empirische Studien nötig.
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Die beiden Autor*innen haben den Artikel gemeinsam konzipiert. Die Datenanalyse wurde von LP durchgeführt.
Die Autor*innen erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.
Wir danken Miro Born, Janina Dobrusskin, Yannick Ecker, Carolin Genz und Ylva Kürten und Carlotta Reh für die Durchführung eines Großteils der Interviews, auf die wir uns in diesem Beitrag beziehen, Carl-Jan Dihlmann für seine Unterstützung als Forschungsassistent sowie Henning Füller für seine Unterstützung in der Frühphase des Forschungsprojekts „Geographische Imaginationen: Sicherheit und Unsicherheit im Generationenvergleich“ im DFG-geförderten Sonderforschungsbereich „Re-Figuration von Räumen“ (SFB 1265). Wir bedanken uns auch bei den Herausgebern des Special Issues Boris Michel und Jan Winkler sowie den anonymen Gutachter*innen für ihre sehr hilfreichen Hinweise und Kommentare zur Überarbeitung dieses Beitrages.
The research for this paper was funded by the DFG-funded collaborative research center “Re-Figuration of Spaces” (CRC 1265) with the grant no. 290045248.
This paper was edited by Nadine Marquardt and reviewed by two anonymous referees.