Karten sind machtgeladene Darstellungen des Raumes. Dementsprechend sind Praktiken des Kartierens, die in diesem Sammelband im Mittelpunkt stehen, eine Form der Machtausübung. Nachdem die kritische Kartographie, d.h. die Analyse von Karten als machtgeladene Repräsentationen der Welt, schon länger einen festen Platz im Kanon der Kritischen Geographie innehat (vgl. z.B. Glasze, 2009), geht diese Publikation nun also einen Schritt weiter und wendet sich Ansätzen und Methoden zu, die diese Machtmechanismen aktiv für ihre eigenen Sichtweisen und Anliegen aneignen und anwenden. Anhand von konkreten Beispielen werden Anregungen gegeben, wie solche „alternativen und gegenhegemonialen Praktiken des Kritischen Kartierens“ (Dammmann und Michel, 14) konzipiert und durchgeführt werden können. Dabei ist die methodische Spannbreite sehr weit und reicht von Performance-Workshops, die mit theatralischen und tanztherapeutischen Elementen arbeiten, bis hin zu Methoden der kritischen Analyse von quantitativen Geodaten.
Der Sammelband ist in vier Teile gegliedert, die jeweils einen spezifischen
Zugang zum Kritischen Kartieren behandeln: Die Beiträge des ersten Teils
beschäftigen sich mit partizipatorischen Ansätzen des Kartierens
bzw. des Umgangs mit Karten. Den Beginn machen drei Mitglieder des
kollektivs orangotango, das sich bereits mit zahlreichen
Kartierungsprojekten und der Veröffentlichung eines Bildbandes zum
Die Kapitel des zweiten Teils, in dem narratives Kartieren thematisiert wird, umfassen eine große Bandbreite von verschiedenen Themengebieten und Ansätzen. In den Beiträgen von Singer und Neuburger bzw. des AK Feministische Geographien werden Storymaps eingesetzt, um Gegennarrative zu hegemonialen, d.h. patriarchalen bzw. kolonialen, Erzählperspektiven zu entwickeln. Haferburg und Kraudzun nutzen Kritisches Kartieren von Mobilitäts(infra)strukturen als Grundlage für verkehrspolitische Interventionen. Zwei weitere Artikel (Beuer und Nöthen bzw. Pettig) beleuchten die künstlerisch-ästhetische Dimension des Kritischen Kartierens und zeigen, in welcher Weise Kartierungspraktiken nicht allein Repräsentationen von vorhandenen Raumerfahrungen sind, sondern auch neue Aufmerksamkeitsmuster und Sensibilitäten hervorrufen können.
Der Einsatz von Karten und Kartierungspraktiken im schulischen Unterricht
und der universitären Lehre bildet den Schwerpunkt des dritten Teils. So
präsentieren Orlowski und Geiselhart ein durchstrukturiertes Lehrkonzept
mit Übungen und Lehrzielen, das als Element einer
kritisch-kartographischen Methodenausbildung im Geographiestudium eingesetzt
werden kann. Schweizer und Gülgonen nutzen Kartierungen, um gemeinsam
mit Kindern deren Alltagsräume kritisch zu erkunden. Kollar und Laub
bewegen sich mit ihrem didaktischen Konzept im Schnittbereich zwischen
historischem Lernen und kritischer Kartographie, wenn sie sich
kartographisch den z. T. vergessenen Biographien von Holocaust-Opfern
nähern und z.B. ihre Flucht- und Deportationsrouten nachvollziehen.
Schreiber wiederum rückt in ihrem Artikel den Umgang mit den
unmittelbaren Lebensrealitäten der Schüler*innen in den Mittelpunkt,
die mithilfe von
Der letzte Teil widmet sich dem digitalen Kartieren und lotet die
Möglichkeiten und Herausforderungen von verschiedenen
Einsatzmöglichkeiten von Geoinformationssystemen für das Kritische
Kartieren aus. Bei Boos ermöglichen
Der Sammelband setzt also seinen Fokus sehr stark auf das „
Die Abgrenzung dessen, was noch zum Kritischen Kartieren gezählt wird, kann dabei Geschmacksache sein. Hier wird sie sehr weit ausgelegt und umfasst auch Praktiken, die m. E. passender als Visualisieren, Beschreiben oder Erzählen bezeichnet werden, da bei ihnen der konkrete Bezug zur Räumlichkeit der kartierten Phänomene nicht im Mittelpunkt steht. Und wie bei allen kritischen Ansätzen ist immer der spezifische Blickwinkel, d.h. die moralische Legitimität der vertretenen Position, ein unmittelbarer Bestandteil der Analyse. Denn natürlich können die hier dargestellten Ansätze auch von anderen Stimmen des politischen Diskurses genutzt werden: Auch ein Autoclub könnte z.B. eine „kritische“ Staukartierung durchführen, um zu zeigen, wie schlecht ausgebaut die Straßen sind. Selbsternannte „Patriot*innen“ könnten kartieren, in welchen Räumen sie sich kulturell nicht mehr „zu Hause“ fühlen. Kritisches Kartieren begibt sich bewusst in das politische Handgemenge, bezieht Stellung und reflektiert bzw. akzeptiert seine eigene Positionalität. Insofern kann es ein machtvolles Instrument sein, die eigene Umwelt zu erfahren und die eigene Stimme zu erheben. Was diese Stimme dann letztendlich zu sagen hat und welche Position sie im politischen Diskurs einnimmt, bleibt dabei allerdings offen.
Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.