Book review: Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform
Bätzing, W.: Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform, München, C. H. Beck, 302 ff., ISBN 978-3-406-74825-7, EUR 26,00, 2020.
Nicht viele Geographinnen oder Geographen haben es bisher geschafft, in einer Kolumne einer großen deutschen Tageszeitung zitiert zu werden. Eine solche Aufmerksamkeit auch außerhalb der Wissenschaften hat jetzt der Kulturgeograph Werner Bätzing mit seinem neuen Buch zum Landleben erfahren, das Anfang des Jahres im renommierten C. H. Beck Verlag erschienen ist. In einer Kolumne zum Stellenwert der Provinz in Deutschland nimmt der ehemalige Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl (2020) ganz ausdrücklich Bezug auf das neue Buch und beklagt den Niedergang des Landlebens mit einem Zitat aus Bätzings Werk: „In seinem Dorf wohnt man im Neubaugebiet am Dorfrand, der Arbeitsort liegt in der benachbarten Stadt, die Kinder gehen im Nachbardorf, später in der Kleinstadt zur Schule, eingekauft wird im Einkaufszentrum an der Kreuzung zweier Bundesstraßen, in der Freizeit sucht man entfernte Wälder und Seen auf“ (Bätzing, 2020:148).
Solche aktuellen Trends der Verstädterung des ländlichen Raums, gleichzeitig aber auch die aufkommende Sehnsucht nach einem „guten Leben“ auf dem Lande sind zwei Ausgangspunkte für Werner Bätzing, auf rund 300 Seiten seine langjährige wissenschaftliche Erfahrung mit dem Alpenraum und der Region Franken in einem Buch zum Landleben aufzuarbeiten. Aber nicht nur seine vielfältigen wissenschaftlichen Erkenntnisse stecken in diesem Buch. Vielmehr vermittelt Bätzing seiner Leserschaft ganz offen, dass er schon seit seiner Kindheit und Jugend dem ländlichen Raum in Nordhessen verbunden ist und so bereits seit langem eine große Sympathie für die Charakteristika des Landlebens mitbringt – der größeren Naturnähe, der geringeren Arbeitsteilung und der größeren sozialen Nähe gegenüber dem städtischen Leben, wie er es in den drei für ihn zentralen Eigenschaften zusammenfasst. Bätzing geht auf den 300 Seiten mit Herzblut der Grundfrage nach, wie sich das Landleben unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im europäischen Kontext entwickelt hat: „Gibt es den ländlichen Raum als dezentralen Lebens- und Wirtschaftsraum mit einem spezifischen Landleben überhaupt noch, und hat er noch eine Zukunft? Oder ist er nur noch ein Ergänzungsraum für die städtischen Regionen in Bezug auf die Funktionen Naturschutz und Freizeit?“ (Bätzing, 2020:211).
Für die Beantwortung dieser Fragen holt Bätzing weit aus – für manche Leserin oder manchen Leser vielleicht sogar etwas zu weit. So ist das Buch in seinen acht Kapiteln historisch aufgebaut und beginnt in der Zeit zwischen 10 000 und 5000 v. Chr. mit dem Entstehen von Landwirtschaft und Sesshaftigkeit. Bauerngesellschaften mit dezentralen Siedlungsstrukturen werden hier im zweiten Abschnitt beschrieben. Dörfer mit eigenen Identitäten, Traditionen und Dialekten haben sich nach Bätzing bereits in dieser Zeit herausgebildet, die bis heute das Landleben auf der gesamten Erde prägen würden – eine durchaus diskutable Aussage im fortschreitenden Strukturwandel der Gesellschaft, in der lokale und regionale Eigenheiten lange an Stellenwert verloren haben.
Entsprechend historisch hergeleitete Erklärungen für die verschiedenen Facetten des heutigen Landlebens werden dann auch in den weiteren Abschnitten gesucht. So wird etwa im dritten Abschnitt ausführlich beschrieben, wie sich mit der Gründung der ersten Städte Unterschiede zwischen dem Leben auf dem Land und dem Leben in der Stadt herausbilden. Damit verbundene Arbeitsteilungen, Spezialisierungen und Ausdifferenzierungen der verschiedenen Funktionen werden für die Städte konstatiert, wohingegen das Land in dieser Zeit „für Selbstversorgung ohne Arbeitsteilungen und Spezialisierungen, für eine räumliche Einheit von Leben und Wirtschaften in überschaubaren Größenordnungen, für ein generationsübergreifendes Wirtschaften, für traditionellen Hausverstand, für ein Leben in Selbstgenügsamkeit ohne Reichtum, für egalitäre Strukturen und für Naturnähe, also für das Wissen um die Notwendigkeit der ökologischen Reproduktion der Kulturlandschaft“ (Bätzing, 2020:66) steht. Diese idealisierten Eigenschaften des ländlichen Raums greift Bätzing dann im achten Kapitel auf und bezieht sie auf die heutige Zeit. Sie dienen ihm einerseits als Begründungen für heute noch festzustellende Unterschiede für ein Land- bzw. Stadtleben, das sich „durch eine größere bzw. geringere Naturnähe, durch geringfügiger bzw. stärker ausgeprägte Arbeitsteilungen sowie durch eine größere bzw. geringere soziale Nähe“ (Bätzing, 2020:221) unterscheidet, werden von ihm andererseits aber auch etwas moralisierend als Erfahrungen aufgefasst, die zukünftig selbstzerstörerischen Kräften für Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft Einhalt gebieten können. So brauche es schließlich „die komplementäre Ergänzung von Land und Stadt“ (Bätzing, 2020:226), um die großen Fortschritte in der Geschichte der Menschheit zu sichern. Schon hier wird deutlich, dass sich Bätzing in seinem Buch sehr engagiert und bewusst parteiisch für die Vorzüge eines Landlebens in Deutschland einsetzt.
Im vierten Abschnitt argumentiert er dann weiter historisch mit den Strukturen des Landlebens im mittelalterlichen Europa, die in Reliktformen bis in die Gegenwart hinein Siedlungen und Kulturlandschaften prägen würden. Allerdings haben die jüngeren Entwicklungen hin zu einer Intensivlandwirtschaft das Erscheinungsbild einer ländlichen Kulturlandschaft doch erheblich verändert, hat die jüngere Siedlungstätigkeit die traditionellen Dorfbilder weitgehend aufgelöst. Wie an vielen Stellen im Buch wird nach meiner Einschätzung hier zu stark die Rolle der Landwirtschaft betont, die heute auch im ländlichen Raum an Prägekraft eingebüßt hat und inzwischen nur noch 1,4 % aller Erwerbstätigen und 0,9 % der gesamten Wertschöpfung in Deutschland ausmacht.
Der fünfte Abschnitt bezieht sich auf die Auswirkungen der industriellen Revolution auf das Landleben. Mit der Konzentration der Industrialisierung auf urbane Räume entstehen tiefe Gräben zwischen ländlichem und städtischem Leben mit einer wirtschaftlichen Entwertung und Abkopplung des Landes vom wirtschaftlichen Fortschritt. Die Dorfgemeinschaften werden geschwächt, gewisse Abwehrhaltungen gegenüber der modernen Welt prägen das Landleben. Dem konkreten Landleben stellt Bätzing in seinem Buch aber auch immer wieder die Bewertung desselben durch Außenstehende gegenüber. Und hier zeigt sich in diesem Zeitabschnitt als neue Wahrnehmung die „schöne Landschaft“, deren Bewunderung sich im Bürgertum herausbildet und bis heute den Blick des Städters auf das Land beeinflusst.
Im sechsten Kapitel geht Werner Bätzing recht kritisch mit der fortschreitenden Modernisierung des westdeutschen Landlebens in den 1970er und 1980er Jahren um. Auch hier beschreibt er mit den Betriebsvergrößerungen und -spezialisierungen zunächst die Entwicklungen in der Landwirtschaft, die das soziale Landleben und die traditionelle Kulturlandschaft – etwa bei Flurbereinigungen – beeinträchtigen. Mehr und mehr verändern Industrie und Dienstleistungen in dieser Zeit das klassische Landleben. Staatliche Interventionen etwa in Form von Schul- und Gebietsreformen oder die Konzepte der Raumordnung zum Abbau von Benachteiligungen im ländlichen Raum beurteilt Bätzing sehr skeptisch. Vieles führt er in seiner Argumentation recht prominent auf die Leitideen der „Charta von Athen“ zurück, die die Autoren zwar eher auf städtische Räume gemünzt hatten, die Bätzing aber ein Dorn im Auge sind, weil sie seinem ganzheitlichen Gegenmodell eines multifunktionalen Landlebens widersprechen.
Im siebten Kapitel beschreibt Werner Bätzing schließlich die jüngeren Entwicklungen im ländlichen Raum. Ein neues Verständnis von Region und Regionalität, eine Neubewertung integrativer und partizipativer Ansätze stimmen ihn hoffnungsfroh, der schleichenden Entwertung des Landlebens etwas entgegenzusetzen. Eine ökologische Landwirtschaft und die Verbreitung von regionalen Produkten treten neben die hochtechnisierte Landwirtschaft, Hidden Champions neben die Logistikdienstleister an den Autobahnkreuzen. Hier entwickeln sich Ansatzpunkte für eine eigenständige Regionalentwicklung, denen allerdings Bevölkerungsverluste, die Ausdünnung von Einrichtungen der Daseinsvorsorge und die Herausbildung neuer Lebensstilgruppen gegenüberstehen.
Im achten Abschnitt zieht Bätzing schließlich Bilanz: Das Landleben ist für ihn unverzichtbar, weil man dort das Leben in seiner Gesamtheit wahrnehme und täglich erfahre, „dass und wie Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft miteinander verflochten sind, und welche fatalen Auswirkungen entstehen, wenn man dies nicht beachtet“ (Bätzing, 2020:225). Nach sechs Szenarien zur Zukunft des Landlebens schließt Bätzing mit fünf Leitideen zur Stärkung ländlicher Umwelt, Wirtschafts- und Lebensformen. Dazu gehören die kulturelle Identität als Schlüsselfaktor, die wirtschaftliche Stärkung auf Grundlage regionaler Potenziale, die Stärkung ländlicher Infrastrukturen, neue Raumstrukturen für das Landleben sowie unterschiedliche Schwerpunkte für die verschiedenen Typen ländlicher Räume. Diese Ideen werden in ambitionierter Weise in der Überzeugung vorgebracht, dass das Landleben kein nostalgisches Relikt der Vergangenheit ist, sondern unverzichtbarer Teil einer modernen Welt.
Bei aller Sympathie für die engagierten Argumentationen hege ich gegenüber der bewussten und durchgängigen Verwendung des Begriffs „ländlicher Raum“ im Singular doch Vorbehalte. Bätzing stellt sich damit bewusst gegen den augenblicklichen Konsens in den Raumwissenschaften, ländliche Räume im Plural zu nutzen (Mose, 2018), obwohl er selbst mehrfach auf fünf Typen von ländlichen Räumen verweist und diese Unterschiede dann auch in seine eigenen Argumentationen einfließen lässt. Ländliche Räume in der Nähe von Agglomerationsräumen sind schließlich um ein Vielfaches stärker von städtischen Einflüssen geprägt als ländliche Räume in der Peripherie. Strukturschwache ländliche Räume sind ganz anders von Arbeitslosigkeit oder Einkommensschwäche betroffen als prosperierende ländliche Räume. So gibt es in Deutschland ländliche Räume mit der Notwendigkeit staatlicher Unterstützung, um gleichwertige Lebensverhältnisse anzustreben, und andere, in denen die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger ihre Regionen mit großem Selbstbewusstsein erfolgreich selbst gestalten. Die schlichte Polarisierung von Stadt und Land trägt deshalb meiner Ansicht nach heute nicht mehr, doch genau hier ist Bätzing ganz anderer Meinung und fordert konsequent eine gemeinsame und einheitliche Strategie für alle ländlichen Räume.
Abschließend bleibt festzuhalten: Es handelt sich um ein wissenschaftliches Lebenswerk, in dem Werner Bätzing durchweg kompetent und konsistent, dauerhaft klug und klar argumentiert. Sein außerordentliches Engagement und seine stellenweise etwas idealistischen Überzeugungen sind von der ersten bis zur letzten Seite des Buchs spürbar und machen die Lektüre zu einer großen Freude – es ist wahrlich kein typischer wissenschaftlicher Text entstanden, wie Bätzing selbst manche Publikationen seiner Kolleginnen und Kollegen kritisiert als „blasse, blutleere und langweilige Darstellungen, die dem spannungsvollen Thema Landleben nicht gerecht werden“ (Bätzing, 2020:252). Auch wenn nicht alle Leserinnen und Leser alle Einschätzungen teilen werden, so ist doch ein außergewöhnlich anregendes Buch entstanden, das sich von den stromlinienförmig auf hohe Zitationsindizes ausgerichteten Beiträgen in manchen Fachzeitschriften in erfrischender Weise absetzt und in dem die jahrelange Beschäftigung Werner Bätzings mit der Kategorie der ländlichen Räume eindrucksvoll zusammengeführt wird. Das Werk ist für die aktuelle Debatte und Diskussion über das Leben auf dem Lande sehr empfehlenswert und wird nicht ohne Grund in der Kolumne einer großen Zeitung wahrgenommen.