Book review: Rechtes Denken, rechte Räume? Demokratiefeindliche Entwicklungen und ihre räumlichen Kontexte
Berg, L. und Üblacker, J. (Hrsg.): Rechtes Denken, rechte Räume? Demokratiefeindliche Entwicklungen und ihre räumlichen Kontexte, Bielefeld, transcript, 286 ff., ISBN: 978-3-8376-5108-9, EUR 29,00, 2020.
Ob völkische Siedler, die in abgelegenen Dörfern tanzend Bänder um den Maibaum flechten (Röpke und Speit, 2019:159–160), Identitäre, die das Brandenburger Tor in Abschottungsforderungen hüllen (Memarina, 2016), oder 4 803 902 Wähler_innen (Der Bundeswahlleiter, 2022), welche zahlreiche Bereiche der Bundestagswahlkarte 2021 AfD-blau einfärben – rechtsextremistische bzw. -populistische Akteur_innen vereinnahmen aktuell die unterschiedlichsten Räume. „Geländegewinne[n]“ (Quent und Schulz, 2015:27) wie diesen nimmt sich der von Lynn Berg und Jan Üblacker 2021 herausgegebene Sammelband „Rechtes Denken, rechte Räume?“ explizit an. Während sich viele raumsensible Analysen rechter Phänomene auf Raumeinheiten wie ost-west-differenzierte Wahlkreise konzentrieren (exemplarisch s. Franz et al., 2018; Grözinger, 2017), betrachten die 26 Autor_innen aus den Bereichen Humangeographie, Raumsoziologie sowie Politikwissenschaften in zwölf Artikeln und drei Interviews kleinräumliche Zusammenhänge. In drei Teilen nehmen sie uns mit in Wohnquartiere mit Geflüchtetenunterkünften, digitale Nachbarschaften und gentrifizierte Großstädte, führen uns in Garagenhöfe, peripherisierte Dörfer und diskursiv produzierte ‚national befreite Zonen‘.
Den drei Hauptteilen des Sammelbandes vorgestellt sind – neben eines Geleitwortes Wilhelm Heitmeyers – zwei rahmende Beiträge Lynn Bergs und Jan Üblackers. In diesen stellen sie Verräumlichungen des Diskurses um Rechtsextremismus bzw. Rechtspopulismus vor und zeigen auf, wie der Sammelband an die bestehende Debatte anschließt. Zentral ist hier sowohl, wie die Entstehung rechter Wahlentscheidungen und Einstellungen durch räumliche Kontexte beeinflusst wird, als auch, wie rechte Räume durch Handlungen und Orientierungen produziert werden und wie in der Praxis rechtem Denken und Wirken demokratiefördernd begegnet werden kann (S. 9–11). Des Weiteren geben sie durch eine umfangreiche Literaturrecherche zu Zusammenhängen zwischen Raum und rechten Einstellungen eine systematische Einführung in bisherige Wissensbestände im europäischen Kontext (S. 18). Zur Genese rechter Räume tragen – neben Gewalt, Diskriminierung und dem Engagement in einer rechtsextremen bzw. -populistischen Organisation – auch diskursive Beteiligung und rechtspopulistische Wahlentscheidungen bei (S. 36), welche im Sammelband aufgegriffen und in ihren lokalen Ausprägungen untersucht werden.
Im ersten Teil des Sammelbandes werden die Hintergründe rechter Orientierungen in ihren räumlichen Kontexten betrachtet. Mary Dellenbaugh-Losse, Jamela Homeyer, Julia Leser und Rebecca Pates werfen unter anderem in drei Gemeinden Thüringens einen Blick darauf, wie „Ausschlussmechanismen bei Appellen an die Nation“ (S. 68) auftreten und mit welchen lokalen Herausforderungen sich die Bevölkerung konfrontiert sieht. Ihre Gruppeninterviews zeigen, dass lokale politische Traditionslinien entscheidend dafür sein können, ob Rechtspopulismus in peripherisierten Orten Fuß fasst (S. 71). Für zwei Wohngebiete Hamburgs stellen Jürgen Friedrichs (†), Felix Leßke und Vera Schwarzenberg mithilfe einer quantitativen Befragung fest, dass Bewohner_innen in der Nähe von Flüchtlingsunterkünften Geflüchteten alles in allem positiv gegenüberstehen, wobei das ökonomisch stärkere Wohngebiet etwas toleranter abschneidet. Allerdings spielt neben der wirtschaftlichen vor allem die kulturelle Bedrohung, die „Furcht um die eigenen Werte und den gesellschaftlichen Zusammenhalt“ (S. 103), für die Ablehnung von Geflüchteten eine zentrale Rolle. Ebenfalls aus quantitativer Perspektive beobachten Jan Üblacker, Saskia Kretschmer und Tim Lukas für die Städte Leipzig, München und Düsseldorf, dass Personen, die ökonomische Ängste empfinden, eher der AfD zustimmen. Wider Erwarten schwächt wahrgenommene Gentrifizierung jedoch diesen Zusammenhang ab (S. 121). Nachfolgend untersuchen Anna Becker, Franziska Schreiber und Hannah Göppert qualitativ, wie der hybride Sozialraum, der Nexus lokalisierter digitaler Gruppen und analoger Nachbarschaften, auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt wirkt (S. 132–133, 144–145). Sind politische Aushandlungen im digitalen Raum tabuisiert, so wird die analoge Vernetzung unterstützt, wie der Fall München zeigt. Werden allerdings politische Positionen vor dem Hintergrund einer geringeren Hemmschwelle des digitalen Raums offengelegt und dominiert wie im Falle der Stadt Meißen eine rechtspopulistische Stimmung, kann dies zu Ausschlussprozessen im analogen Miteinander führen (S. 145).
Der zweite Teil ist gesellschaftlichen Konstruktionen rechter Räume gewidmet. Titus Simon beschreibt in seinem Beitrag, inwiefern peripherisierte ländliche Räume für die Raumaneignungsstrategien rechtsextremer Gruppen anfällig sind. So bieten jene Räume für Rechtsextreme das Potenzial, sich als engagierte Personen, die sich um lokale Belange kümmern, zu etablieren (S. 163). Auch ein geringer Widerstand der lokalen Bevölkerung mache es für rechte Siedler_innen attraktiv, in ländlichen Räumen ihren völkischen Brauchtümern nachzugehen (S. 169). Peter Bescherer und Robert Feustel zeigen mit ihrer qualitativen Analyse, wie ein Garagenhof in Leipzig Aushandlungsort eines territorialen Konfliktes wird, in dem die AfD als Fürsprecherin der Hofnutzer_innen auftritt. Nicht alle Garagenbesitzenden stimmen mit der Ideologie der AfD überein, aber da sich sonst keine andere Partei für sie ausspricht, instrumentalisieren sie die Instrumentalisierer_innen (S. 179). Welcher Strategien sich lokale Rechtsextremist_innen bedienen, um Dortmund-Dorstfeld als ‚national befreite Zone‘ zu inszenieren, stellt Susanne Kubiak mittels einer Diskursanalyse dar (S. 200, 205). Auch lokale Medien spiegeln Dorstfeld als ‚rechten Raum‘ wider und tragen damit zur räumlich-diskursiven Hegemonie rechtsextremer Gruppen bei (S. 216). Dagegen beschreiben Kevin Brandt, Milena Durczak, Gerrit Tiefenthal und Tatiana Zimenkova, wie mit dem Projekt ZuNaMi – „Zusammenhaltsnarrative miteinander erarbeiten“ (S. 223) – Räume entstehen, die als kreativer Ausgangspunkt für Gegengewichte zu rechten Räumen fungieren. Es sind urbane Räume des Gehörtwerdens, aber auch der Sprachfähigkeit aller und Partizipation engagierter Bürger_innen. Diese handeln dort mittels lokaler Expertise sozial-gerechte und inklusive Raumstrukturierungen gemeinsam aus, um schließlich praktisch mit städtischen Institutionen zusammen zu kommen (S. 238–239).
An diesen proaktiven Tenor anknüpfend stellen Lynn Berg und Jan Üblacker im dritten Teil entlang dreier Interviews Akteur_innen und Institutionen vor, mithilfe derer in kleinräumlichem Kontext rechtsextremistischen bzw. -populistischen Aneignungsprozessen entgegengetreten und eine demokratische Kultur vor Ort gefördert werden kann. Zunächst stellt Heiko Klare die Aufgaben und Angebote der Mobilen Beratungen gegen Rechtsextremismus vor (S. 247–254). Anschließend beschreibt Henriette Reker als Oberbürgermeisterin der Stadt Köln, wie sie durch Bürger_innenbeteiligungsprozesse die Interessen der lokalen Bevölkerung ernstnehmen sowie Demokratie auch auf kleinräumlicher Ebene leben möchte (S. 255–261). Der Konfliktberater Kurt Faller stellt schließlich dar, wie mit ethnisch konnotierten Konflikten, wie durch Ausländer_innen begangene Tötungsdelikte und eine ggf. darauffolgende Instrumentalisierung der Tat durch Rechtsextreme, umgegangen werden kann (S. 263–270). Insbesondere der Abschluss des Bandes sorgt dafür, dass akademische wie nicht-akademische Lesende nicht nur mit reinem Faktenwissen aus der Lektüre in die Welt hinausgehen. Stattdessen werden ihnen Ideen und konkrete Anlaufstellen angeboten, die sie dazu ermutigen, sich in ihrem Alltag für demokratische Werte einzusetzen. Deutlich wird hier, dass Lynn Berg und Jan Üblacker mit dem Sammelband nicht nur das Ziel verfolgen, einem sozialwissenschaftlichen Fachpublikum Wissen zu vermitteln, sondern auch transformativ in die Gesellschaft hineinzuwirken (S. 271).
Positiv ist ebenfalls hervorzuheben, dass die Herausgebenden um eine Vielfalt der Perspektiven bemüht waren. Dies zeigt sich zum einen in der methodischen Bandbreite der Beiträge, die neben quantitativ deskriptiven sowie regressionsanalytischen Instrumenten auch qualitative Interviewstudien, diskursanalytische und praktisch-partizipative Formate vorstellen. Insbesondere vor dem Hintergrund paradigmatischer Grenzziehungen in den Gesellschaftswissenschaften (Rudolfi 2017) trägt der Sammelband dazu bei, den Wert des Zusammenspiels unterschiedlicher methodologischer Perspektiven für den kollektiven Erkenntnisprozess und letztendlich das Verstehen der Phänomene des Rechtsextremismus/-populismus zu begreifen.
Zum anderen trägt der Sammelband verschiedenste Arten von Räumen zusammen. Von Großstädten, wie Leipzig und Düsseldorf, über Mittelstädte, wie Meißen und Altenburg, bis hin zu kleinen Dörfern werden unterschiedliche Siedlungstypen analysiert. Auch noch kleinräumlichere Formate wie Stadtteile, Wohnquartiere und einzelne Nachbarschaften sind vertreten. Darüber hinaus wird Raum nicht nur im materiellen Sinne, sondern auch als analog-digitaler Hybrid oder diskursiv gefasst. Der Band trägt mit diesem Facettenreichtum gekonnt zum breiten Verständnis des Phänomens rechter Räume bei, ohne dabei seinen Fokus zu verlieren: die kleinräumliche Betrachtung. Eine Stärke dieser ist ihre Konkretheit, die durch ihre analytische Spezifität detailliertere Aussagen über Zusammenhänge möglich macht – wofür der Mangel an Verallgemeinerung der Ergebnisse gern in Kauf genommen wird.
Wünschenswert wäre allerdings gewesen, mit derselben Differenziertheit, wie hier Großstädte betrachtet wurden, auch sehr ländlichen Räumen zu begegnen. Während Städte wie Leipzig oder München gleich in mehreren Artikeln für sich untersucht wurden, fehlt es an intensiven fallspezifischen Analysen von Dörfern. Teilweise finden sich unbelegte Aussagen über ländliche Räume, die potenziell stigmatisierend wirken, wie etwa: „Der ländliche Raum ist vielerorts von Haltungen geprägt, die Anknüpfungspunkte zum Rechtsextremismus bieten. Dies äußert sich in ausgeprägten Abschottungsbedürfnissen, die mit Fremdenfeindlichkeit einhergehen“ (S. 163). Einer (potenziellen) Heterogenität sehr ländlicher Räume wurde letztlich nicht Rechnung getragen. Des Weiteren wurden die Analysen zwar in der Regel theoretisch sehr gut eingebettet, teilweise wurde allerdings versäumt, an bestehende, aktuelle und ebenfalls kleinräumliche Analysen anzuknüpfen. Angeboten hätten sich beispielsweise Arbeiten zu Zusammenhängen von Gentrifizierung und Rechtspopulismuszuspruch, die teils sogar in denselben Städten durchgeführt wurden (s. etwa für Leipzig: Mullis und Zschocke, 2019).
Alles in allem ist der Sammelband eine lohnende Lektüre – nicht nur für im Feld der raumsensiblen Rechtsextremismusforschung bzw. Rechtspopulismusforschung Tätigen, sondern auch für nicht-akademisch Interessierte, die dem Zusammenhang zwischen Raum und rechtem Denken auf den Grund gehen wollen.