Book Review: Sicherheit. Rassismuskritische und feministische Beiträge
Laufenberg, M. und Thompson, V. (Hrsg.): Sicherheit. Rassismuskritische und feministische Beiträge, Münster, Westfälisches Dampfboot, 388 ff., ISBN 978-3-89691-249-7, EUR 38,00, 2021.
Wer fühlt sich wo sicher und geborgen, wer unsicher? Worin besteht diese gefühlte und verkörperte Unsicherheit? Bei welchen Begegnungen tritt Unsicherheit hervor, wann wird sie zu einer Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit und wie lassen sich die Ursachen eben dieser Unsicherheit abmildern oder gar kraftvoll zurückzudrängen? Wichtige Antworten auf diese für viele tagtäglich sehr bedeutsamen und existenziellen Fragen enthält der von Mike Laufenberg und Vanessa E. Thompson vorgelegte Sammelband zum Thema „Sicherheit“. Als solches ist er ein ambitioniertes Projekt und zugleich notwendiger Aufschlag für gesellschaftlich drängende Fragen, neue Perspektiven und vor allem Kritiken an hegemonial-tradierten Verständnissen von Sicherheit.
Die insgesamt 14 Beiträge, die dieser Sammelband vereint, sind in fünf verschiedenen Oberthemen untergebracht, die die große Spannweite an Themen und Facetten bereits sehr eindrücklich illustrieren. Angefangen von einer „Kritik des Polizierens“ (Abschnitt 1), „Schwarze und abolitionistische Kritik an rassifizierter Un-/Sicherheit“ (Abschnitt 2), „Versicherheitlichung von Migration“ (Abschnitt 3), „Queere, trans und nicht-binäre Kritik von Un-/Sicherheit“ (Abschnitt 4) und „Sexualisierte/geschlechtsbasierte Gewalt und Sicherheit“ (Abschnitt 5) vereint dieser Sammelband in einer sehr gelungenen Weise die Expertise von kritischen Sozialwissenschaftler*innen, Geograph*innen, Rechtswissenschaftler*innen, Politolog*innen, Ethnolog*innen und Islamwissenschaftler*innen aus Deutschland, Österreich, Niederlanden, England, USA, Kanada und Brasilien und macht deren reiches Erfahrungs- und Expert*innenwissen zugänglich für ein deutschsprachiges Publikum. Dies ist vor allem auch deshalb sehr eindrucksvoll, da einige der Beitragenden (wie etwa Ruth Wilson Gilmore) keine Muttersprachler*innen sind und ihre Texte für einen Abdruck im Rahmen dieses Sammelbandes eigens ins Deutsche übersetzt wurden. Was alle Beiträge neben der gemeinsamen Schriftsprache Deutsch noch eint, ist, dass sich ihre innere Logik entlang von drei Schwerpunkten orientiert, die diese durch die Kapitel miteinander zu verbinden sucht. Hierzu zählen
-
die gesellschaftstheoretische Rekonstruktion von Sicherheit als Leitmotiv kapitalistischer Vergesellschaftung,
-
die Analyse der differentiellen, gewaltvollen und potenziell tödlichen Strukturen von Diskursen und Politiken der Sicherheit und
-
die Suche nach alternativen, weniger gewaltvollen Verständnissen und Praktiken der Sicherheit, wie sie in abolitionistischen, sorgezentrierten und transformativen Gerechtigkeitskonzepten aufscheinen, die in Schwarzen, dekolonialen, feministischen, queeren und trans Bewegungen entwickelt wurden (vgl. S. 12).
Neben diesen drei Leitlinien der Dekonstruktion von Un-/Sicherheit situieren die meisten der Beitragenden sich und ihre Forschung als verwoben mit und/oder inspiriert von neueren sowie bereits sehr lange bestehenden weltweiten, gesellschaftlichen Bewegungen – wie etwa #EndSARS in Nigeria, Kenia und Kolumbien, innerstädtische Anti-Regime-Interventionen in Istanbul, Kairo, Rio de Janeiro und Honkong oder der Black-Lives-Matter-Proteste in den USA. Die im Band versammelten Beiträge positionieren sich damit einerseits sowohl offen gegen Polizeigewalt und richten sich andererseits aber auch mit einem herrschaftskritischen Impetus dezidiert gegen jede Form von staatlichen, legalen, extra-legalen und externalisierten Sicherheitspolitiken – und betreten dabei auch theoretisch wie konzeptionell neues Terrain in der deutschsprachigen Sicherheitsforschung. Dies geschieht auf mehreren Ebenen. So vereint der Band nicht nur sehr wichtige gesellschaftspolitische Interventionen, sondern bietet als Analyse bestehender, häufig unausgesprochener Schieflagen, Ausgrenzungen und epistemischer Gewalt aktueller Schauplätze gesellschaftlich wie institutionell produzierter Un-/Sicherheit auch neue Deutungsfolien. Vor allem die von Eddie Bruce-Jones, Noémi Michel, Daniel Loick, Francis Seek und Tamás Jules Fütty herausgearbeiteten postkolonialen, rassismuskritischen, queeren und schwarz-politischen Interventionen befragen bisherige Ansätze in der sozial- und politikwissenschaftlichen Sicherheitsforschung kritisch wie produktiv nach ihren Auslassungen und eklatanten Leerstellen in bisherigen Verständnissen, Konzepten und Theorien von Sicherheit. Andere Beiträge, wie etwa die von Ruth Wilson Gilmore, Vanessa E. Thompson und Melanie Brazzell, richten sich ganz im Kontext der abolitionistischen Wende dezidiert gegen die spätkapitalistische Sicherheitslogik des „racial capitalism“ (Robinson, 1983; Gilmore, 2007; Bhattacharyya, 2018), nach welcher bestimmte Subjekte und Gruppen „nicht nur von den Fluchtlinien der Sicherheit abgeschnitten sind, sondern zugleich als ‚Gefahr‘ für die öffentliche, zivile und nationale Sicherheit konstruiert und auf dieser Basis poliziert [und ausgebeutet] werden“ (S. 7). Hierdurch zeigen diese Beiträge auf, welche Möglichkeiten der Überwindung sich imaginieren und wie erkämpfen lassen, beispielsweise durch die Herstellung transformativer Gerechtigkeit als „positive Sicherheit“ (Brazzell, 2021).
Warum eine solche Imagination positiver Zukünfte wichtig und für Mehrfachmarginalisierte (lebens-)notwendig ist, verdeutlichen nicht zuletzt auch alle anderen Beiträge des Bandes (verfasst von Jan Simon Hutta, Katharina Miko-Schefzig, Anna-Maria Meuth, Diana Sherzada und Tanja Scheiterbauer). Mit ihren je eigenen Fallbeispielen und Fokussen skizzieren sie ebenfalls sehr eindrucksvoll, inwiefern spezifische Gruppen entlang historisch-politischer Kontinuitäten von Gewaltverhältnissen unterschiedlich angerufen und positioniert werden und sich dabei häufig die, die zu schützen sind, mit denjenigen, die diesen Schutz nicht in Anspruch nehmen können (da sie selbst als Gefahr gelten), gegenüber stehen und damit unweigerlich zur Zielscheibe von Sicherheitsmaßnahmen werden (siehe auch S. 20f.).
Für Mike Laufenberg und Vanessa E. Thompson bedeutet dies, dass eine kritische Analyse der Sicherheit diese konsequent sowohl in ihren karzeralen, historischen Kontinuitäten und Verwobenheiten, aber auch in ihren intersektional unterschiedlichen Verschränkungen von Betroffenheit neu denken und verhandeln muss, und dass dabei auch die Wirkweisen souveräner Macht eine große Rolle spielen – wenn auch unter anderen Vorzeichen (S. 22). Ihr gemeinsam herausgegebener Sammelband vereint dafür wichtige Stimmen kritischer Forscher*innen, die in ihrer Gesamtheit viele wertvolle Impulse, eindrucksvolle empirische Fallbeispiele und konzeptionelle wie politisch-aktivistische Werkzeuge für dieses wichtige Anliegen liefern. Dass dieses emanzipatorische Projekt dabei unvermeidbar auch an eigene Grenzen der Umsetzung stößt, thematisieren die beiden Herausgeber*innen selbst sehr eindrücklich wie ausgewogen in ihrer Einführung, die neben einer umfassenden und sehr lesenswerten Kritik an gängigen bis hegemonial-gewordenen Konzepten und Ansätzen von „Sicherheit“ auch vor einem eigenen Ringen mit Grenzen der Umsetzbarkeit und Vollständigkeit nicht zurückschreckt (vgl. S. 42ff.). So wird etwa der Entstehungskontext des Bandes, eine gemeinsame Tagung aus dem Jahr 2017, als Ursprung und Startschuss dieses Zusammenschlusses genannt, der dann unvermeidbar durch die vielen Umbrüche und Mehrfachkrisen der Gegenwart immer wieder neu herausgefordert, aber auch durch weitere Debatten, Kämpfe und Widerstände gegen dieselben bereichert wurde. So sagen die Herausgeber*innen selbst: „Wenn diese Ungleichzeitigkeit die einzelnen Beiträge auch nicht weniger zeitgemäß macht, konnten die Autor*innen, und mit ihnen dieser Band, den dynamischen Literatur- und Debattenverlauf seit 2020 dennoch nicht mehr systematisch aufnehmen und einarbeiten.“ (ebd.).
Doch auch wenn die Anschläge in Halle und Hanau noch nicht geschehen und von einer globalen Pandemie und ihren gravierenden Langzeitfolgen noch wenig zu vernehmen war, haben die in dem Band versammelten Beiträge eine solche Strahlkraft, dass dieser Umstand für den Gehalt dieses Sammelbandes wenig ins Gewicht fällt. Zum einen, da Mike Laufenberg und Vanessa E. Thompson auch für die aktuelleren Entwicklungen zumindest schlaglichtartig einen Ausblick wagen, und zum anderen auch deshalb, weil das, was die beiden Herausgeber*innen vorlegen, insgesamt eine sehr durchdachte, emanzipatorisch anspruchsvolle und in der jetzigen Zeit besonders wertvolle Zusammenschau wichtiger Debatten und Konzepte ist, um Sicherheit rassismuskritisch wie feministisch neu zu justieren. Zweifellos wird der Sammelband auch für die nächsten Jahre ein wichtiger Bezugspunkt und Impulsgeber sein und die Debatten nachhaltig prägen.