Book review: Landschaft und Nation. Rhein – Dalarna – England
Etzemüller, T.: Landschaft und Nation. Rhein – Dalarna – England, Transcript Verlag, Bielefeld, 282 ff., Historie, Band 198, 69 Abbildungen, ISBN 978-3-8376-6100-2, EUR 39,00, 2022.
Landschaften sind beliebte Projektionsflächen nationaler Identitätskonstruktionen. In der Landschaft können die flüchtigen, historisch wandelbaren und konfliktbeladenen Vorstellungen dessen, was eine Nation vermeintlich ausmacht, quasi stillgelegt und mit dem Anspruch des Natürlichen und Ursprünglichen verbunden werden. Das kulturell und politisch Kontingente der nationalen Identität flüchtet sich gleichsam in die Landschaft hinein auf der Suche nach naturwüchsiger Stabilität und möglichst ungebrochener Kontinuität. Wie vielseitig und ambivalent die Zusammenhänge zwischen Landschaft und Nation sind und wie widersprüchlich die Zeitgenossen den historischen Wandel von Landschaften in der Moderne und dessen Beziehung zur Nation erfahren und gedeutet haben, steht im Zentrum des hier anzuzeigenden Buches von Thomas Etzemüller. Er untersucht anhand der drei „mythischen Landschaften“ des Mittelrheins, der schwedischen Provinz Dalarna und der englischen Countryside, wie die komplexen Erfahrungen der Moderne, die Konstruktion nationaler Identitäten und gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen sowie der Aufstieg des modernen Tourismus gleichsam in der Imagination der Landschaften verhandelt wurden.
Als „imaginary landscapes“ begriffen, macht sich Etzemüller der Geschichte dieser konstruierten Wahrnehmungen von Landschaften auf die Spur. Inspiriert von Georg Simmels konstruktivistischer Lesart der Landschaft, betont er das vielschichtige Wechselspiel zwischen den materiellen landschaftlichen Gegebenheiten und deren „Imaginationen“, in welchen „die Realität zugeschnitten, gerahmt und geformt“ wird und letztlich ein „Bild“ einer Landschaft entsteht, welches „nicht allein durch das beobachtete Objekt, sondern ebenso durch das beobachtende Subjekt geschaffen“ werde (S. 15–16). Mit dieser konzeptuellen Perspektive untersucht Etzemüller ein breites und vielgliedriges Quellenkorpus, das sich aus Reiseberichten, Reiseführern, Landschaftsbüchern, Heimatliteratur und visuellen Repräsentationen wie Gemälden, Lithografien und Fotografien zusammensetzt. Letztere werden im Band zahlreich und in guter Qualität abgebildet, in den Legenden konzise kommentiert und ihre Platzierung ist präzise auf den Argumentationsgang abgestimmt. Die Macht der Projektionen und Imaginationen der Landschaft wird so nicht nur durch die oft metaphorisch angereicherte Sprache der ausgiebig zitierten Autoren und Wissenschaftler nachvollziehbar, die über die drei untersuchten Landschaften schrieben, sondern auch über bildliche Darstellungen. Die Struktur des Buches folgt den drei Fallbeispielen, die durch eine instruktive Einleitung und ein sehr knappes Schlusskapitel gerahmt werden.
Etzemüllers konstruktivistische Perspektive auf Wahrnehmungen und Imaginationen der Landschaft erlaubt es, die hegemonialen und mythischen Zuschreibungen, die die kollektive Erinnerung an diese Räume prägen, zu de-zentrieren und verschüttete Bedeutungsschichten freizulegen. Die Vorstellung des „romantischen Rheins“ wird beispielsweise als zwar durchaus wirkmächtige, aber auch historisch situierte und mit anderen Imaginationen konkurrierende Vorstellung sichtbar. Der Rhein konnte am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch Projektionsfläche einer aufgeklärt-absolutistischen Wirtschaftspolitik sein, in der weniger Idylle, Landschaftsästhetik und Pittoreskes dominierte. Stattdessen wurde der Fluss als Möglichkeitsraum einer auf Fleiss und Arbeitsamkeit basierenden Wirtschaftsordnung verstanden. Schön war diese Landschaft in den Augen ökonomischer Aufklärer nicht, weil sie unberührt war, sondern weil sie kultiviert und bearbeitet wurde und weil sie als die materielle Grundlage dessen erschien, was sie mit wirtschaftlichem Fortschritt verbanden. Überlagert wurde diese „imaginary landscape“ wiederum von einer „metaphorischen und visuellen Architekturpolitik“ (S. 67) der preussischen Herrschaft, die im 19. Jahrhundert durch den Bau oder die Restauration von Burgen, Kirchen und Denkmälern eine Geschichtslandschaft konstruierte, in der sich preussischer Herrschaftsanspruch, romantisierende Naturvorstellungen und erfundene mittelalterliche Traditionen verschränkten. Auch dies blieb allerdings nicht ohne Ambivalenzen: Zur gleichen Zeit als die bürgerlichen und aristokratischen Eliten Preussens sich eine mittelalterliche Landschaft herbeiphantasierten, in der nicht zuletzt ihre Orientierung an feudalen Gesellschaftsordnungen zum Ausdruck gelangte, kündigten die entlang des Rheins gebauten Eisenbahnen und Fabriken sowie die ihn überkreuzenden Dampfschiffe schon den Anbruch des technisch-industriellen Zeitalters an. Zu dieser Bedeutungsschicht gesellte sich im 19. Jahrhundert zunehmend eine national-chauvinistische Politisierung, in welcher der Mittelrhein in konfliktreichen Imaginationen als „Deutschlands Strom“ oder „Frankreichs Grenze“, als europäische Kontaktzone oder Demarkationslinie zwischen germanischen und romanischen Kulturen betrachtet wurde. In jüngerer Zeit wiederum legte sich auf diesen schon vielschichtigen Imaginationsraum eine neue Folie drauf: Der Rhein wird gleichsam zur touristisch vermarktbaren Marke, zur Erlebnislandschaft, die den Fluss als ökologisch-ökonomische Managementaufgabe betrachtet und die Potenzen seiner Vermarktung in den Vordergrund stellt.
Ähnlich vielseitig wird die Landschaftsimagination der schwedischen Provinz Dalarna gezeichnet, wenn auch der Modus der Imagination hier anders gelagert erscheint. Dominiert in den Vorstellungswelten des Mittelrheins die konfliktreiche Schichtung unterschiedlicher Landschaftsimaginationen, sieht Etzemüller in Dalarna eine Landschaft, die gleichsam als Brennglas der schwedischen Nation erscheint. An der Landschaft dieser Region stritt sich die schwedische Gesellschaft über ihre ideale zukünftige Ordnung, mit einem Auge aber immer auf die Geschichte schielend. Dalarna war die imaginierte Urzelle der schwedischen Demokratie, bevölkert von freien und unabhängigen Bauernfamilien, die sich der industriellen Moderne nicht verschlossen, sondern mit ihr klarzukommen versuchten. Das war nicht zuletzt auch das Bild, das – bei allen Nuancen im Detail – sowohl die Künstler, Maler, Musiker und Schriftsteller zeichneten, die sich in der Provinz niederliessen, als auch die schwedischen Volkskundler, die in den 1920er und 1930er Jahren das Kulturerbe Dalarnas ethnografisch zu fassen versuchten und dabei zugleich an der sozialutopischen Vision einer klassenlosen, Industrie und bäuerliche Landwirtschaft vereinigenden Volksdemokratie bastelten. Insofern war die Landschaft Dalarnas nicht ein imaginierter rural-nostalgischer Fluchtraum vor den Verwerfungen der industriellen Moderne, sondern ein Modell moderner Gesellschaftsordnung.
Noch einmal anders präsentierten sich die dominanten Landschaftsimaginationen in England. Hier sieht Etzemüller ein komplexes Spiel dichotomischer Zuschreibungen am Werk, das er mit dem Begriff der „Kippfigur“ zu fassen versucht. Als frühindustrialisierte Gesellschaft, die ihren Aufstieg zur industriellen Hegemonie nicht zuletzt den Kohlerevieren und den Industriestädten im Norden verdankt, definierte (und definiert) sich England zugleich stark über ein Landschaftsideal, welches sich an der Countryside des Südens und am aristokratischen Lebensstil der Gentry orientiert. Als Projektionsfläche von Englishness ging diese Landschaftsimagination zugleich mit einer Reihe von Ausblendungen und Ausschlüssen einher. Von bitterer Armut betroffene Landarbeiter hatten begreiflicherweise Mühe damit, in den über die pastorale Landschaft mit ihren Villages und Cottages ziehenden Wolken etwas Pittoreskes zu sehen, wenn jeder Regenguss sie an die Löcher in ihrem Schuhwerk erinnerten. Im Imaginationsraum der englischen Landschaft traten solche soziale Konfliktlagen in der Countryside indes zurück, weil sie nicht den hegemonialen Dualismen gehorchten, welche die Moderne, die Stadt und die Industrie im Norden, die Vormoderne, die Villages und rurale Englishness hingegen im Süden verortete.
Insgesamt verdeutlichen die drei Fallstudien, dass der Wandel gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen, der Nationsbildung und der Landschaftsimaginationen zwar unablässig aufeinander verwiesen, aber kaum je in synchronen Entwicklungsmustern verliefen. Die daraus resultierenden Spannungen, das zeigt die Studie Etzemüllers eindrücklich, verwandelten Landschaften in ein Medium, in welchem die Zeitgenossen ihre vielschichtigen und konfliktreichen Erfahrungen mit dem rasanten sozioökonomischen Wandel in der industriegesellschaftlichen Moderne verhandelten und mit ihren Vorstellungen der Nation verbanden. Als konstruierte Bilder und präfigurierte Wahrnehmungsmuster gelesen, erweisen sich Landschaften damit als interessante historische Untersuchungsgegenstände, an denen sich gleichsam das Ringen moderner Industriegesellschaften mit den von ihnen selbst hervorgebrachten Verwerfungen untersuchen lässt. Die Schattenseite eines solch dezidiert konstruktivistischen Ansatzes besteht indes darin, dass die stoffliche und materielle Konstitution der Landschaft gänzlich aus dem Blickfeld verschwindet. Die in der Einleitung angekündigte Dialektik, wonach das Bild einer Landschaft „nicht allein durch das beobachtete Objekt, sondern ebenso durch das beobachtende Subjekt geschaffen“ werde, löst Etzemüller letztlich völlig zugunsten des beobachtenden Subjekts auf.
Wer sich an diesen konzeptuellen Einseitigkeiten nicht stört, findet in diesem Buch gleichwohl interessante kulturhistorische Analysen von Landschaften als imaginierten Räumen. In Bezug auf die Komposition des Buches anzumerken ist hingegen der etwas irritierende Umstand, dass der Zusammenhang zwischen den drei Untersuchungsräumen sehr unklar bleibt. Der Mittelrhein, Dalarna und die englische Countryside liefern drei Fallstudien, die letztlich merkwürdig unverbunden nebeneinanderstehen; das Buch zerfällt gleichsam in drei Teile, deren Zusammenhang nicht unmittelbar einsichtig ist und auch durch den Autor nicht hinreichend hergeleitet wird. Methodisch ist die Studie weder als ein Vergleich noch als eine Verflechtungsgeschichte konzipiert, denn weder definiert Etzemüller präzise analytische Vergleichskategorien, noch geht er systematisch den wechselseitigen Bezugnahmen der Landschaftsimaginationen nach. Zwar gibt es immer wieder Passagen, in denen er vergleichend argumentiert, aber dies ist oft eher erzählerisch motiviert als analytisch durchdekliniert. Obwohl das einleitend vorgestellte Konzept der imaginary landscapes durchaus überzeugt und sich in den jeweiligen Fallstudien fruchtbar operationalisieren lässt, vermag es nicht die nötige analytische Integrationskraft zu entwickeln, um die drei Fallstudien zusammenzubinden und dem Buch die nötige Kohärenz zu verleihen. Auch die nur dreieinhalb Seiten langen Schlussbemerkungen sind deutlich zu kurz, um die Zusammenhänge zwischen den Fallstudien mit der wünschenswerten Klarheit herauszuarbeiten, auch wenn hier interessante Andeutungen dazu gemacht werden. Zusammengehalten wird das Buch aber letztlich nicht durch analytische und konzeptuelle Perspektiven, sondern durch Etzemüllers bemerkenswerte erzählerische Fähigkeiten. Der Eindruck eines Zusammenfügens von drei letztlich für sich stehende Studien wird auch durch die Machart des Buches verfestigt, die darüber hinaus die Orientierung im Buch gleich mehrfach erschwert. Einerseits ist darauf verzichtet worden, ein Sach- und Personenregister zu erstellen, was nicht nur wegen der vielen und ausführlich zitierten Autoren dienlich gewesen wäre, sondern auch zum Aufspüren von thematischen Querbezügen zwischen den drei Fallstudien. Andererseits sind die bibliografischen Kurzverweise in Form von Endnoten nach den jeweiligen Kapiteln angebracht, die ihrerseits aber wiederum auf das Quellen- und Literaturverzeichnis am Ende des Bandes verweisen. Wer Etzemüllers interessante Studie mit analytischem Anspruch lesen möchte, tut deshalb gut daran, gleich mehrere Lesezeichen zur Hand zu haben, um sich in diesem Buch zurechtzufinden.