Book review: Die Politik des Kinderkriegens. Zur Kritik demografischer Regierungsstrategien
Schultz, S.: Die Politik des Kinderkriegens. Zur Kritik demografischer Regierungsstrategien, Bielefeld, transcript, 236 ff., ISBN 978-3-8376-6161-3, EUR 39,00, 2022.
1975 veröffentlichten drei Wissenschaftler der Universität Zürich und der ETH Zürich einen Artikel in der „Weltwoche“ mit dem Titel „Grundlagen einer schweizerischen Bevölkerungspolitik“, der mit den folgenden Zeilen begann: „Bevölkerungspolitik muss ein notwendiger Bestandteil einer gesunden, zukunftsorientierten, auf Lebensqualität ausgerichteten schweizerischen Gesellschaftspolitik werden. Ihre Zielsetzungen können nicht getrennt von gesellschaftspolitischen, ökonomischen, ökologischen und ernährungspolitischen Zielen verfolgt werden“ (Batschelet et al., 1975:30). Aufgaben einer schweizerischen Bevölkerungspolitik sind für die Autoren die Bestimmung des Niveaus „auf dem die Bevölkerung stabilisiert werden soll“, die „Einwanderung in der Art zu regeln, dass weder die Bevölkerungszahl noch die Bevölkerungsstruktur wesentlich verändert“ werden sowie „die Geburtenentwicklung innerhalb einer angemessenen Bandbreite zu halten„, ggf. auch mit „entsprechenden fiskalischen und sozialen Anreizen“ (Batschelet et al., 1975).
Wenn der Leserin oder dem Leser fünfzig Jahre später nicht klar ist, was an diesem Artikel in der Weltwoche bis heute problematisch ist, der sollte das neue Buch „Die Politik des Kinderkriegens. Zur Kritik demografischer Regierungsstrategien“ von Susanne Schultz lesen. Zentral sind für die Autorin zwei Fragen, die im Kern jeder Form von Bevölkerungspolitik stehen: „Welche Kinder sollten von wem und wo geboren werden und welche besser nicht? Und wie wird mit den zukünftig (nicht) geborenen Menschen heute Politik gemacht?“ (S. 17).
Susanne Schultz bedient sich dem Begriff der „Demographisierung“ um aufzuzeigen, wie Regierungen gesellschaftliche Probleme als demografisch bedingte Problemlagen und Konflikte verstehen und damit demografisches Wissen und demografische Politikstrategien an Bedeutung gewinnen. Während manche das Ende globaler Bevölkerungspolitiken zelebrieren (Connelly, 2009), zeigt Schultz, wie Demografiepolitik in Form von Familien-, Migrations-, Klima- und Entwicklungspolitik in Deutschland und weltweit bis heute praktiziert wird. Schultz entwickelt in ihrem Buch ein Forschungsprogramm, in dessen Zentrum die Rekonstruktion einer malthusianischen Matrix steht. Sie verfolgt dabei die These, dass sich die „klassenselektiven und rassistischen Dimensionen von Bevölkerungspolitik mit individualisierenden und vergeschlechtlichenden Dimensionen von Körper- sowie Verhaltenspolitik asymmetrisch verschränken“ (S. 21). Politisch verfolgt Schultz damit das Ziel, rassistische und klassistische Logiken in demographisierenden Argumentationen aufzudecken (Murphy, 2017; Sasser, 2018).
Die Stärke des Buches von Susanne Schultz liegt darin, eine intersektionale Analyse von neuen (und alten) Formen der Demographisierung gesellschaftlicher Probleme zu entwickeln. Sie kritisiert die aktuellen Tendenzen, alle grossen Krisen als Bevölkerungskrisen umzudeuten. Dabei geht es Schultz auch darum, den tabuisierten Begriff der Bevölkerung und dessen politische Instrumentalisierung zu hinterfragen.
Das Buch ist eine überarbeitete Version ihrer Habilitationsschrift, für das sie einerseits bereits publizierte Texte überarbeitet und andererseits neue Texte geschrieben hat. Das führt dazu, dass es sich bei der Publikation mehr um eine Art Sammelband als um eine lineare Monographie handelt, was an gewissen Stellen zu Repetitionen führt (worauf die Autorin in der Einleitung jedoch auch hinweist). Aufgrund des ausgefeilten konzeptionellen Vokabulars und theoretischen Gerüsts sind gewisse Wiederholungen für die lesende Person jedoch sogar hilfreich, um die zentralen Argumente und Begriffe des Buches anhand von unterschiedlichen empirischen Fallstudien besser zu verstehen.
Nach der Einleitung gliedert sich das Buch in zwei Teile: Der erste Teil, bestehend aus drei Kapiteln, beschäftigt sich mit der jüngsten Demografiepolitik in Deutschland. Der zweite Teil stellt die Thesen des Buches in einen globalen Kontext.
Im Kapitel „Nation und Kinderwunsch“ geht Susanne Schultz anhand zwei unterschiedlicher Konfliktfelder der Frage nach, wie sich in Familien- und Kinderwunschpolitiken in Deutschland bestimmte Vorstellungen der zukünftigen deutschen Nation widerspiegeln. Anhand jüngster Debatten um eine Familienpolitik, bei der es vor allem darum ging, die Kinderwünsche der deutschen Mittelschicht zu verwirklichen und dabei Vereinbarkeit von Familie und Beruf für diese Schicht zu verbessern, zeigt Susanne Schultz auf, wie die reformierte Familien- und Kinderwunschpolitik von selektiven Ein- und Ausschlüssen, Machtbeziehungen und Ausbeutungsverhältnissen durchdrungen ist. Schultz analysiert in diesem Kapitel erst die Zentrierung der deutschen Elternzeitpolitik auf weisse, gut-gebildete, deutsche Mittelschichten. Im zweiten Schritt untersucht sie, wie sich demografiepolitische Strategien in den 2000er Jahren im Kontext des „fertility gap“ und des Problems der Überalterung der deutschen Gesellschaft auf die Reproduktionsmedizin auswirkte und das feministische Konzept der reproduktiven Rechte als ein „Blanko-Konsument*innenrecht“ (S. 81) redefinierte. Der pronatalistische Bias deutscher Demografiestrategien in der Familien- und Reproduktionspolitik führt zu einer „Ausblendung klassenselektiver, eugenischer und rassistischer Strategien“, die „nur deutsche Mittelschichten mit ‚humanvermögenden‘ Kindern“ meint, aber „Hartz-IV-Empfänger*innen, Migrant*innen oder Menschen mit Behinderung in ihrer Familien- und Kinderwunschpolitik ausschliesst“ (S. 93).
Im Kapitel „Humanvermögen und Zeitpolitik“ geht Susanne Schultz in Co-Autorenschaft mit Anthea Kyere dann noch vertiefter auf die klassenselektive Elterngeldpolitik ein. Ausgehend von der Tatsache, dass seit 2011 das Elterngeld in Deutschland auf Sozialleistungen angerechnet wird und damit de facto nicht mehr an Bezieher*innen von Arbeitslosengeld II ausgezahlt werden, zeigen die beiden, wie das Elterngeld zu einer Umverteilung nach oben geführt hat. Mit dem Konzept des Humanvermögens, das im Familienbericht 1995 eingeführt wurde, wird Sorge- und Erziehungsarbeit in der Familie als ökonomisch wertvoll verstanden. Während die Aufwertung von Sorgearbeit aus feministischer Sicht ein zentraler Schritt wäre, zeigt Schultz auf, wie das Konzept als „Klammer zwischen Ökonomisierung und Demographisierung“ dazu geführt hat, dass „einkommensschwachen und/oder zugewanderten Frauen* die erfolgreiche Produktion von ‚Humanvermögen‘ als Sorgende und Erziehende abgesprochen“ (S. 109) wurden. Ihre intersektionale Analyse macht es möglich aufzuzeigen, dass die Fokussierung der Familienpolitik auf geschlechterpolitische Fragen deren inhärente Klassismen und Rassismen diskursiv unsichtbar gemacht hat.
Im Kapitel „Migrationspolitik als Bevölkerungssteuerung?“ führt Susanne Schultz ihre intersektionale Analyse deutscher Demografiestrukturen mit Blick auf ‚migrantische Geburtenrate‘ und die Frage des ‚Fachkräftemangels‘ fort. Besonders interessant ist in diesem Kapitel, wie Schultz demografische Problematisierungen eines ‚schrumpfenden‘ und ‚alternden‘ Deutschlands aus der Perspektive von verschiedenen politischen Orientierungen (von völkisch-national über konservativ-national-neoliberal und international-orientiert-neoliberal bis national-sozial) betrachtet. Aus geographischer Perspektive ist dabei insbesondere ihre Problematisierung der rassistischen Art und Weise wie demografisches Wissen die Form der Nation festigt, indem „‚Bevölkerung‘ [in migrationspolitischen Debatten] als prinzipiell abgegrenzte Einheit ins Verhältnis zu nationalökonomischen und ethnisierenden Daten und Kriterien gesetzt wurde“ (S. 151). Susanne Schultz' Analyse des „langen Sommer der Migration“ ist aufgrund ihres kritischen politischen Blicks auf dessen Demographisierung nicht nur wirklich erhellend, sondern zeigt auch konkrete politische Widerstandspraktiken auf. Schultz fordert dazu auf, die Perspektive der Demographisierung zu verweigern und damit die im demografischen Wissen stillgestellten Machtverhältnisse, statt die problematisierten Bevölkerungsgruppen, in den medialen, politischen und auch wissenschaftlichen Fokus zu rücken.
Der zweite Teil des Buches stellt demografische Politikstrategien in einen globalen Kontext. Im Kapitel „Weniger Klimakrise durch weniger Menschen?“ gelingt es Schultz mit einer komplexen Analyse aufzuzeigen, wie technokratische, rechts-populistische und feministische Positionen sich gleichermassen auf neomalthusianische Argumentationen stützen. Wenn auch aus unterschiedlichen politischen Positionen und daraus resultierenden Forderungen heraus, stellen alle Strömungen gleichermassen einen direkten Zusammenhang zwischen Klimakrise und der Notwendigkeit das globale Bevölkerungswachstum zu kontrollieren bzw. zu reduzieren her. Auch hier bringt es Susanne Schultz wieder pointiert auf den Punkt, wenn sie schreibt, dass es für „eine intersektionale feministische klimapolitische Agenda unerlässlich [ist], den Kurs auf ‚Bevölkerung‘ radikal zu kritisieren, statt [mit einem Gebärstreik] an die neomalthusianische Agenda anzudocken“ (S. 182). Für Schultz bietet das aus dem Schwarzen Feminismus der USA kommende Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit eine Möglichkeit, um die selektiven pro- und antinatalistischen Politiken auf globaler Ebene im Kontext von Klima- und Entwicklungspolitik zu diskutieren.
Im letzten Kapitel „Antinatalismus und Big Pharma“ kehrt Schultz in Co-Autorenschaft mit Daniel Bendix dann zu der Frage zurück, wie deutsche und internationale Entwicklungspolitik bis heute Bevölkerungsdynamiken als Erklärung für ‚Unterwicklung‘, Klimawandel, Kriminalität oder eine Gefährdung des ‚sozialen Friedens‘ darstellt. Besonders interessant in diesem Kapitel ist ihre detaillierte empirische Analyse der kommerziellen Interessen deutscher und globaler Pharmafirmen, die zu einem (erneuten) Bedeutungsgewinn globaler Bevölkerungspolitiken geführt hat. Dabei fokussieren sie sich auf das Implantat Norplant II oder Jadelle, das im Vergleich zu seinem Vorgänger dem Implantat Norplant I ohne viel Widerstand der transnationalen Frauengesundheitsbewegung Einzug in Entwicklungsprogramme der UNFPA, USAID oder KfW genommen hat.
Ob Elterngeld, Kostenübernahme für Fruchtbarkeitsbehandlungen, Gebärstreik oder Implantate, gemein ist all diesen empirischen Phänomenen, dass sie von deutscher und internationaler Politik im Rahmen demografischer Strategien als Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme instrumentalisiert und mit ihnen das Konzept der ‚Bevölkerung‘ in den Mittelpunkt politischer Diskurse gestellt wurden. Das Buch von Susanne Schultz zeigt, wie Politiken des Kinderkriegens mit Auf- und Abwertungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und damit mit „rassistischen und nationalistischen Ein- und Ausschlüssen, mit klassenhierarchischen Zuschreibungen und neuen reproduktionsmedizinischen Ausbeutungsverhältnissen““ (S. 221) einhergehen. Der Beitrag des Buches von Susanne Schultz liegt darin, anhand konkreter empirischer Politikfelder den gesellschaftspolitischen Trend der Demographisierung nicht nur zu konstatieren, sondern dessen Auswirkungen auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen mit Hilfe einer intersektionalen Analyse minutiös nachzuzeichnen.
Debatten in der Geographie um eine neue kritische Bevölkerungsgeographie (Robbins and Smith, 2017; Tyner, 2013; Siedhoff et al., 2023) können nicht nur von dem von Susanne Schultz entwickelten theoretischen Vokabular profitieren. Ihre dezidiert intersektionalen Analysen und die daraus resultierenden politischen Forderungen, den Begriff der Bevölkerung und den demografischen Wissensapparat radikal in Frage zu stellen, können eine wichtige Inspiration für geographische Arbeiten sein. Indem sie geographische Grundkonzepte wie scale, Nationalstaatlichkeit und nationale Regierungsstrategien in den Fokus ihrer Untersuchung stellt, bietet ihr Buch vielfache Anknüpfungspunkte für geographische Auseinandersetzungen mit einer „demographisierten“ Klimadebatte, Familien-, Migrations- oder Entwicklungspolitik.