Articles | Volume 79, issue 3
https://doi.org/10.5194/gh-79-301-2024
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Book review
 | 
18 Sep 2024
Book review |  | 18 Sep 2024

Book review: Von Dinosauriern bis zur Wirtschaftsgeographie: Vielfalt der postkolonialen Geographie

Cosima Werner

Bauriedl, S. und Carstensen-Egwuom, I.: Geographien der Kolonialität. Geschichten globaler Ungleichheitsverhältnisse der Gegenwart, transcript Verlag, Bielefeld, 458 ff., ISBN 978-3-8376-5622-0, https://doi.org/10.1515/9783839456224, EUR 36,00, 2023.

Kinder lieben Dinosaurier. Edutainment, Filme, Spielzeug und Wissensbücher erzeugen einen Mythos um diese ausgestorbenen Riesenechsen. Doch diese Beliebtheit ist tief mit „Geographien der Kolonialität“ verwoben, wie Ulrike Bergermann in „Deep Empire – Kolonialgeschichte und Gegenwart der Dinosaurier“ im Sammelband „Geographien der Kolonialität“ von Sybille Bauriedl und Inken Carstensen-Egwuom darlegt. Bergermann untersucht die Praktiken der „dinosaur hunter“ in den USA, die den Tod indigener Bevölkerungsgruppen in Kauf nahmen, um an die begehrten Knochen zu gelangen. Sie macht auch deutlich, wie wenig über die Verflechtungen zwischen Naturkundemuseen und Kolonialisierung bekannt ist. Die brutale Zerschlagung des Maji-Maji-Aufstands durch deutsche Schutztruppen in Tansania ermöglichte die Extraktion von Knochen eines Brachiosaurus brancai und anderer Dinosaurier. Nicht nur die Praktiken in der Vergangenheit müssen neu betrachtet werden, sondern auch der heute popkulturell anmutende Umgang mit Dinos. Bis heute begleiten heroische Erzählungen über (vornehmlich männliche) Forscher:innen die Darstellung dieser gigantischen Tiere in Museen und Kinderbüchern. Dieser Beitrag unterstreicht die Notwendigkeit neuer Perspektiven, insbesondere aus der postkolonialen Theorien, um Allbekanntes zu hinterfragen.

Im Sammelband „Geographien der Kolonialität – Geschichten globaler Ungleichheitsverhältnisse der Gegenwart“ zeigen die Autor:innen, wie koloniale Verstrickungen den Alltag und öffentliche Räume prägen. Koloniale Denkmuster fließen in Lektüre, Sprache und wissenschaftliche Konzepte ein – auch in die Geographie. Der von den Herausgeberinnen verwendete Begriff „Kolonialität“ beschreibt die Beharrungskräfte kolonialer Hierarchisierungen über die historische Periode des Kolonialismus hinaus. Die Geographien der Kolonialität manifestiert sich als lebendiges Erbe vergangener Hierarchien. Sie prägen nicht nur den Alltag, die Kultur und die Identität der Bevölkerung in kolonialisierten Ländern oder in neokolonialen Abhängigkeitsverhältnissen, sondern hinterlassen auch erkennbare Spuren in der Stadt sowie auf dem Land und in den Büchern und Diskursen der Länder, die von kolonialen und postkolonialen Strukturen profitieren.

Die 17 Beiträge sind thematisch in die Sektionen „Wissensproduktion und Postkoloniale Reflexion“, „Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken“ und „Koloniale Ordnungen und Dekoloniale Zukünfte“ gegliedert. Die erste Sektion des Sammelbandes vereint Beiträge, die das gemeinsame Ziel verfolgen, die Wissensproduktion in der Geographie kritisch zu hinterfragen und nicht-imperiale geo-historische Kategorien zu entwickeln und zu nutzen, um epistemische Erschütterungen in metropolitanen Weltentwürfen zu erzeugen und Solidaritäten zu fördern. Themen wie die Vielfalt und Verflechtung von Landschaften unter Berücksichtigung indigener Land- und Wassergebiete sowie radikaler Traditionen des Widerstands und der Befreiung (Daigle und Ramírez) werden in dieser Sektion behandelt. Auch die Dekolonisierung von Forschung und Lehre wird diskutiert, wenn beispielsweise das Verständnis der „Commons“ im Kontext geographischer Entwicklungsforschung diskutiert wird (Interview mit Obeng Odoom) oder die Notwendigkeit betont wird, wirtschaftsgeographische Ansätze zu dezentrieren, um Raum für multiple Perspektiven zu öffnen (Werner, und der Kommentar zu ihrem Text von Ouma und Stenmanns). Eine kritische Haltung wird auch für die geographische Forschungspraxis (Singer, Neuburger, Schmitt) und die Geogaphiedidaktik (Kersting und Schröder) eingefordert. Die Beiträge verdeutlichen, dass die Perspektiven der Forscher:innen von den Rändern des Disziplinaustauschs kommen und leider bisher nicht zum Kanon der wissenschaftlichen Perspektive gehören.

Der zweite Teil des Sammelbandes „Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken“ widmet sich dem Umgang mit postkolonialen Kontinuitäten sowohl im städtischen Kontext als auch in Strukturen der alltäglichen Versorgung. Die Artikel in diesem Kapitel verbindet die Forderung nach einer Neuausrichtung von Begriffen und Konzepten. Carstensen-Egwuom nutzt den Begriff des „racial capitalism“ in Bezug auf die Rum-Stadt Flensburg, um zu verdeutlichen, dass der Kapitalismus historisch Unterschiede zwischen weiß gelesenen und nicht-weiß gelesenen Menschen zieht. Bauriedl schlägt die Begriffe „Plantagenozän“ und „Eurozän“ vor, um so die kolonialen und rassistischen Strukturen anzusprechen, die zur Umweltzerstörung und Existenzbedrohung rassifizierter Personen führen. Das Ziel, neue Konzepte in die Auseinandersetzung mit kolonialen Kontinuitäten einzubringen, liegt einerseits darin, strukturelle Ungleichheiten zu benennen, und andererseits, Perspektiven und Praktiken marginalisierter Gruppen in Politiken, Planungen und Entscheidungsprozessen viel stärker als bisher zu berücksichtigen.

Die dritte Sektion vereint Beiträge, die Widerstandsformen hervorheben, die für die Gestaltung zukünftiger Gesellschaften wirkmächtig sind. Obwohl die Zukunftsperspektiven nicht immer explizit sind, zielen die Widerstände darauf ab, eine alternative und dekolonialisierte Zukunft zu gestalten, die geprägt ist von Gerechtigkeit, Inklusion und Nachhaltigkeit. Die Beiträge erkennen die Rolle von Aktivismus und Widerstandsbewegungen an, die sich für solche Zukünfte einsetzen und für die sich Menschen immer wieder in lebensbedrohende Situationen bringen oder gebracht werden (Haritaworn). Auch wenn in dieser Sektion dekoloniale Ordnungen im Vordergrund stehen, in denen alternative Zukünfte gedacht werden, ist der Fokus sehr stark auf urbane Zukünfte gerichtet (sie dazu die Beiträge von Ha, Haritaworn, Bruns und Adscheid). Dabei wäre es auch interessant, über dekoloniale Zukünfte jenseits des Urbanen nachzudenken.

Diese Einteilung der Beiträge in die drei Sektionen wird den Beiträgen nicht immer gerecht, und zwar nicht deshalb, weil sie in anderen Sektionen besser aufgehoben wären, sondern weil Leser:innen auch in anderen Beiträgen Inspiration zu den Themen finden. Beispielsweise beziehen sich emanzipatorische Praktiken, Aneignungen oder eine dekoloniale Geographie oft auf dekoloniale Zukünfte. Zudem durchzieht eine kritische Auseinandersetzung mit Wissensproduktion (Sektion 1) in gegenwärtigen Systemen viele Beiträge (siehe beispielweise den Beitrag von Ha in der dritten Sektion), was die Frage aufwirft, welches Verständnis von Wissensproduktion hier angelegt wird. Leser:innen, die sich für eine kritische Betrachtung von Wissen, dessen Vermittlung und Produktion interessieren, können auch von Beiträgen in anderen Sektionen inspiriert werden.

Besonders gelungen ist den Herausgeberinnen, wie sie den Anforderungen einer postkolonialen Wissensproduktion gerecht werden und gleichzeitig innerhalb wissenschaftlicher Publikationsstandards agieren. Sie nutzen unterschiedliche Textformate wie Interviews, Kommentare und Übersetzungen und integrieren empirische Beispiele aus unterschiedlichen Regionen, um deren räumliche wie auch zeitliche Verstrickungen aufzuzeigen. Durch diese vielseitige Herangehensweise schaffen sie es, einen umfassenden und differenzierten Einblick in die Komplexität postkolonialer Dynamiken zu ermöglichen. Die sorgfältige Auswahl und Kombination der verschiedenen Formate und Perspektiven ermöglicht es den Leser:innen, die vielfältigen Wechselwirkungen und Kontinuitäten zu erkennen, die koloniale Strukturen auch in der Gegenwart noch prägen. Dabei bleibt das Werk nicht nur theoretisch fundiert, sondern verankert seine Analysen fest in konkreten Kontexten und Erfahrungen, wodurch es eine Brücke zwischen Theorie und empirischen Fallbeispielen schlägt und zur Reflexion über eigene Positionierungen anregt.

Der Sammelband richtet sich vornehmlich an Studierende und Forschende aus den Fächern Geographie, Sozialwissenschaften, Postkoloniale Studien, Kulturanthropologie und verwandten Disziplinen. Einige Debatten mögen sehr Geographie-bezogen sein, wie die kritische Auseinandersetzung mit Wirtschaftsgeographie oder dem Commons-Begriff, jedoch bieten sie sich gut für die Lehre an. Viele Beiträge könnten aber auch für Aktivist:innen, politisch interessierte Personen und ein informiertes öffentliches Publikum lesenswert sein, weil beispielsweise dekoloniale Praktiken ebenso beleuchtet werden wie koloniale Spuren in städtischen Räumen und im Alltag.

Das Buch ruft zur Entwicklung einer Haltung zu diesen Themen auf und lädt dazu ein, das Unbehagen anzuerkennen und selbst anzunehmen, das viele Menschen bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Kolonialismus empfinden. Es ist an der Zeit für eine postkoloniale Analyse von Alltag, Wissenskonzepten, Sprache, Geschichten und Geschichte, um den bislang unerzählten Geschichten und ungehörten Stimmen endlich den Raum zu bieten, der ihnen zusteht. Wenn wir diese Ansätze als Bereicherung begreifen und als Inspirationsquelle nutzen, können wir eine inklusivere Gesellschaft fördern, in der die Kontinuitäten der Kolonialität der breiten Gesellschaft aufgezeigt werden können. Kürzlich las ich meinem Neffen ein Buch über Dinosaurier vor und er fragte mich, woher man die Namen der Dinosaurier kenne. Dass Namen von Tierarten soziale Konstruktionen darstellen, ist offensichtlich. Die postkoloniale Perspektive kann uns allerdings auch die Augen dafür öffnen, dass die lateinischen und griechischen Namen und die farblichen Darstellungen dieser beliebten Tiere eben nicht alleine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen, sondern ebenso auf kulturellen Imaginationen, deren kolonialer Bezüge wir uns in der Regel nicht bewusst sind. Diese Vorstellungen, die uns und zukünftige Generationen prägen, bedürfen einer kritischen Auseinandersetzung.

Haftungsausschluss

Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten, institutionellen Zugehörigkeiten oder anderen geographischen Begrifflichkeiten neutral. Obwohl Copernicus Publications alle Anstrengungen unternimmt, geeignete Ortsnamen zu finden und im Manuskript anzupassen, liegt die letztendliche Verantwortung bei den Autor:innen.