Articles | Volume 79, issue 1
https://doi.org/10.5194/gh-79-61-2024
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Book review
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27 Feb 2024
Book review |  | 27 Feb 2024

Book review: Mehr-als-menschliche Geographien – Schlüsselwerke, Beziehungen und Methodiken

Larissa Fleischmann

Steiner, C., Rainer, G., Schröder, V., und Zirkl, F.: Mehr-als-menschliche Geographien. Schlüsselkonzepte, Beziehungen und Methodiken, Franz Steiner Verlag, Stuttgart, 366 ff., ISBN 978-3-515-13227-5, ISBN 978-3-515-13230-5 (E-Book), EUR 53,00, 2022.

Der Blick auf die Welt durch die binäre Brille von „Natur“ einerseits und „Gesellschaft“ andererseits war es, den die britische Geographin Sarah Whatmore mit ihrem 2002 erschienenen Buch Hybrid Geographies grundlegend in Frage stellte. Stattdessen sei das Zusammenleben in der Welt geprägt durch „intimate, sensible and hectic bonds through which people and plants; devices and creatures; documents and elements take and hold their shape in relation to each other in the fabric-ations [sic!] of everyday life“ (Whatmore, 2002:3). In diesem Zusammenhang brachte sie erstmals den Begriff der „more-than-human life worlds“ (Whatmore, 2002:162) in die Humangeographie ein. Anfang der 2000er war so die Debatte um die More-than-Human Geographies im angloamerikanischen Raum geboren.

Nach Whatmore's einflussreichem Werk sollten genau 20 weitere Jahre bis zum Erscheinen des vorliegenden Sammelbands vergehen. Steiner et al. (2022) gelingt es damit, das erste deutschsprachige Überblickswerk zu Mehr-als-menschlichen Geographien bereitzustellen und eine längst überfällige Übersetzung des Begriffs „more-than-human“ ins Deutsche anzubieten. Welche grundlegenden Blickverschiebungen und Horizonterweiterungen stößt die Mehr-als-menschliche Geographie an? Welche Konzepte, Begriffe und Methoden gehören zu diesem Feld? Und welche unterschiedlichen Forschungsstränge und Schwerpunktsetzungen haben sich in den vergangenen Jahren entwickelt? Die Herausgeber:innen und Beitragenden vermitteln in insgesamt 14 Kapiteln Einsichten in diese und weitere Fragen.

Im ersten Kapitel geben Steiner, Rainer und Schröder einen einführenden Überblick über die Entwicklungsgeschichte und grundlegenden Merkmale Mehr-als-menschlicher Geographien. Die 13 weiteren Kapitel verteilen sich auf die Abschnitte „Schlüsselkonzepte“, „Beziehungen“ und „Methoden“. Im ersten der insgesamt fünf Kapitel des Abschnitts „Schlüsselkonzepte“ stellen Steiner und Schröder das Konzept des Agentiellen Realismus von Karen Barad vor und diskutieren Anknüpfungsmöglichkeiten an Arbeiten des klassischen Pragmatismus. In den vier darauffolgenden Kapiteln werden weitere Kernthemen aufgearbeitet, wie Praktiken (Beitrag Everts), Affekte und Emotionen (Beitrag Militz), Körper und Verkörperungen (Beitrag Dzudzek und Strüver), sowie Assemblage-Ansätze und Akteur-Netzwerk-Theorien (Beitrag Müller). Im zweiten Abschnitt „Beziehungen“ finden sich fünf weitere Kapitel, deren Fokus stärker auf der mehr-als-menschlichen Perspektiverweiterung, wie sie in verschiedenen Forschungsfeldern angestoßen wird, zu liegen scheint. Im ersten Kapitel skizzieren Boeckler und Berndt, wie sich Mehr-als-ökonomische Geographien an der Schnittstelle von Wirtschaftsgeographie und Science and Technology Studies ausgestalten. Im darauffolgenden Kapitel führen Pütz, Schlottmann und Kornherr in die neue Tiergeographie ein und Everts und Wollrath widmen sich invasiven Arten. Colombino und Ermann diskutieren Perspektiven nicht-anthropozentrischer Nahrungsgeographien, während Rainer den Konzeptualisierungen des Mehr-als-menschlichen in der Politischen Ökologie nachspürt. Im dritten Abschnitt „Methoden“, der mit nur zwei Kapiteln deutlich kürzer ausfällt, stellt Hafner viszerale Methoden vor, welche von mehr-als-rationalem Erkenntnisgewinn geprägt sind. In einem weiteren Kapitel skizziert Schröder die methodischen Implikationen einer mehr-als-menschlichen Perspektiverweiterung am Beispiel von Mensch-Tier-Beziehungen. Abschließend diskutiert Egner den aktuellen und zukünftigen Stellenwert Mehr-als-menschlicher Geographien.

Der Sammelband füllt eine anhaltende Lücke in der deutschsprachigen Humangeographie: Zwar gibt es bereits seit einiger Zeit vereinzelt Beiträge, die sich explizit oder implizit den Mehr-als-menschlichen Geographien verschreiben, jedoch kam es bisher noch nicht zu einem vergleichbaren flächendeckenden Einzug posthumanistischer Perspektiven, wie dies etwa im angloamerikanischen Raum der Fall war. Nach inzwischen mehr als 20 Jahren sollte jedoch allen Beteiligten klar sein, dass es sich bei mehr-als-menschlichen Ansätzen nicht nur um eine kurzfristige ‚Mode‘ der englischsprachigen Geographie handelt, die – wie vielleicht die ein oder anderen insgeheim gehofft hatten – schnell wieder vergehen möge, um sich alsbald auf die alten Gewissheiten zurückbesinnen zu können, in welchen der Mensch als Dreh- und Angelpunkt im Mittelpunkt humangeographischer Untersuchungen steht. Nein, – und dies zeigt der Sammelband von Steiner et al. (2022) in eindrücklicher Weise auf – es handelt sich um einen umfassenderen Wandel, welcher grundlegend verändert, wie wir geographisch forschen und über die Welt nachdenken. Damit vergegenwärtigen die Herausgeber:innen auch das Potenzial, das für zukünftige Forschungsarbeiten zur Verfügung steht, die auf ein Mainstreaming mehr-als-menschlicher Ansätze in der deutschsprachigen Geographie hinwirken.

Positiv hervorzuheben ist, dass das E-Book kostenlos und ohne große Zugangshürden als Open-Access-Download zur Verfügung steht. Adressiert werden insbesondere Leser:innen, „die sich neu im Themenfeld orientieren möchten“ (S. 11). Mit dieser Zielsetzung birgt der Sammelband Potenziale, um Mehr-als-menschlichen Geographien einen festen Platz in der akademischen Lehre einzuräumen und Anstöße zu geben, diese in studentischen Abschlussarbeiten zu aktuellen Themenkomplexen anzuwenden. Allerdings zeigt sich bei genauerer Lektüre, dass die unterschiedlichen Kapitel auf einem teils mehr, teils weniger voraussetzungsstarken Niveau geschrieben sind, wobei Studierende nur zum Teil explizit adressiert werden (wie zum Beispiel im Kapitel von Pütz, Schlottmann und Kornherr).

Als besonders hilfreich erweist sich der Sammelband dahingehend, als dass er die Aufarbeitung einer inzwischen rund zwei Jahrzehnte andauernden und dementsprechend uneinheitlichen Debatte leistet. Im Laufe der einzelnen Kapitel kommt es jedoch zu einigen Überlappungen und Wiederholungen. Nützlich, aber dennoch mit der Notwendigkeit einer kritischen Reflektion verbunden, sind zudem die von verschiedenen Autor:innen vorgenommenen Typisierungen und Schematisierungen der behandelten Themenkomplexe in Form tabellenartiger Übersichten, durch Schaubilder oder die Einteilung mehrerer Gliederungsebenen. Hier stellt sich allerdings die Frage, inwiefern dadurch neue Kategorisierungen und Dichotomisierungen geschaffen werden, die möglicherweise dem Anspruch der Emergenz, der Relation und der In-Betweenness, wie sie von Ansätzen der Mehr-als-menschlichen Geographien betont werden, nicht gerecht werden.

Positiv hervorzuheben ist, dass es sich bei den gebündelten Aufsätzen nicht um eine bloße Übersetzung der englischsprachigen Debatte ins Deutsche handelt, sondern um eine spezifische Lesart Mehr-als-menschlichen Geographien, die zum Teil andere Schwerpunkte setzt und durchaus in der Lage ist, in die englischsprachige Debatte zurückzuwirken. Zu nennen sind hier etwa die im Kapitel von Steiner und Schröder (ab S. 41) vorgeschlagenen Anknüpfungsmöglichkeiten zwischen posthumanistischen Arbeiten und Ansätzen der Phänomenologie und des Pragmatismus. Auffällig ist außerdem eine wiederkehrende Beschäftigung mit Leiblichkeit (siehe zum Beispiel das einführende Kapitel ab S. 12; sowie das Kapitel von Pütz, Schlottmann und Kornherr, ab S. 194 und von Schröder, ab S. 319), ein Begriff, der andere Nuancen setzt, als dies Konzepte zu body tun, die in der englischsprachigen Debatte vornehmlich rezipiert werden. Auch die in mehreren Kapiteln wiederkehrende Betonung der Analyseebene der Handlungen und Praktiken (siehe zum Beispiel die Kapitel von Everts, ab S. 71; von Boeckler und Berndt, ab S. 164; und von Colombino und Ermann, ab S. 245) birgt Potenzial, englischsprachige Debatten anzureichern.

Kritischen Diskussionsstoff liefern Steiner et al. vor allem mit ihrer im einführenden Kapitel aufgestellten These einer „zweiten kopernikanischen Wende“:

Die Mehr-als-menschlichen Geographien und die diversen ähnlich verlaufenden Veränderungen der Theorieentwicklung in anderen Wissenschaftsdisziplinen sind unserer Wahrnehmung nach insofern aktuell im Begriff, die Art und Weise wie Wissenschaft gedacht wird, radikal zu transformieren. Diesen Wendepunkt sehen wir als so grundsätzlich an, dass man ihn unseres Erachtens als zweite kopernikanische Wende in der Wissenschaft bezeichnen kann (S. 28; eigene Hervorhebung).

Einerseits könnte diese machtvolle Behauptung dazu beitragen, die Notwendigkeit einer umfassenderen Rezeption mehr-als-menschlicher Ansätze im deutschsprachigen Raum zu unterstreichen. Andererseits erscheint die Konstatierung einer „zweiten kopernikanischen Wende“ problematisch, so hinkt gerade der Vergleich mit der ‚echten‘ kopernikanischen Wende. So würde ich darunter doch einen tiefgreifenderen gesellschaftlichen Umbruch verstehen, der nicht nur die Wissenschaft betraf, sondern veränderte, wie sich Menschen in Europa im Verhältnis zur Welt positionierten und ihrer eigenen Existenz Sinn verliehen. Es bleibt fraglich, ob ein solcher Wandel durch posthumanistische Perspektiven gegeben ist.

Zudem könnte die Behauptung einer „zweiten kopernikanischen Wende“ den Blick auf die vielfältigen Umbrüche und Wendungen verstellen, welche dem Einzug mehr-als-menschlicher Ansätze zeitlich vorausgegangen sind und diesen erst ermöglichten. So sind es oftmals feministische und machtkritische poststrukturalistische Arbeiten, welche die Grundlage für mehr-als-menschliche Ansätze schufen. Mehr-als-menschliche Ansätze entstanden nicht in einem „Vakuum“ oder fielen plötzlich vom Himmel, sondern sind Teil einer sich kontinuierlich weiterentwickelnden Forschungstradition in der Geographie, auf welcher sie maßgeblich aufbauen. So verweisen gerade einige der Aufsätze auf diese Entstehungsursprünge und Kontinuitäten (siehe zum Beispiel Colombino und Ermann, S. 262 für den Bereich der Food Studies). Die Begrifflichkeit einer „Wende“, welche im Kontext der „cultural turn(s)“ bereits lang und breit kritisch diskutiert wurde (vgl. Weichhart, 2008:362 ff.), eignet sich daher meiner Meinung nach nur bedingt, um über Mehr-als-menschliche Geographien nachzudenken.

Stattdessen möchte ich abschließend vorschlagen im Sinne der eingangs zitierten Sarah Whatmore (2006) von einer „materiellen Rückkehr“ („material returns“) zu sprechen. So hat sich gerade Whatmore dezidiert von einem sprachlichen „Wende“-Jargon abgegrenzt, indem sie die Hinwendung zu Fragen des Materiellen als „Wiederentdeckung“ („recuperation“) bezeichnet:

I want to emphasize that this recuperation [of the material] manifests a rich variety of analytical impulses; philosophical resources and political projects that don't `add up' to a singular new approach, let alone one that has a monopoly of insight or value. To this end, I use the language of returns to suggest that what is new (as in different) about the something/happening in cultural geography is a product of repetition – turning seemingly familiar matters over and over, like pebbles on the beach – rather than a product of sudden encounter or violent rupture (Whatmore, 2006:601; Hervorhebung im Original).

In diesem Sinne könnte der vorliegende Sammelband als Aufruf verstanden werden, altbekannte Geschichten auf mehr-als-menschliche Art und Weise „neu“ zu erzählen.

Haftungsausschluss

Publisher's note: Copernicus Publications remains neutral with regard to jurisdictional claims made in the text, published maps, institutional affiliations, or any other geographical representation in this paper. While Copernicus Publications makes every effort to include appropriate place names, the final responsibility lies with the authors.

Literatur

Steiner, C., Rainer, G., Schröder, V., und Zirkl, F.: Mehr-als-menschliche Geographien. Schlüsselkonzepte, Beziehungen und Methodiken, Franz Steiner Verlag, Stuttgart, ISBN 978-3-515-13227-5, ISBN 978-3-515-13230-5 (E-Book), 2022. 

Weichhart, P.: Entwicklungslinien der Sozialgeographie – Von Hans Bobek bis Benno Werlen, Franz Steiner Verlag, Stuttgart, ISBN 978-3515113939, 2008. 

Whatmore, S.: Hybrid Geographies – Natures cultures spaces, Sage Publications, London, ISBN 978-0761965671, 2002. 

Whatmore, S.: Materialist Returns: Practising Cultural Geography in and for a More-than-Human World, Cult. Geogr., 13, 600–609, 2006.