Book review: Ländliche Utopien – Herausforderungen und Alternativen regionaler Entwicklungen
Mießner, M., Naumann, M., Grabski-Kieron, U., Steinführer, A., Nell, W., und Weiland, M.: Ländliche Utopien: Herausforderungen und Alternativen regionaler Entwicklungen, Bielefeld, transcript Verlag, 364 pp., ISBN 978-3-8376-7233-6, EUR 50,00, 2024.
In Zeiten von Krisen wie dem Klimawandel oder politischen Unsicherheiten wird der optimistische Blick in die Zukunft auf die Probe gestellt. Szenarienforschung zeichnet Bilder von möglichen Zukünften, die ein breites Spektrum an möglichen ökologischen und sozioökonomischen Entwicklungspfaden beinhalten (Derbyshire, 2020). In Forschungsgebieten wie beispielsweise in der Wirtschaftsgeographie, der Regionalentwicklung oder der Forschung zu ländlichen Räumen gewinnt der Umgang mit möglichen Zukünften, die sich auf zeitlichen und räumlichen Skalen bewegen, an Bedeutung (Gong, 2024). Utopisches Denken und Handeln ist eine Herangehensweise, um Kritik an der Gegenwart zu üben und die Entwicklung von optimistisch angelegten Zukunftsentwürfen zu stärken.
Die Autor:innen der Schriftenreihe „Kritische Landforschung“ nehmen im Sammelband „Ländliche Utopien – Herausforderungen und Alternativen regionaler Entwicklung“ diese Entwicklungen als Anlass, um eine Theorie ländlicher Utopien herzustellen und eine Reihe an Beispielen aus der Forschung im Hinblick auf Planung und Politik und die gelebte utopische Praxis zusammenzuführen. Utopien als Forschungsperspektive waren bisher auf städtische Räume und Stadtquartiere beschränkt, weshalb mit diesem Sammelband erstmalig ein umfassender Beitrag unter Berücksichtigung von verschiedensten theoretisch orientierten und praktischen Beispielen zur Schliessung dieser Lücke geleistet wird.
Die 25 Beiträge sind thematisch in die Sektionen „Konzeptionelle Zugänge zu Utopien“, „Planung und Politik ländlicher Utopien“ und „Gelebte ländliche Utopien: Regionale und lokale Beispiele ländlicher Utopien“ gegliedert.
In der ersten Sektion schaffen die Autor:innen in sechs Beiträgen eine fundierte theoretische Grundlage für die folgenden Sektionen durch den Einbezug und eine kritische Auseinandersetzung mit der Vielfalt von historisch und gegenwärtig konzeptionellen Zugängen zu Ländlichkeit und Utopie. Die Autor:innen beziehen sich in den Beiträgen auf einschlägige Autoren wie Theodor W. Adorno, Thomas Morus und Charles Fouriers und suchen gezielt den Zusammenhang zwischen ländlichen Theorien und utopischen Zugängen und deren Entwicklung von der Antike bis in die Gegenwart.
In der zweiten Sektion befassen sich die Autor:innen mit Ungleichheiten, die in der Gegenwart existieren und mit Ansprüchen an die Transformation ländlicher Räume aus der Perspektive der Planung und Politik. Neun Artikel zeigen das potenzielle Spannungsverhältnis zwischen der Bevölkerung in ländlichen Gebieten und der Politik für den ländlichen Raum auf. Die Autor:innen veranschaulichen, dass die Zivilgesellschaft eine Rolle in der Planung spielen kann, indem sie Projekte in ländlichen Räumen gezielt in Frage stellen.
In der dritten Sektion stellen die Autor:innen in zehn Beiträgen sowohl auf regionaler als auch lokaler Ebene unter Berücksichtigung unterschiedlicher geographischer Kontexte Beispiele aus der Praxis vor. Die Beiträge beschäftigen sich mit Fragen, wie Gemeinschaft im Hinblick auf gegenwärtige Ungleichheitsstrukturen organisiert wird und wie in der gelebten Praxis das utopische Potenzial sichtbar wird. Die Autor:innen erarbeiten in ihren Beiträgen den Zusammenhang zwischen theoretischen Perspektiven zu Utopien und wie diese in Beispielen aus der Praxis sichtbar werden.
Die erste Sektion bietet eine umfassende Geschichte der Entwicklung des Begriffs der Utopie, von Thomas Morus bis zur Frankfurter Schule. Zu kritisieren ist, dass vor allem die Frankfurter Schule in diesem Sammelband sehr präsent ist und wenig Raum für andere Perspektiven bleibt. Beispielsweise stellen feministische und anarchistische Denker:innen gegenwärtige Machtverhältnisse radikal in Frage, indem sie verschiedene Formen der Herrschaft anprangern, die jedoch kaum vertreten sind. Obwohl die Autor:innen feministische Theorien einbeziehen, wäre es wünschenswert, diese vertiefter zu präsentieren, um ein theoretisch differenziertes Bild von Utopien zu zeichnen. Insbesondere feministische und anarchistische Perspektiven (Berrard, 2021; Jaeckle, 2009) haben einen großen Beitrag zu emanzipatorischen Debatten über Utopien geleistet. Ausserdem bleibt es in der Sektion „Planung und Politik ländlicher Utopien“ etwas unklar, ob die Utopie aus der Sicht von Planer:innen oder aus der Sicht der von der ländlichen Politik betroffenen Menschen gesehen wird. Obwohl sich der Artikel „Utopien und räumliche Planung – ein Widerspruch“ (Grabski-Kieron und Arens, 2024) mit dieser Frage auseinandersetzt, scheint die Schlussfolgerung zu sein, dass Utopie in diesem Fall eher ein Experten:innenwissen technokratischer Ansätze ist. Eine kritische Auseinandersetzung über Technokratie und Utopie wäre hier gewinnbringend (Roszak, 1985 [1969]). Andernfalls verblasst das emanzipatorische Potenzial der Utopie und sie verkommt zu einem Steigbügelhalter für die Zustimmung jeglicher ländlicher Projekte und Pläne, ohne diese kritisch in Frage zu stellen.
In dieser Hinsicht mangelt es den Beiträgen in dem Buch, deren Ziel ist, ländliche Utopien der Vergangenheit und Gegenwart zu vereinen, an theoretischer Kohärenz. Einerseits wird in einigen Beiträgen der Kapitalismus – die fortschreitende Kommodifizierung aller Lebensbereiche – scharf kritisiert, andererseits wird in einigen Beiträgen eine Zusammenarbeit zwischen Privatwirtschaft und Staat gefordert, um die Akzeptanz von Projekten zu erreichen, die auf den Widerstand der potenziell betroffenen Menschen stoßen. Ein Beispiel hierfür ist der Beitrag „Mit oder gegen den (öko-) Strom?“ (Kerker und Vogel 2024), in dem man den grünen Kapitalismus entdecken kann.
Trotz dieser Kritik möchten wir hervorheben, dass der Sammelband „Ländliche Utopien“ sich erstmalig mit utopischem Denken und Handeln aus einer differenzierten Perspektive beschäftigt, die eine Vielzahl theoretischer und praktischer Zugänge zum utopischen Potenzial in ländlichen Räumen vereint. Den Autor:innen gelingt, es ein vielfältiges Bild utopischer Zugänge zu kreieren, den Zusammenhang zu Ländlichkeit herzustellen und auf die Forschungspraxis zu übertragen. Besonders hervorzuheben ist der Einbezug einer geschichtlichen Komponente in der Vorstellung der theoretischen Zugänge, die sich von der Antike bis in die Gegenwart erstreckt. Obwohl nur wenige theoretische Zugänge aufgenommen werden, wird das Potenzial des Dialogs zwischen Ländlichkeit und Utopien vor allem im Hinblick auf gegenwärtige Herausforderungen in ländlichen Räumen deutlich. Der theoretische Rahmen bietet eine fundierte Grundlage, um einen Wandel der Wahrnehmung von Ländlichkeit und ländlichen Räumen zu erzeugen und das transformative Potenzial hervorzuheben. Den Autor:innen gelingt es, abstrakte Perspektiven zu Utopien und deren Umsetzung an konkreten Beispielen in der Praxis zu veranschaulichen. Damit zeigen die Autor:innen, wie Utopien als theoretisches Gebäude in der Forschungspraxis eingesetzt werden können, um für hoffnungsvolle Zukünfte Raum zu schaffen. Vor allem mit den Beiträgen zu „Gelebten ländlichen Utopien“ zeigen die Autor:innen potenzielle Entwicklungspfade auf und fokussieren sich auf die Kraft des Kollektiven. Neue Projekte werden vorgestellt, beispielsweise Urban Hubs (Lüdemann et al., 2024), Formen des solidarischen Wirtschaftens (Falterer 2024), intentionale Gemeinschaften (Diestelkamp, 2024), und das emanzipatorische und transformative Potenzial von Akteur:innen wird aufgezeigt (Streifeneder, 2024; Birk et al., 2024). Die Autor:innen geben Projekten und Akteur:innen eine Stimme und machen Mut, indem sie deren Handlungsfähigkeit beleuchten.
In einer Zeit von Krisen und Herausforderungen ist es eine Bereicherung, den Begriff Utopie zu verwenden und mit Ländlichkeit zu verbinden. Die breite Vielfalt an Beiträgen aus der Perspektive „Ländliche Utopien“ macht Mut, in der Gegenwart optimistisch zu handeln und einen positiven Blick auf die Zukunft der ländlichen Räume zu bewahren. Der „Kritischen Landforschung“ gelingt es mit diesem Buch, durch die fundierte theoretische Grundlage und Anwendung in praktischen Beispielen Utopien zugänglich zu machen und bietet das Potenzial neue Forschungsfelder zu eröffnen.