Book Review: Anarchistische Ökologien – Eine Umweltgeschichte der Emanzipation
Probst, M.: Anarchistische Ökologien: Eine Umweltgeschichte der Emanzipation, Berlin, Matthes & Seitz Verlagsgesellschaft mbH, 296 ff., ISBN 978-3-7518-2044-8, EUR 32,00, 2025.
Bei der Studie von Milos Probst handelt es sich um die Ergebnisse eines 2017 bis 2022 am Departement Geschichte der Universität Basel verfolgten Dissertationsprojekts, das Aussagen trifft über die politische Ideengeschichte von Freiheit und Natur am Beispiel von ökologischen Gedanken europäischer Anarchist*innen der Jahre 1870 bis 1920. Ins Zentrum der Betrachtung, die sich schlagwortartig als politökologisch und diskursorientiert qualifizieren lässt, gerät somit das Lebenswerk etlicher ausgebildeter Geographen wie z. B. des russischen Anarchisten Peter Kropotkin (1842–1921) oder des französischen Anarchisten Élisée Reclus (1830–1905). Dabei stützt sich der Autor methodisch-arbeitstechnisch auf das Studium und die Interpretation von (anarchistischen) Periodika, Sitzungsprotokollen, Korrespondenzen und unveröffentlichten Manuskripten, und seine Mehrsprachigkeit (Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch) erweist sich als großer Gewinn.
Die Studie verfolgt einen historisierenden Ansatz, dessen zeitlicher Fokus auf das halbe Jahrhundert nach dem Auseinanderbrechen der Ersten Internationale (Internationale Arbeiterassoziation) eine Phase intensiver ideologischer Konflikte zwischen einer marxistischen und anarchistischen Vorgehensweise – und gleichzeitig einen Höhepunkt anarchistischer Kultur – markiert. Der heuristische Rahmen ist knapp definiert: „Unter anarchistischen Ökologien verstehe ich heterogene Themenfelder, in denen die Verhältnisse zur Natur Gegenstand von politischen Erwägungen über die Voraussetzungen, Ziele und Formen menschlicher Emanzipation waren“ (Probst, 2025:12).
Das erste Kapitel, betitelt „Kollektivismus als Politik der Natur“, zeigt, dass nicht nur über Ausbeutung und Entfremdung, sondern auch intensiv über z. B. kapitalistisch deformierte Landschaften und gestörte Stoffwechselbeziehungen gestritten wurde. Im Zentrum dieses ökologisierten Diskurses standen Fragen vergemeinschafteter Landnutzung und einer Konzeptualisierung von Natur als Gemeineigentum Erde. Speziell die anarchistischen Anhänger einer „kollektivistischen Ökologie“ zeichneten sich laut Probst durch einen hohen Grad an „ökologischer Reflexivität“ aus. Ansonsten bewegten sich Anarchismus und Marxismus – trotz aller Gegensätzlichkeiten und Anfeindungen – öko-politisch in einem ähnlichen epistemischen Rahmen: Beide Bewegungen waren voreingenommen für städtisch-industrielle Belange, so dass bäuerlich-ländlichen Lebenswelten und deren Naturverhältnissen so gut wie nichts Emanzipatorisches zugesprochen wurde.
Das zweite Kapitel, betitelt „Mechanische Infrastrukturen des Anarchokommunismus“, überrascht mit der Einsicht, dass in der anarchistischen Vorstellungswelt nicht die Verachtung menschenfeindlich-naturzerstörerischer Technik im Zentrum stand, sondern der utopische Gedanke, dass technische Infrastrukturen sich in ein kosmisches Ganzes mit Natur und Menschen fügten (oder fügen können). Naturverbundenheit und dezentrale, naturräumlich eingebettete Kommunen stünden nicht zwangsläufig in Konflikt mit einer milden Technikbegeisterung: Anarchistische Ökologien seien vorstellbar mit Gewächshäusern, Elektromotoren, Dampfpflügen, Wasserkraftwerken und Eisenbahnen. Vor allem letztere „ermöglichten“ erst, in den visionären Worten von Kropotkin und Reclus, „einen solidarischen menschlichen Zusammenschluss sowie harmonische Naturverhältnisse“ (Probst, 2025:82). Anarchistische Praxis war dabei das Prinzip der freien Aushandlung durch freie Individuen, wonach „Naturdinge (…) verwalterisch in das emanzipatorische Projekt zu integrieren seien“ (Probst, 2025:85). Im Hinblick auf vom Planeten bereitgestellte Güter und Dienstleistungen galt eine „spendable Erde“ als konform mit einer anarcho-kommunistischen Lebensform und Gesellschaft.
Das dritte Kapitel befasst sich mit der „politischen Ökologie des menschlichen Organismus“, also der Frage, welche Naturverhältnisse anarchistische Pädagog*innen in ihren Erziehungsstätten fördern wollten. Mit Entschiedenheit wurde, laut Probst, die strategische Bedeutung libertärer Erziehungskonzepte verfolgt, wobei auch Öko-Aspekte integriert wurden wie vegane Ernährung, ökologischer Gartenbau oder Tierschutz (meist verortet in den Autonomiebestrebungen syndikalistisch organisierter Arbeitender). Eine noch nie dagewesene transnationale Reichweite anarchistischer Netzwerke entstand und war wohl am deutlichsten ablesbar an der Publikationstätigkeit für eine anarchistische Pädagogik. Ganzheitlich konzipierte Erziehung sollte auch als Katalysator fungieren für den Aufbau eines von der eigenen Körperlichkeit ausgehenden, alternativen Selbst- und Weltverhältnisses, d. h. als Kontaktaufnahme zu nicht-menschlichen Umwelten. Der Autor vermerkt ein „Unbehagen“ an dieser biopolitischen Begrifflichkeit der Anarchist*innen, denn Kategorien wie gesundes Leben und Rückkehr zur Natur gehen leicht konform mit „reaktionären, rassistischen, misogynen, kolonialistischen oder faschistischen Naturideologien“ (Probst, 2025:119).
Das letzte Kapitel nennt sich „Kolonialität anarchistischer Utopien in Argentinien“ und geht der Frage nach, wie der in Europa nach Befreiung strebende Anarchismus die Präsenz der einheimischen Urbevölkerung in Südamerika „übersah“ oder „unsichtbar machte“ (Probst, 2025:151). Der Autor illustriert dies am Beispiel der sozial-ökologischen Transformation des Graslandökosystems der argentinischen Pampa und charakterisiert anarchistische Zuwanderung als Teil des auf Eroberung, Expansion und Kontrolle angelegten Kolonisationsvorhabens Europas. Er zeigt auf, dass der für die Pampa typische, rassistisch codierte Diskurs um zwei unterschiedliche Kategorien von Land (zivilisierter Raum der Weißen versus barbarischer Raum der Indigenen) auch in anarchistischen Texten zu finden ist. Entscheidenden Einfluss hatten laut Probst die geographischen Arbeiten von Reclus, insbesondere seine Korrespondenzen mit Migrant*innen und der letzte Band über Südamerika seiner auf zwanzig Bände angelegten (und nie ins Deutsche übersetzten) Welt-Länderkunde (Nouvelle Géographie Universelle). Probst erkennt in Reclus jemanden, der beseelt ist vom Gedanken der Globalisierung und kolonialen Expansion, also konform geht mit der konventionellen, imperialistischen Geographie des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Auf die Frage, worin genau „die utopische Kraft des argentinischen Territoriums“ für europäische Anarchist*innen lag, wird auf Basis von Quellenanalyse argumentiert: „[Die europäischen Anarchist*innen] entleerten das argentinische Territorium, weil sie sich eine Partnerschaft mit Naturdingen nur dann vorstellen konnten, wenn diese niemandem im Besonderen gehörten“ (Probst, 2025:187).
Beim Vorhaben, den Zusammenhang von Freiheit/Emanzipation und Mensch/Umweltbeziehungen zu reflektieren, ist das argentinische Fallbeispiel bestens geeignet, Widerspruch und Diskussion zu konzentrieren – in Verbindung mit einer schon eingangs dem Anarchismus unterstellten ökologischen Logik der Arroganz. Laut Probst drückt sich dies klar aus in einer Verachtung für tradierte ländliche Agrarkulturen, bäuerliche Kosmologien des Land- und Gartenbaus sowie indigene Glaubens- und Wissenssysteme. Diese Geringschätzung speise sich aus dem Zusammenspiel eines christlich-missionarischen Fundamentalismus mit einer auf Fortschritt und Expansion ausgerichteten geographisch-kolonialistischen Ideologie (Probst, 2025:74).
Wenig überraschend ob des dezidiert historisierenden Ansatzes einer ideen- und umweltgeschichtlichen Studie urteilt Probst abschließend, dass „[es] am Ende dieser historischen Reise (…) keine abgeschlossene Antwort darauf [gibt], wie Emanzipation im Zeitalter der Klima- und Umweltkatastrophen neu zu erfinden sei“ (Probst, 2025:196). Doch benennt er im Hinblick auf ein „Streben nach Befreiung“ Themenfelder wie Land, Landarbeit, Körper, Bewegung und Herrschaftskritik, anhand derer eine vertiefte Beschäftigung aus anthropologischer und/oder öko-feministischer Sicht zu führen sei (Probst, 2025:196 ff.). In Abkehr von der historisierenden Vorgehensweise kommt es an diesem Punkt zu einer leider wenig vermittelten, erkenntnistheoretischen Wende. Es gereicht der Studie zum Nachteil, dass der Autor hier keinen Anschluss sucht an die Ideen und Gedanken von Öko-Anarchist:innen wie z. B. Murray Bookchin (1921–2006), dessen gesamtes, auf sozial-ökologische Befreiung angelegtes Lebenswerk nicht rezipiert ist (Bookchin, 2005, 2025). Auch wer Ableitungen sucht für die Konzeptualisierung eines zeitgemäßen, libertären Öko-Anarchismus, wie ihn z. B. Clark (2023) versucht zu formatieren, wird von Probst nach fast 200 Seiten Lektüre knapp beschieden: „Anarchistische Ökologien sind nicht (…) mit einem ökologischen Anarchismus gleichzusetzen“ (Probst, 2025:192). Unbeschadet dessen ist die Studie anregend für Debatten innerhalb der geographischen Fachwissenschaft, wie z. B. die Rahmung einer geographischen Politischen Ökologie aus anarcho-marxistischer Sicht gelingen könnte (Siegrist, 2021; Geist, 2022).