Book review: Geographie ländlicher Räume
Grabski-Kieron, U., Kordel, S., Krajewski, C., Mose, I., und Steinführer, A. (Herausgeber:innen): Geographie ländlicher Räume, Paderborn, Brill Schöningh, 464 Seiten, ISBN 978-3-8252-6068-2, eISBN 978-3-8385-6068-7, https://doi.org/10.36198/9783838560687, EUR 38,00, 2024.
Der Buchtitel „Geographie der ländlichen Räume“ steht für die Kernbotschaft des Lehrbuchs: Den einen ländlichen Raum als simple Abgrenzung vom städtischen Raum gibt es nicht. Damit hebt sich das von insgesamt 35 Autoren und Autorinnen verfasste Kompendium vom bisherigen Standard-Lehrbuch in der deutschsprachigen Geographie „Der ländliche Raum“ von Gerhard Henkel ab. Entsprechend werden die „Vielfalt und Heterogenität ländlicher Räume“ hervorgehoben, wie die Herausgeberinnen und Herausgeber in der Einführung betonen.
„Vielfalt“ trifft auch auf die thematisierten Perspektiven zur Analyse ländlicher Räume zu. So werden in Kapitel 2 „Theoretische Grundlagen und Zugänge zum Themenfeld ‚Ländliche Räume‘“ die fachlichen Perspektiven und die aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigen Geographie und weiteren europäischen Geographien (Großbritannien, Frankreich, Nordeuropa) erläutert. Vorgestellt werden zudem vier Konzeptualisierungen ländlicher Räume: die „Funktionsanalyse ländlicher Räume“, die „politisch-ökonomische Analyse der Restrukturierung ländlicher Räume“, die „soziale Konstruktion von Ländlichkeit“ und die „alltäglichen Praktiken von Ländlichkeit“.
Kapitel 3 ist den Raumtypisierungen als methodische Hilfsmittel raumstruktureller Analysen gewidmet. Erläutert werden vor allem gängige Typologien für Deutschland, wie die siedlungsstrukturelle Kreistypologie und die Thünen-Typologie. Zusätzlich werden die Raumtypisierungen der Europäischen Union, darunter jene nach Eurostat mit der NUTS-Systematik und die erweiterte Typologie städtischer und ländlicher Gebiete (ESPON) vorgestellt. Ein Vergleich von drei Typologien für Deutschland führt zu überraschend unterschiedlichen Ergebnissen. Hilfreich für die Einordnung der Typologien sind die kritische Reflexion der Typologien wie auch die Ausführungen zu alternativen Methoden der Typisierung ländlicher Räume.
Kapitel 4 ist mit „Ländliche Räume als Sozialräume“ betitelt und thematisiert zuerst den Wandel sozialräumlicher Bedingungen für die in ländlichen Räumen lebenden und arbeitenden Menschen. Betrachtet werden die Dynamiken in Siedlungen (Dörfer, Klein- und Mittelstädte) und in der wohnortnahen Daseinsvorsorge. Als weitere Schwerpunktthemen werden der soziale und demographische Wandel, historische und aktuelle Migrationsprozesse – dabei auch neuere Formen wie die Fluchtmigration und die Lifestyle-Migration – sowie „Praktiken der Aneignung und Veränderung ländlicher Sozialräume“ in Bereichen wie Wohnen, Alltagsmobilität und ehrenamtlichem Engagement behandelt. Gut zum Ausdruck kommt, welch schnelle Veränderungsprozesse ländliche Sozialräume erfahren und wie diese zum Wohle der Menschen gesteuert werden.
Kapitel 5 „Ländliche Räume als Wirtschaftsräume“ ist mit hundert Seiten Umfang das längste Kapitel. In einem Unterkapitel werden zuerst die Transformation, Diversifizierung und Heterogenität ländlicher Ökonomien und der allgemeine sektorale Strukturwandel erläutert. Die weiteren Unterkapitel fokussieren auf die entsprechenden Entwicklungen in den Wirtschaftssektoren Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Handwerk, Gewerbe und Industrie sowie Tourismus. Den Innovationen und den entsprechenden konzeptionellen und theoretischen Ansätzen, der Digitalisierung, der Energieversorgung und Energiewende sind eigenständige Unterkapitel gewidmet. Das Unterkapitel zu kooperativen Formen der Regionalentwicklung und Standortpolitik schließt dieses in wirtschaftsgeographischer Perspektive verfasste Kapitel ab.
In Kapitel 6 „Landnutzung und Landschaftswandel“ wird sodann die geographische Landschafts- und Umwelt-Perspektive auf die ländlichen Räume in den Vordergrund gerückt. Der Zugang zum Landschafts- und Umweltthema erfolgt dabei über den Landnutzungswandel als wahrnehmbarer Ausdruck des Wandels im ländlichen Raum. Nach Erläuterung relevanter Begrifflichkeiten und Landschaftskonzeptionen werden Methoden der Erfassung und relevante Einflussfaktoren des Landnutzungswandels sowie der Wandel der Landnutzung selbst thematisiert. Alsdann werden die Umweltauswirkungen der Landnutzung aufgrund verschiedener Landnutzungsformen beschrieben. Im abschließenden Unterkapitel zu den Steuerungs- und Schutzmaßnahmen werden die Instrumente des Natur- und Landschaftsschutzes und umweltbezogener Sektoralpolitiken erläutert. Dabei wird der Diskussion um Großschutzgebiete als multifunktionale Steuerungsinstrumente besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Kapitel 7 „Ländliche Räume im Spiegel von Politik und Governance“ ist dem „maßgeblichen Planungs- und Förderinstrumentarium, das die Entwicklung ländlicher Räume auf den verschiedenen Ebenen der Europäischen Union, des Bundes, der Länder, der Regionen sowie der Städte und Gemeinden beeinflusst“ (S. 325), gewidmet. In einem ersten Unterkapitel wird ein Überblick über das Politikfeld „Entwicklung ländlicher Räume“ gegeben und dabei insbesondere die Ebene der Europäischen Union, die Politikgestaltung im Mehrebenen-System für Deutschland, relevante Leitbilder, die räumliche Planung und Governance sowie die integrierte ländliche Entwicklung und das Regionalmanagement thematisiert. Im zweiten Unterkapitel wird die Umsetzung der Politik für ländliche Räume über die Fonds und Programme der Europäischen Union, insbesondere auch die Rolle der EU-Agrarpolitik, erläutert. Es werden Politik und Maßnahmen in Raumordnung und kommunaler Planung auf den verschiedenen Ebenen, so in der Landes- und Regionalplanung, in der Planung und Entwicklung von Städten und Gemeinden sowie in der Dorfentwicklung dargestellt.
Das Buch abschließend plädieren die Herausgeberinnen und Herausgeber in Kapitel 8 „Ausblick: Für eine nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume“ für eine noch stärkere Orientierung der ländlichen Entwicklung an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen. Sie betonen dabei die Bedeutung integrierender Governance-Prozesse, die über verschiedene Entscheidungs- und Handlungsebenen ablaufen, die Bedeutung des querschnittsorientierten Leitgedankens integrierter ländlicher Entwicklung wie auch die Bedeutung permanenter Lernprozesse aller Beteiligten. In den Worten der Herausgeberinnen und Herausgeber können „die Erkenntnisse der ländlichen Raumforschung in der Geographie und ihren Nachbarwissenschaften (…) dazu beitragen, Korridore nachhaltiger Entwicklung für ländliche Räume zu erschließen“ (S. 397).
Die Kapitel-Fließtexte sind reichhaltig ergänzt mit Textkästen, Abbildungen, Fotos, Karten und Tabellen. Diese dienen der beispielhaften Veranschaulichung und Vertiefung oder ergänzen die Ausführungen mit Einblicken in verwandte Themen, weitere Konzepte und in die Gegebenheiten in anderen Ländern. Diese ergänzenden Elemente sind inhaltlich stark bereichernd, sehr gut ausgewählt und auch darstellerisch meist von ausgezeichneter Qualität. Einzig die Qualität und Lesbarkeit der Fotos in Graustufen, die oft nur die halbe Seitenbreite umfassen, überzeugt nicht immer; diese Fotos wären besser auch über die ganze Seitenbreite abgebildet worden, denn die Motive der Fotos überzeugen. Ebenso wertvoll sind die „Fragen als Anregung zur Reflexion“ sowie die Kästen mit einer Literaturauswahl zur Ergänzung und Vertiefung, die am Ende der ersten sieben der insgesamt acht Kapitel angefügt sind, und das Sachregister mit über 300 Stichworten. Letzteres ermöglicht, relativ schnell auch Einblicke in Themen zu erhalten, denen kein eigenständiges Unterkapitel gewidmet ist. Insgesamt ist das Lehrbuch sehr attraktiv gestaltet. Obwohl von 35 Fachpersonen verfasst, sind die Texte in einer einheitlichen Sprache geschrieben, sehr gut lesbar und immer gehaltvoll, aber nicht überladen.
Inhaltlich deckt das Lehrbuch eine breite Themenvielfalt mit angemessener und ausgewogener Vertiefung ab. Die inhaltliche Grobstruktur mit den acht Kapiteln ist klug gewählt. Das Lehrbuch ermöglicht, sich schnell in so unterschiedliche und für die Teildisziplin relevante Gebiete einzulesen wie etwa in die Geschichte der Teildisziplin, in die fachlichen Zugänge zum Thema, in Methoden zur Typisierung ländlicher Räume, in den sozialen und wirtschaftlichen Wandel in den ländlichen Räumen, in den Landnutzungs- und Landschaftswandel wie auch in die Politik gegenüber ländlichen Räumen sowie in die auf die Zukunftsgestaltung ausgerichteten Governance-Strukturen und -Prozesse. Die Unterkapitel fokussieren die klassischen wie auch die neueren in der Geographie diskutierten konkreten Themen bezüglich deren Bedeutung für ländliche Räume.
Es versteht sich von selbst, dass bei der großen Themenvielfalt nicht alle neueren Themen in eigenen Unterkapiteln, oder über das ganze Buch betrachtet im gleichen Umfang, behandelt werden konnten. Die Diskussionen um alternative Lebens-, Sozial- und Wirtschaftsmodelle, Postwachstum, Gender, Gleichstellung, Genügsamkeit, Suffizienz, Lebensstile, Biodiversität, Klimawandel und Klimaanpassung kommen zwar vor, oft sogar in verschiedenen Unterkapiteln, aber solche Themen hätten auch umfassender oder als Querschnittsthemen behandelt werden können. Das ausführliche Sachregister ermöglicht immerhin, zu manchen weniger ausführlich behandelten Themen trotzdem schnell zu Informationen und vor allem zu entsprechenden Literaturangaben zu gelangen.
Das Lehrbuch repräsentiert die Zugänge zu ländlichen Räumen in der deutschsprachigen Geographie und fokussiert die Entwicklungen in ländlichen Räumen primär in Deutschland. Bereits im Fließtext werden auch Bezüge zu ländlichen Räumen, insbesondere in Österreich und der Schweiz, punktuell auch in anderen (mittel-)europäischen Regionen, hergestellt. Insbesondere in den die Fließtexte ergänzenden Elementen (Textkästen, Abbildungen, Karten, Tabellen) werden Einblicke in Gegebenheiten in anderen Regionen Europas gewährt. Etwas speziell ist, dass in dem für die Zukunftsgestaltung so wichtigen Kapitel 7 „Ländliche Räume im Spiegel von Politik und Governance“ die Ebene der EU sehr stark gewichtet und als Land nur Deutschland behandelt wird. Die globale Politik-Ebene, die nicht nur für die Zukunft der Landwirtschaft wichtig ist, fehlt vollständig. Es kann der Eindruck entstehen, dass für die Zukunft der ländlichen Räume primär die EU-Politik von Bedeutung ist und auf den unteren Ebenen primär nur umgesetzt wird. In den anderen Kapiteln fehlt eine gesamteuropäische oder EU-Perspektive weitgehend. Für ein deutschsprachiges Lehrbuch könnten manche Leser und Leserinnen zumindest Bezüge zur Situation in Österreich und der Schweiz erwarten. Aber auch Einblicke in diesbezügliche Verhältnisse in anderen Ländern und Regionen wie England, Frankreich, Nord-, Süd- oder Osteuropa hätten dieses Kapitel stark bereichern können. Dies könnte für eine allfällige zweite Auflage in Form von zusätzlichen Textkästen nachgeholt werden.
Die Ausblicke auf die künftige wahrscheinliche und erwünschte Entwicklung dieser Teildisziplin der Geographie ist zurückhaltend formuliert. Der Titel des Abschlusskapitels „Für eine nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume“ dürfte den minimalen Fachkonsens gut ausdrücken, aber wie die Herausgeberschaft die weitere Entwicklung der Teildisziplin sieht, welche Forschungslücken sie identifiziert und welche Forschungsschwerpunkte sie vorschlägt, wird nicht angesprochen. So dürfte das Lehrbuch insbesondere für die unteren Semester zur Einführung in die Vielfalt der geographischen Zugänge zu den ländlichen Räumen und relevanten Themen, aber auch als Nachschlagewerk für alle an der Geographie ländlicher Räume Interessierte, von hohem Wert sein.
Insgesamt handelt es sich um ein ausgesprochen gelungenes, inhaltsreiches und anschaulich gestaltetes Lehrbuch, das eine echte Lücke füllt und einen umfassenden Einblick in die wissenschaftliche Auseinandersetzung der Geographie mit den ländlichen Räumen vermittelt. Die Herausgeberschaft und ihre Ko-Autoren und -Autorinnen verdienen ein großes Lob für ihr attraktives Buch, das in der deutschsprachigen Geographie zu einem beliebten und geschätzten Standard- und Nachschlagewerk werden dürfte.