Articles | Volume 80, issue 1
https://doi.org/10.5194/gh-80-5-2025
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Book review
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08 Jan 2025
Book review |  | 08 Jan 2025

Book review: Handbuch Kritische Stadtgeographie

Johann Braun

Belina, B., Naumann, M., and Strüver, A. (Herausgeber:innen): Handbuch Kritische Stadtgeographie, 6. völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Münster, Westfälisches Dampfboot, 430 ff., ISBN 9783896919557, EUR 48,00, 2024.

Vor zehn Jahren erschien die Erstauflage des Handbuch Kritische Stadtgeographie (Belina et al., 2014). Seitdem hilft das Handbuch, dort den eigenen Standpunkt zu erhellen, wo er in der oft unübersichtlichen Praxis der Stadtforschung schwer auszumachen ist. Mit dieser Orientierungshilfe für Studium, Lehre und Forschung war stets verbunden: einen Blick für die strukturellen Bedingungen ungleicher Verhältnisse zu haben; kritisch-solidarisch an der Seite von progressiven Bewegungen, Organisationen und Institutionen zu stehen; Motivation und Mittel zu sein, um Stadtgeographie in dieser kritischen Haltung zu betreiben. Nun ist eine grundlegend überarbeitete Neuauflage erschienen (Belina et al., 2024a), die dieser Ausrichtung treu bleibt und doch einiges anders macht.

Das bisherige Duett von Vorwort und Einleitung ist einer neuen Einleitung gewichen. Die Einträge sind neuerdings in drei statt bisher fünf Teile gegliedert, die Theorien, Methoden und Gegenstände der Kritischen Stadtgeographie behandeln. Die Einträge selbst überzeugen weiterhin als prägnante Einführungen, mit Bewusstsein für die Vielstimmigkeit der Forschung und Lesehinweisen zur weiteren Vertiefung. Einige fehlen in der Neuauflage (Architektur, Antifaschismus) oder sind hinzugekommen (Boden, Müll), andere wurden überarbeitet oder haben eine neue Autor:innenschaft gefunden (s. Belina et al., 2024b:16). Die eigentliche Neuausrichtung des Handbuchs setzt jedoch Ebenen unter diesen, für ein Handbuch gängigen Aktualisierungen an.

Die Einleitung eröffnet den Band neuerdings mit Anekdoten aus dem städtischen Umfeld der Herausgeber:innen. Sie erzählen von der politischen Durchsetzung von Besitzinteressen auf dem Berliner Wohnungsmarkt, wie Politiken sozialer Gerechtigkeit zu unerwarteten Mobilisierungserfolgen in der Frankfurter Stadtpolitik führen und davon, wie linke Kommunalpolitik in Graz immer wieder mit den Beharrungskräften der städtischen Verwaltung kämpft. Sie erzählen also von der stetigen politischen Aushandlung städtischer Verhältnisse, wie auch von großen Fragen nach Macht, Repräsentation und Gestaltung, die das Städtische an Gesellschaften stellt. Diesen problembewussten Blick auf das prozesshaft Widersprüchliche der Urbanisierung stellen die Herausgeber:innen ins Zentrum einer Kritischen Stadtgeographie, die sie im dann Folgenden vorstellen. Hier erscheint die oben beschriebene Haltung des Handbuchs, wie auch seine Ausrichtung und Orientierung in neuer Struktur. Deutlich wird: Kritische Stadtgeographie ist unweigerlich ein politisches Unterfangen, das Gegenwartsfragen auf emanzipatorische Auswege hin untersucht. Und sich zugleich bewusst ist, dass ein solches Unterfangen in dieser Gegenwart mit finanzieller Not, institutionellen Logiken und regressivem Druck konfrontiert ist. Für diese Gemengelage bereitet das Handbuch Theorien, Methoden und Gegenstände der Kritischen Stadtgeographie in drei Teilen auf.

Der erste Buchteil zu den Theorien der Kritischen Stadtgeographie1 (20–93) erscheint bereits auf den ersten Blick in einer neuen Gestalt. Vor allem, weil sie nicht mehr entlang zentraler Vertreter:innen der jeweiligen Theorietradition erzählt werden. Stattdessen bereiten die Einträge nun Zugänge auf, die im Sinne einer kritischen Stadtgeographie städtische Ungleichheiten als politökonomisches Verhältnis oder postkoloniales Macht-/Wissensregime offenlegen. Diese Reformulierung funktioniert, gerade weil sie Theorie weniger als Werksgeschichte und mehr als widerstreitende Debatte an den Gegenständen der Forschung erzählt. Sie macht zugleich die Vielstimmigkeit und die geographische Dezentrierung der Theorieproduktion sichtbarer als zuvor (entsprechende Kritik bei Hilbrandt, 2019:265–266). Gleichzeitig fällt auf, dass die Einträge zwischen den Fragen schwanken, wie kritische Stadtgeographie betrieben werden kann (politökonomisch, postkolonial) und was Gegenstand dieser Geographie sein kann (soziale Raumproduktion, Naturverhältnisse). Eine eindeutigere Benennungspraxis würde hier die Idee der neuen Herangehensweise stärken. Gleiches gilt für Einträge zu Southern Urban Theory und Queer Urban Studies, deren fundamentale wissenschaftspolitische Interventionen etwas in der Reihung der Theorien verloren gehen. Zu fragen ist außerdem, warum affekttheoretische Zugänge in der Neuauflage keinen Platz mehr finden, wo sie doch für viele Felder der Stadtforschung relevante Fragen stellen (Anderson, 2016). Und trotzdem überzeugt die neue Aufbereitung kritischer Theorien der Stadtgeographie in Idee und Umsetzung.

Der folgende Teil zu Methoden der Kritischer Stadtgeographie (94–168) wurde weiter ausgebaut und in Teilen neu gefasst. Er vermittelt methodische Zugriffe auf städtische Situationen zum einen als reflexive Praxis, zum anderen als materialbezogenes Unterfangen. Entsprechend behandeln praxisbezogene Einträge ethnographische Stadtforschung, Methoden des Kartierens oder das Arbeiten im Archiv. Unterschiedliche Materialien haben Einträge zu Dokumenten, Foto und Film oder Geographischen Informationssystemen im Blick. In Kombination lassen diese Einträge Fragen an Stadt bearbeitbar erscheinen. Sie machen Mut für die empirische Auseinandersetzung und fächern Zugriffsmöglichkeiten in einer Breite auf, die der Komplexität städtischer Räume gerecht zu werden scheint. Durch dezente Ergänzungen und Überarbeitungen wurde der Methodenteil im Handbuch nochmal gestärkt und wirkt in sich schlüssig. Aus der Reihe fällt nur der Eintrag zu intersektionaler Stadtforschung, der weniger eine Methode als eine methodologische Reflexion gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse beschreibt und daher dem Methodenteil besser als Einleitung übergeordnet wäre – vielleicht eine Formatidee, die die Struktur des Bandes betonen und die Teile insgesamt stärken könnte.

Die deutlichsten Strukturänderungen betreffen die bisher folgenden Teile. Wo früher die Unterscheidung zwischen Begriffen, Themen und Kämpfen der Kritischen Stadtgeographie nicht immer nachvollziehbar war (Belina et al., 2018:17; Hilbrandt, 2019:265), bildet nun ein Teil zu den Gegenständen der Kritischen Stadtgeographie den thematischen Hauptteil des Bandes (169–426). Er nimmt zugleich eine neue Ordnung vor. So sind Einträge zu Arbeitskämpfen und -verhältnissen sowie Produktions- und Eigentumsverhältnissen in einem Abschnitt zur Politischen Ökonomie der Stadt versammelt, die sowohl gegenwartsbezogen-analytisch wie auch in postkapitalistischer Perspektive verhandelt wird. Das Politische der Stadt thematisieren Einträge zu kommunaler Regulierung, Verwaltung und Planung. Im Sinne einer Dezentrierung des Staates finden gerade bewegungsförmige Politiken Beachtung. Wenngleich durch viele Einträge die Hoffnung auf basisdemokratische Gegenmacht spricht, bekommen erstmals auch die Zugriffe der radikalen Rechten auf städtische Räume einen eigenen Eintrag. Konsequenterweise bilden die bisher schon vielfach vertretenen Einträge zur Wohnungsfrage nun einen eigenen Abschnitt. Behandelt werden die Ökonomie des Wohnens, soziale Dynamiken und Kämpfe um Wohnraum sowie Ansätze gerechter und gemeinschaftlicher Wohnraumgestaltung. Der Abschnitt zu den sozialen Widersprüchen der Stadt versammelt Konflikte und Kämpfe um Körper, Identität und Zugehörigkeit. Die Bandbreite reicht von Einträgen zu Kindheit und Armut und Reichtum bis zu Racial Profiling und Feministischem Aktivismus. Den Abschluss bilden Einträge zur Politischen Ökologie der Stadt. Dem im Vergleich kleinsten Abschnitt fehlt bis dahin die breite thematische Abdeckung der anderen. Raum zu Erweiterungen in diesem Feld ist also gegeben. Er könnte für Einträge zu Urbanem Extraktivismus (Streule, 2023), suburbaner Politischer Ökologie (Tzaninis et al., 2021) oder Betrachtungen aus den Black Geographies (Williams, 2021) genutzt werden.

Und so präsentiert sich das Handbuch Kritische Stadtgeographie auch in dieser sechsten, überarbeiteten und ergänzten Auflage als deutschsprachiges Standardwerk für die analytische, progressive und praktische Auseinandersetzung mit städtischen Widersprüchen und Kämpfen – in studentischen Arbeiten, der Hochschullehre und der interdisziplinären Stadtforschung. Wie die Vorauflagen liest sich auch dieser neue Band als Spiegel seiner Zeit, der die autoritären Logiken von Versicherheitlichung und rechten Zugriffe auf städtische Räume ebenso reflektiert wie aktivistische Hoffnungen, versteckte Widerstände und solidarische Formen der Vergemeinschaftung. Entstanden ist kein allumfassendes Lexikon der Stadtforschung, sondern eine zugestanden lückenhafte, doch vielgestaltliche Auseinandersetzung der Kritischen Stadtgeographie mit sich und der Welt.

Haftungsausschluss

Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten, institutionellen Zugehörigkeiten oder anderen geographischen Begrifflichkeiten neutral. Obwohl Copernicus Publications alle Anstrengungen unternimmt, geeignete Ortsnamen zu finden und im Manuskript anzupassen, liegt die letztendliche Verantwortung bei den Autor:innen.

Literatur

Anderson, B.: Encountering Affect: Capacities, Apparatuses, Conditions, Routledge, London, ISBN 9781138248489, 2016. 

Belina, B., Naumann, M., and Strüver, A. (Herausgeber:innen): Handbuch Kritische Stadtgeographie, Westfälisches Dampfboot, Münster, ISBN 9783896919557, 2014. 

Belina, B., Naumann, M., and Strüver, A. (Herausgeber:innen): Handbuch Kritische Stadtgeographie, Westfälisches Dampfboot, Münster, ISBN 9783896919557, 2018. 

Belina, B., Naumann, M., and Strüver, A. (Herausgeber:innen): Handbuch Kritische Stadtgeographie, Westfälisches Dampfboot, Münster, ISBN 9783896919557, 2024a.  

Belina, B., Naumann, M., and Strüver, A. (Herausgeber:innen): Kritische Stadtgeographie: Verstehen, Verhandeln, Verändern, in: Handbuch kritische Stadtgeographie, Westfälisches Dampfboot, Münster, 11–19, ISBN 9783896919557, 2024b. 

Hilbrandt, H.: Wo steht die kritische Stadtgeographie?: Rezension zu Bernd Belina/Matthias Naumann/Anke Strüver (Hg.) (2018): Handbuch Kritische Stadtgeographie, Münster, Westfälisches Dampfboot, sub\urban, 7, 264–268, https://doi.org/10.36900/suburban.v7i1/2.470, 2019.  

Streule, M.: Urban extractivism. Contesting megaprojects in Mexico City, rethinking urban values, Urban Geogr., 44, 262–271, https://doi.org/10.1080/02723638.2022.2146931, 2023. 

Tzaninis, Y., Mandler, T., Kaika, M., and Keil, R.: Moving urban political ecology beyond the ‚urbanization of nature‘, Prog. Hum. Geogr., 45, 229–252, https://doi.org/10.1177/0309132520903350, 2021. 

Williams, T.: For „Peace, Quiet, and Respect“: Race, Policing, and Land Grabbing on Chicago's South Side, Antipode, 53, 497–523, https://doi.org/10.1111/anti.12692, 2021. 

1

Die Buchteile werden in Gliederung und Einleitung unterschiedlich benannt. Ich orientiere mich im Folgenden an den Benennungen aus der Einleitung.