Book review: Ethnografie urbaner Territorien. Metropolitane Urbanisierungsprozesse von Mexiko-Stadt
Streule, M.: Ethnografie urbaner Territorien. Metropolitane Urbanisierungsprozesse von Mexiko-Stadt, Münster, Verlag Westfälisches Dampfboot, 338 ff., ISBN 978-3-89691-294-7, EUR 35,00, 2018.
Mexiko-Stadt. Sicherlich ein Forschungsgegenstand des Urbanen, wenn auch
zunächst noch unklar ist, wie man eine 21-Millionen-Stadt ethnografisch
begreifen kann – wie dem abzuleitenden Versprechen des Buchtitels
„Ethnografie urbaner Territorien“ zu entnehmen ist. Wie lässt sich die territoriale
Weite mit einer Tiefe an Narrativen verbinden?
Monika Streule definiert ihren Forschungsgegenstand Mexiko-Stadt in Abgrenzung zum Städtischen als Territorium, das zum einen auf seine gesellschaftliche Produzierbarkeit verweist und damit gleichzeitig als Produkt stadtpolitischer Aushandlungsprozesse fungiert. Den Mittelpunkt ihrer Untersuchung, wie sie zu Beginn vermerkt, ist von dieser sozioterritorialen Perspektive geleitet und fokussiert das „Aufspüren und Verstehen dominierender Transformationsprozesse urbaner Territorien von Mexiko-Stadt.“ (S. 13).
Die Metropole Mexiko-Stadt zählt zu den größten Metropolregionen der Welt; seit 1950 ist die Einwohnerzahl von etwa drei Millionen Bewohner_innen auf die heutige Zahl angewachsen. Umso schwieriger scheint es, die Stadt Mexiko-Stadt mit all ihren Ausläufern und fluiden Grenzen in ihrer Materialität als Stadt zu begreifen. Streule nimmt daher in ihre Analysekategorie des Territoriums so angrenzende Gebiete an den Stadtbezirk Distrito Federal auf. Mithilfe qualitativer empirischer Methoden fokussiert sie Urbanisierungsprozesse, die sich ihrer Meinung nach am besten auf einer Alltagsebene betrachten lassen, sowie raumzeitliche Fragen, die sie für die Erörterung der Prozesshaftigkeit des Territoriums und seiner Gestaltung heranzieht und mithilfe einer sogenannten horizontalen (räumlichen) und vertikalen (historischen) Analyse analysiert. Im Sinne eines sui generativus nach Anselm Strauss fragt sie konkret nach dem Entstehen, dem Einschreiben in das Städtische und der Identifikation solcher Urbanisierungseffekte.
Einen zweiten Schwerpunkt, wie der Buchtitel schon erahnen lässt, setzt Streule in der Weiterentwicklung einer Ethnografie urbaner Territorium, die sie maßgeblich aus den Wissenskorpussen der Disziplinen Architektur, (Stadt-)Ethnologie und Geografie in Abgleich und Modifikation zur eigenen Empirie entwickelt. Hierbei verknüpft sie konzeptionell ein lokales mit einem metropolitanen Feld und macht so einen, wie Streule ihn benennt, Maßstabssprung möglich. Dabei stellt sie auf urbane Felder ab, in denen sie präsuppositiv aktuelle Urbanisierungsprozesse klassifiziert hat und diese auf ihre Organität des Städtischen, das sie als ein „dynamisches Aushandeln […] zwischen Subjekten“ (S. 19) versteht, hin untersucht. Dabei gelten diese sogenannten „Proben“ nicht als Phänomene, sondern als Teil des Forschungsgebiets und werden mithilfe einer „mobilen Ethnografie“, die sich in Wahrnehmungsspaziergänge in metropolitanem Maßstab (s.g. Recorridos Explorativos) und Interviews während eines kommentierten Stadtspaziergangs (s.g. Entrevistas en Movimiento) unterteilt. Dabei gilt das Gehen als essentieller Teil der ethnografischen Strategie der Praxeologie.
Diese mobile Ethnographie erweitert Streule in einem Folgeschritt um das triangulative Kartieren, in welchem sie die aus der ersten Analyse gewonnenen Ergebnisse synthetisiert, visualisiert und dabei den iterativen Prozess des Kartierens für die Leser_innen transparent und nachvollziehbar macht und ihn dem Prinzip der Reflexivität unterzieht. Dabei macht Streule deutlich, dass sie um die machtaufgeladene und subjektive Beschaffenheit von Karten weiß (S. 47), dekonstruiert diese und macht Vorgehensschritte (Sequenzen) und Machtdynamiken transparent – immer von der Prämisse geleitet, dass das Kartieren letztendlich selbst zu einem erkenntnisgenerierenden Dispositiv wird, das damit an die Stelle einer vermeintlich bloß visuellen und illustrativen Technik rückt (S. 63).
In einem letzten Schritt entwickelt sie eine historische Analyse: die der Periodisierung von Urbanisierungsregime. Das Verfahren fokussiert dabei insbesondere einen raumhistorischen Ansatz, metropolitane Territorien in ihrer Zeitlichkeit zu erfahren und umfasst rund 150 Jahre Stadtgeschichte, die symptomatisch für historische und anhaltende Urbanisierungsprozesse gelten. Dabei fragt Streule nach dem Einschreiben eben jener genannten Prozesse in das metropolitane Territorium und wer an der Produktion der Stadt als Mexiko-Stadt mitgewirkt hat und teilt die geschichtlichen Epochen in Urbanisierungsregime ein. Diese zeichnen sich durch neu entstandene Machtkonstellationen und die Institutionalisierung neuer Regeln und Subjektpositionen aus und durchwandern drei sequenzielle Phasen der Erzeugung, Stabilisierung und der fluiden Auflösung in ein nächstes Regime, bzw. in Territorialisierung, De- und letztlich Reterritorialisierung (S. 72f.). Konkret identifiziert sie in einem ersten historischen Schritt sechs Urbanisierungsregime, die sie als signifikant für die heutigen urbanen Transformationsprozesse des metropolitanen Territoriums erachtet: von der ehemals aztekischen Hauptstadt über die koloniale Übernahme im 16. Jahrhundert bis hin zur urbanen Metropole, die mit der Unabhängigkeitserklärung gegenüber Spanien im Jahr 1810 seinen Anfang nahm. Darauf folgen das Urbanisierungsregime der Ära Alemán, das der Partei Partido Revolucionario Institucional (PRI) und zuletzt das der sogenannten postapokalyptischen Metropole bis hin zu gegenwärtigen Tendenzen, die Streule in einem zweiten Block analysiert.
Mexiko-Stadt, so wird den Leser_innen deutlich, bedeutet Geschichte und hegemoniale Verhältnisse, die sich durch die Verwobenheiten im Dispositiv sowohl räumlich sichtbar eingeschrieben haben als auch in einzelnen Akteurspositionen weiterleben. Urbanisierungsprozesse sind demnach Prozesse konkreter urbaner Konfigurationen. Insbesondere das „Herzstück der territorialen Analyse“ (S. 189) – also hier der zweite Block der Beschreibung, in dem empirische Daten und historische Analysen miteinander synthetisiert werden – versteht es dicht beschreibend, den_die Leser_in in das Alltagsleben und die historischen Erinnerungen dieser Städter_innen zu ziehen. Mit ständigem Blick auf die von Streule dazu entworfene und beigelegte Karte folgt man der Beschreibung von weiteren neun derzeitig dominierenden Urbanisierungsprozessen, die „lokale soziale Praxen, spezifische gesellschaftliche Widersprüche und facettenreiche Geschichten“ als urbane Konfigurationen hervorbringen (S. 190).
Ausgehend vom Prozess Centralidades Metropolitanas, der Centro, Reforma und Santa Fe in das Territorium Mexiko-Stadts einschreibt, beschreibt die Autorin Umwertungsprozesse der nahe am Zentrum gelegenen Wohn- und Industrieviertel durch einen Verdichtungsprozess (Effecto Bando Dos), der zugleich auch Verdrängung bedeutet und solche Prozesse, die insbesondere in der westlichen Hälfte der Stadt wohlhabende Viertel erschaffen, die, geprägt vom Immobilienboom und durch den Prozess der Umnutzung, eine soziale und räumliche Abgrenzung zum Rest der Stadt schaffen (Zonas Residenciales) (S. 211). Die spezifische Zentralität von Santa Fe, die den zuerst beschriebenen Transformationsprozessen Centralidades Metropolitanas und Zonas Residenciales zugrunde liegt und die Leser_in mit Verweis im Text auf die rot und lila gekennzeichneten Bereiche auf die Karte „entsendet“, klassifiziert Streule ebenso als einen Urbanisierungsprozess wie die Pueblos Industrializados. Deren Urbanisierungsmoment steht vor allem für seriellen Massenwohnungsbau und Mega-Infrastrukturprojekte am Rande der Stadt, wohingegen sich die Pueblos Urbanizados, die wiederum Dörfer einem Urbanisierungsprozess unterzieht, sich bspw. in touristischer Infrastruktur materialisiert. Die Ejes Industriales unterzogen sich einem Prozess der ausgeweiteten Industrialisierung, die zu einer Materialisierung der metropolitanen Región Centro führten und einen sogenannten Industriekorridor bildeten, der auf 200 km Industriebetriebe beherbergt. Die letzten beiden Urbanisierungsprozesse, die Urbanizacion Popular und die Urbanizacion Popular Consilidada, beschäftigen sich mit Selbstbau und der Konsolidierung von Gebieten des Selbstbaus. Ersterer Prozess beschreibt die Potentialität der kreativen und alltäglichen Aneignung des Städtischen, beziehungsweise dessen Produktion, vonseiten der Bewohner_innen (S. 272). Letzteres verweist auf die Konsolidierung vormalig prekärer Siedlungen, die einst nur Schlafstätten waren und in der Regel gemietet, nicht jedoch besessen wurden (S. 286). Zuletzt verweist Streule noch auf aktuelle Tendenzen des derzeitig stattfindenden Urbanisierungsprozesses, wie beispielsweise auf das Element der Eventisierung der Stadtpolitik oder auf die verschieden praktizierten Selbstverwaltungen und Ermächtigungsstrategien.
Streule schließt ihre durchweg kohärente Arbeit mit einem Fazit, das nicht nur die besondere methodologische Art auf den Punkt bringt, sondern auch sie selbst als Wissenschaftlerin zwischen Ethnologie, Architektur und Geografie verortet: Die Produktion von Territorium ist ein immerwährender dynamischer und sozialer Prozess, der analytisch als greifbare Kategorie („das Städtische“) nur aus einer Verschränkung des Zeitlichen mit der Gesellschaft heraus begriffen werden kann (S. 303; 310).
Die Arbeit von Monika Streule birgt Fallen des Darüber-Nachdenkens, begleitet von einem Gefühl des „In-den-Bann-gezogen-Seins“. Insbesondere in den ethnografischen und sehr dicht beschriebenen Kapiteln vermittelt sie dem_der Leser_in das Gefühl, mit dabei gewesen zu sein. Das Prinzip der Transparenz und Nachvollziehbarkeit ist in Streules Arbeit holistisch angelegt. Das heißt, es finden sich in ihrer epistemischen Arbeit und in ihren methodologischen Überlegungen möglichst zeitlich und räumlich umgreifende Beschreibungen des Forschungsgegenstandes wieder. Theoretisch kommt die Arbeit dabei zuweilen etwas zu kurz, was aber in Anbetracht ihrer Fokussierung auf methodologische Kreativität und Schärfe zu erläutern ist.
Besonders positiv fällt die Art und Weise auf, wie Streule die Leser_innen dazu ermutigt, mit in einen Teil ihrer Welt einzutauchen, indem man sich der dem Buch beigelegten Karte von Mexiko-Stadt bedient und mit ihr durch die einzelnen Kapitel „streift“. Ganz im Sinne ihrer entwickelten „mobilen Ethnografie“ fordert sie das wissenschaftliche Paradigma der epistemisch kontrollierbaren Wissensproduktion heraus, das nur vermeintlich einem geordneten und universal nachvollziehbaren Schema zu folgen hat, und gibt diese Aufgabe auch an ihre Leser_innen weiter: Diese sind ebenso angehalten, gewohnte (Lese-)Strukturen zu überwinden, um „von einem zum anderen Kapitel [zu] springen“ (S. 23) als auch dazu, ihre räumliche Vorstellungskraft zu verdichten.
Dabei ging es ihr weniger um eine theoretische Erweiterung der Korpusse bereits verankerter Konzepte und Vorstellungen in den Wissenschaften, sondern um eine methodologische Weiter-Orientierung innerhalb einer transdisziplinären Zeitlichkeit, die ebenso von enger Verzahnung und gegenseitiger theoretischer und von methodologischer Nährung geprägt ist wie von disziplinären Schluchten der Abgrenzung. Der methodologische Diffusionismus scheint hier in den letzten Jahren ebenso paradigmatisch geworden zu sein wie ein „Exportismus“, der dezidierte qualitative Forschungsmethoden subtrahierend in andere Disziplinen übernimmt, ohne sie anzupassen, geschickt zu kombinieren und sie weiterzuentwickeln. Diesen Verweis auf eine Mangelerscheinung agiler und zeitgenössischer, den Forschungsgegenständen in ihrem multiplen Ontos begreifenden, Methoden beantwortet Streule sowohl mit einer Kombination verschiedenster Werkzeuge als auch mit deren Weiterentwicklung. Der methodologischen Erweiterung verstaubter Werkzeugkästen scheint sich Streule auch bewusst zu sein, denn wie sie im Ausblick vermerkt, zeigen ihre entwickelten Techniken „innovative transdisziplinäre Zugänge in einem komplexen Forschungsfeld auf“ (S. 311).