Articles | Volume 75, issue 3
https://doi.org/10.5194/gh-75-215-2020
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Forum contribution
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16 Jul 2020
Forum contribution |  | 16 Jul 2020

An was genau erinnert „Kiel 1969“?

Ulf Strohmayer
Kurzfassung

Für die Verortung der deutschen akademischen Humangeographie im Geflecht zwischen wissenschaftlicher Praxis, theoretischen Propositionen und Lehralltag war der Geographentag in Kiel im Jahre 1969 ein Meilenstein. Anlässlich der Erinnerung an den Ort und die Debatten vor 50 Jahren wurde wiederum Kiel im Jahre 2019 zu einem Ort der Reflektion. Der hier vorliegende Beitrag versucht in einer bewusst persönlich formulierten Art die Impulse, die von „Kiel 1969“ ausgingen, im universitären Alltag des Geographischen Institutes der TU München in den 1980er Jahren zu verorten und hierdurch gewissermaßen zu relativieren. Hierdurch entsteht ein differenziertes Bild von richtungsweisenden Veränderungen und verharrenden Strukturen, welche ineinander verwoben die damals überregional bekannte Münchener Sozialgeographie charakterisierten – und für die deutschsprachige Humangeographie über die speziell Münchner Zustände hinaus bezeichnend waren.

Pierre Nora zufolge sind Erinnerungsorte dadurch gekennzeichnet, dass sie Erinnerungen (mémoires) erlauben, konkret zu werden und über sich hinaus zu gehen (Nora, 1984–1992; 1989). Letztere Charakterisierung, das „mehr als nur ein Ort sein“, beinhaltet dabei zugleich eine symbolische Qualität, die solchen Orten zugeschrieben wird. „Kiel 1969“ ist dabei einer jener Erinnerungsorte, der nur in Verbindung mit einem recht genau zu umreißenden Zeitpunkt – zwischen dem 21. und dem 26. Juli 1969 – zu dem geworden ist, was ihn zum Thema dieses kurzen Einwurfes werden lässt. Wie stets ist dabei die symbolische Qualität, die dem Geographentag (akkurater: der Geographentage) 1969 in Kiel seitdem anhaftet, eine gemachte, ja: eine gewollte Konstellation, die im kollektiven Gedächtnis der Disziplin als solche wirkungsmächtig geworden ist. Wir erinnern uns, weil andere sich für uns immer schon erinnert haben. Deren Arbeit – zuletzt etwa Heiner Dürr und Harald Zepps Lotsenbuch (2012) wie auch das 2014 erschiene Themenheft der Geographica Helvetica – trifft auf unsere jeweilige Nostalgie, ein „Sich-Erinnern-Wollen“ (Legg, 2005), welches den Ort der Erinnerung zum mythosbeladenen (Korf, 2014) „Gestus“ (Eisel, 2014) gefrieren lässt.

Konditioniert wird dieser Gestus dabei jeweils eigen: War die eine Leserin 1969 in Kiel dabei und aufmerksam an den Debatten beteiligt, so war der andere Überflieger dieser Zeilen zwar dort, aber geistig eher abwesend. Noch wieder andere Leser*innen waren noch nie in Kiel oder 1969 noch nicht einmal geboren. Festzuhalten bleibt deshalb, dass allein schon der Wille zur Erinnerung, wie auch darüber hinaus das Objekt der Erinnerung, in der kollektiven Erinnerungsgemengelage eine nicht nur vielschichtige, sondern auch potentiell konfliktbesetzte Größe wird.

Nichts am bisher Geschriebenen kann überraschen, ist doch das Wissen um das soziale „Konstruiertsein“ gesellschaftlicher Erinnerungsprozesse mittlerweile Allgemeingut geworden. Es wurde gleichwohl den folgenden Gedanken vorangestellt, um auf diese Weise keinerlei ursprünglicher Zweideutigkeit Raum zu geben: „Kiel 1969“ kann nur als Symbol diskutiert werden, dessen Bedeutung sich allenfalls kontextuell erschließt. Das Folgende ist der Versuch, diesem Kontext durch eine persönliche Verortung der Bedeutung des Symbols – als Gestus im Sinne Uli Eisels – gerecht zu werden.

Für den 1961 geborenen Verfasser dieser Zeilen wurde „Kiel 1969“ erst im Geographiestudium mit Bedeutung versehen (vordem war das Datum, wie auch für Carl Troll, als epochal allenfalls mit der Mondlandung besetzt und der Ort war mir gleich vollends unbekannt; siehe Michel, 2014, 303); dann aber gleich mit gründender Kraft versehen, war doch die TU München einer der Orte, an welchem zumindest der Mythos des Neuen und Anderen, des Angewandten, bewusst gepflegt und in die Praxis umgesetzt wurde. Die Entscheidung für das Studium an der TU München war ihrerseits mit dem für mich damals unsichtbaren Schatten von „Kiel 1969“ versehen: Als Nutznießer des ersten Jahrgangs von in Baden-Württemberg angebotenen Erdkundeleistungskursen wurde mir in den späten 1970er Jahren von Lehrer*innen und Lehramtskandidat*innen unmissverständlicherweise bedeutet, dass ein „modernes“ Studium der Geographie nicht an allen deutschen Lehrstühlen zu gewährleisten sei; die TUM wurde mir als ein fortschrittlicher Studienort empfohlen. Vorwegnehmend gesagt: Für die damaligen Ratschläge bin ich auch heute noch weitestgehend dankbar.

Den Anspruch an ein „fortschrittliches“ Studium einzulösen, beinhaltete dann in den folgenden Monaten und Jahren zuerst einmal die gewissermaßen rückwärtsgewandte Erhellung der eigenen historischen Existenz: Ein Studium umschreibt ja im gelungensten Fall auch Prozesse, die zur persönlichen Reife beitragen. „Kiel 1969“ wurde solcherart eingebunden in die Reflexion des kulturellen und politischen Umschwungs, der damals gemeinhin mit der Bezeichnung „Mai 1968“, mit dem Ende Nachkriegsdeutschlands, vor allem aber mit der Person Willy Brandts in Zusammenhang gestellt und von mir persönlich bisweilen nostalgisch als „Fluch der späten Geburt“ reflektiert wurde: Gerne hätte ich den „fortschrittlichen“ Geist, der damals prägend Lehrerfahrungen neu zu definieren versuchte, von Anbeginn erlebt. Nicht vergessen werden darf hierbei, dass die Empfehlung hinsichtlich der TUM von jungen Lehrer*innen ausgesprochen wurde, die ihrerseits oft als Student*innen die Ereignisse im und um den „Mai 1968“ erlebt und den Weg hin zur kreativen Pädagogik mitgestaltet hatten. Darüber hinaus sind gerade auch die thematischen Erweiterungen der gymnasialen Lehrpläne – nicht nur, aber auch im Zuge der gymnasialen Oberstufenreformen der späten 1970er Jahre – erwähnenswert, welche das Fach Geographie bewusst breiter aufstellten und gesellschaftlich zu verankern suchten. Kurz, das Reformjahrzehnt zwischen 1970 und 1979 hinterließ seine Spuren gerade auch im nicht-universitären Geographieunterricht.

Intellektuell wurde die Möglichkeit einer anderen Geographie ihrerseits schnell eingebunden in den studentischen Münchner Lehrplan, welcher seinerseits neben den bekannten, wenn auch erheblich modernisierten, länderkundlichen Vorlesungen zunehmend methodologische und epistemologische Module anbot. Gerade der Reflektion der Gedanken Thomas Kuhns wurde hierbei Raum bereitet (Kuhn, 1962; 1967) – und solcherart das paradigmatisch „andere“ der örtlich praktizierten Geografie indirekt betont. Das „Unmittelbare“ einer immer schon gegebenen Geographie (siehe Schulz, 1971, 3) war hier von einer „gemachten“ und also „anders machbaren“ Geographie ersetzt worden. Viel direkter war „Kiel 1969“ allerdings präsent in der pragmatischen, konkreten Berufsorientierung, welche viele Aspekte des Studiums durchzog, und ihrerseits den Bezug zur gesamtgesellschaftlichen Relevanz des Faches stets vor Augen hatte. Die doppelte Erinnerung trügt hierbei nicht, waren es doch gerade die Forderungen nach „gesellschaftlicher Relevanz“ und „problemorientierten[n] Fragestellungen“ (Meckelein und Borcherdt, 1970, 201f), welche „Kiel 1969“ maßgeblich geprägt hatten. Das Repertoire der modernen Sozialwissenschaften wurde so im Studienalltag vermittelt und angewandt: Ganze Semester fanden gewissermaßen auf der Straße statt und wurden der konkreten Anwendung der gelernten Fähigkeiten gewidmet; die gegenwärtige Fokussierung des Studiums auf individuelle Fertigkeiten und identifizierbares, berufliches Können mit all seinen Vor- und Nachteilen hat also hier sozusagen ihre Wurzeln. Interessanterweise war bei all dieser sozialwissenschaftlichen Ausrichtung des Studiums der eigentlich zentrale Dreh- und Angelpunkt des Erinnerungsortes „Kiel 1969“ – die lauthals eingeforderte Hinwendung zu einem raumwissenschaftlichen Ansatz und dessen Einlösung vermittels einer quantitativ orientierten Methodik – im Lehrplan zwar durch verpflichtende Kurse in Statistik und gelegentlich praktizierter Methodenkritik ausgewiesen, gelangte aber gleichwohl selten nur über den Rang einer eigentlich ästhetischen Qualität hinaus. Wurden also eifrig Lochkarten in den universitären Rechner eingelesen und in einem anderen als dem TU Hauptgebäude die ausgedruckten Endlospapierschleifen abgeholt, so war doch das erlernte Verstehen eher ein qualitativ ausgerichtetes.

Die hier beschriebene Münchner Sozialgeographie war folglich in den 1970er und 1980er Jahren zu Recht als eine progressiv ausgerichtete Schule bekannt: Die auf dem Kieler Geographentag 1969 angegriffene Länderkunde kam hier kaum noch zum Zuge und wurde, wenn überhaupt, am Rande vermittelt. Ähnliches galt im Übrigen auch für die Rezeption der bahnbrechenden Habilitation von Dietrich Bartels (Bartels, 1968) – auch sie wurde 15 Jahre später im Unterricht nicht gelehrt oder besprochen.

Von zentraler Bedeutung war hierbei der für die TUM 1962 geschaffene, zunehmend praxisnahe Diplomstudiengang, welcher in Kombination mit Nebenfächern, Student*innen auf dem Weg in eine berufliche Zukunft vor allem in kommunalen (Planungs-)Ämtern das hierfür nötige Wissen und Können zur Hand geben sollte. Nicht zuletzt war hierbei auch die breite Auswahl an prinzipiell frei zu kombinierenden Nebenfächern – Soziologie, Politologie, Psychologie, BWL, VWL, Ethnologie, Landschaftsökologie etc. – richtungsweisend und für Studierende verlockend. Darüber hinaus wurde auch die Art und Weise des Vermittelns verändert und erweitert: Projektseminare und verbindliche Praktika verlängerten einerseits zwar den zeitlichen Umfang des Studiums, brachten aber andererseits auch neue, der Zeit geschuldete Befähigungen wie Gruppenarbeit und interdisziplinäres Denken in eine dezidiert handlungsorientierte Geographie hinein.

Der Erinnerungsort „Kiel 1969“ als indirekter, vermittelter und praktizierter Betrachtungspunkt – kaum je als direkt thematisierter – war dementsprechend im Umkreis der TU München in den frühen 1980er Jahren vor allem ein Ort praktischer Relevanz: Wir wurden ausgebildet, um eine klar definierte Rolle in der damaligen bundesrepublikanischen Wirklichkeit zu übernehmen – was beispielsweise unter der Führung von Günter Heinritz und seinem Team Forschung über stadtferne Einkaufszentren, deren Planung und Anbindung beinhaltete (Heinritz, 1999). Dabei sollte auch nicht vergessen werden, dass „Kiel 1969“ keinesfalls als ein im Kuhn'schen Sinne epochaler oder ‚paradigmatischer‘ Bruch mit einer akzeptierten, hegemonialen Wissenschaftslogik in der Geographie gesehen werden muss oder soll: Auch die Münchener Sozialgeographie erwuchs ja ihrerseits beispielsweise aus einem bei Hans Bobek skizzenhaft entwickelten, funktional gedachten Begriffsvokabular, welches über das ursprünglich dem Landschaftsbegriff anhaftende, deskriptive Erkenntniswollen hinaus einen klar analytischen Anspruch realisieren wollte (Bobek, 1959). Hartkes bahnbrechende Arbeiten über den Pendlerbegriff realisierten ihrerseits diesen Anspruch schon vor „Kiel 1969“ im Rahmen einer auf Indikatoren basierenden Sozialwissenschaft, mündend im 1956 geprägten Begriff der ‚Sozialbrache‘ (Hartke, 1956).

Aus dem bisher skizzierten Kontext dürfte klar werden, dass im Münchner Studienalltag der frühen 1980er Jahre „Kiel 1969“ allenfalls als methodologischer Anstoß und somit als forschungspraktischer Impuls wahrgenommen wurde. Diese Einschätzung deckt sich mit der Benno Werlens zur selben Zeit am Kieler Institut „[a]ußerhalb des Lehrbereichs von Dietrich Bartels“ (Werlen, 2014, 293) und mit den Erinnerungen von deutschen Geographen, die derselben („Boomer“-)Generation angehören (Helbrecht, 2014). Der gleichfalls im Erinnerungsort „Kiel 1969“ ursprünglich mitschwingende Anspruch an eine „nicht wertfrei arbeiten[de]“ „Theorie“ und „Kritik“-affine „Anthropogeographie“, die sich „dem Druck der Öffentlichkeit nicht bedingungslos beugen [darf]“ (Meckelein und Borcherdt, 1970, 206), war hingegen im Studienalltag weitestgehend abwesend, oder besser: Er war marginal präsent, wurde aber nicht zum Leitthema wissenschaftlichen Handelns. Die Marginalisierung der nicht a priori systemkonformen Kritik war damals an Personen festzumachen: Waren die damals an der TUM berufenen Ordinarien im Fach Geographie einer eng umrissenen gesellschaftlichen Relevanz (qua „funktionalistische[r] Fachkonzeption“, Werlen, 2014, 295) verpflichtet, war für den sogenannten Mittelbau die praktizierte Kritik schon umfassender, mitweilen gar fundamentaler Natur (exemplarisch siehe Pohl, 1986).

Aus dieser Konstellation ergab sich eine für die Münchner Sozialgeographie typische Sowohl-als-auchPosition innerhalb der deutschsprachigen Humangeographie: Offen für den Ruf nach einer neugefassten Geographie à la „Kiel 1969“, war das Institut an der Ecke Luisen- und Gabelsbergerstraße gleichwohl einer systemerhaltenden Definition von Relevanz verpflichtet, die immerhin ansatzweise etwas mit Rudi Dutschkes, von Gramsci inspirierten, Gang durch die Institutionen gemein hatte. Laut Benno Werlen war in dieser Hinsicht die Geographie als Ganze sehr eigen gepolt:

„Im Rahmen des Positivismusstreits der deutschen Soziologie war der Unterschied zwischen kritisch-rationaler und gesellschaftskritischer Position gerade der Hauptstreitpunkt: Sollte Sozialwissenschaft Sozialtechnologie oder Sozialkritik sein? Was in den Sozialwissenschaften Gegenstand tiefgreifender Spaltung war, spielte in der geographischen Debatte nur deshalb keine Rolle, weil die gemeinsame Ablehnung des Hergebrachten die geographische Studentenschaft einigte“ (Werlen, 2014, 295; siehe hierzu auch Michel, 2014, 301).

Hards frühere Anmerkung, dass Debatten in der Geographie nach „Kiel 1969“ als „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ bezeichnet werden können, trifft diesen Umstand anders, wenn auch auf nicht minder prägnante Art (Hard, 1971).

War das Geographische Institut der TUM in den 1980er Jahren also eine weitgehend theorieferne Zone, in welcher wissenschaftliches Tun dem Erlernen kritischer Reflexionsfähigkeiten gegenüber priorisiert wurde, so war eine solche forschungspraktische Rangordnung nicht auch gleichbedeutend mit der Abwesenheit von kritischen Diskussionen oder auch von politischer Arbeit. Kritische Arbeitskreise, angewandte Methodenkritik im Unterricht, das Engagement Einzelner in der SPD oder bei den Grünen trugen dazu bei, dass die Grenzen systemimmanenter Praktiken zumindest umrissen, wenn selten auch nur überschritten wurden.

Als Garant für das institutionelle Infragestellen analytischer Grenzen gab es am Geographischen Institut der TUM dann noch Heiner Dürr. Gewissermaßen zwischen den Stühlen als minderbefugter Professor lehrend, und uns Studierenden primär wegen seiner Kenntnisse in Sachen „Dritter Welt“ vertraut, war Dürr vor allem als Vertreter einer „offene[n] Geographie“ (Dürr, 1979) geschätzt. „Offen“ hieß hier vor allem: aufgeschlossen sein für neue Gedanken und auch ihm nicht geläufige Themen und Methodenansätze. Als beispielsweise der Verfasser dieser Zeilen im Jahre 1984 mit dem Plan an ihn herantrat, eine Diplomarbeit über Obdachlosigkeit zu schreiben, deren empirischer Teil durch Veröffentlichungen von Anthony Giddens und den Vertretern schwedischer Zeitgeographie theoretisch strukturiert werden sollte, war Dürr offenen Ohres und bot kritische Begleitkommentare an (siehe Strohmayer, 1988). Dürr war hierin nicht allein, wie ein Blick in die Themen der seit 1953 vom Institut verantworteten Münchner Geographischen Hefte verdeutlicht, in welchen zeitgenössischer Aktionsraumforschung (Klingbeil, 1978), räumlichen Planungskonflikten (Kuhn, 1978) oder auch der Verbreitung nicht ursprünglich in der deutschen Sprache verfasster Arbeiten (Buttimer, 1984) Raum geboten wurde.

Der Zweiklang aus gesellschaftsrelevanter und gesellschaftskritischer Sozialgeographie war also im Alltag am Geographischen Institut der TUM, damals noch im Hauptgebäude angesiedelt, ein hierarchischer: Wolfgang Hartke war als éminence grise bisweilen sichtbar, der vordem genannte Günter Heinritz als sein direkter Nachfolger und Robert Geipel (im Institut weniger als Bildungsgeograph denn als angewandter Risikoforscher sichtbar; siehe Geipel, Pohl und Stagl, 1988) hatten ihre jeweiligen Territorien als Leitwölfe abgesteckt und tolerierten bisweilen innovative akademische Praktiken, und der vergleichsweise machtfern verortete Heiner Dürr durfte auf einem weniger sichtbaren Posten anhand von damals recht neuen Dependenztheorien versuchen, Studierenden den damals noch nicht so benannten „globalen Süden“ nahe zu bringen. Oberflächlich gesehen war diese Hierarchie der direkte Ausdruck eines Generationenkonfliktes; wichtiger erscheint im Rückblick die direkte Abschwächung nicht allein des Stellenwerts von Kritik, sondern (und darin verwoben) des Beitrags, den radikale Theoriearbeit im Zuge wissenschaftlichen Arbeitens zu leisten in der Lage war. Mit anderen Worten, „Theorie“ war im Münchener Geographie-Machen stets methodologisch verankert und somit von Anbeginn empirisch gedacht.

Das Ergebnis durfte der Verfasser der oben genannten Diplomarbeit im Rahmen der obligatorischen mündlichen Prüfung direkt erfahren. Die prüfenden dramatis personae sollen unbenannt bleiben, waren aber klar hierarchisch im Prüfungszimmer verteilt. Das Ereignis mündete im bis heute im Gedächtnis verbliebenen Satz des Prüfungsleiters: „Herr Strohmayer, ich versuche nun seit den 1960er Jahren einen praktischen Sinn in den Schriften Adornos zu finden und es tut mir leid, aber auch Sie haben es nicht geschafft, mir denselben zu entschlüsseln.“ Die Anekdote dient hierbei allein der Erhellung der Tatsache, warum es – den Arbeiten Gerhard Hards, Hans-Dietrich Schulz', Ulrich Eisels, Benno Werlens und anderer zum Trotz (siehe Belina, 2009 für eine Spurensuche „anderer“) – noch 20 Jahre brauchen sollte, bis im Jahre 2004 eine theorieorientierte, kritische, pluralistische und zugleich empirisch verankerte Form der Humangeographie in Leipzig eine kollektive Stimme erhalten sollte.

Die Münchner Schule der Sozialgeographie, welche hier als Beispiel des praktischen Vermächtnisses von „Kiel 1969“ angeboten wird, hatte den oben angeführten ‚Zweiklang‘ zwischen Kritik und Relevanz im Lehr- und Forschungsalltag also gewissermaßen zu Ungunsten einer entweder epistemologisch mächtigen oder ontologisch fundamentalen Kritik entschieden. Im Studienalltag jedenfalls spielte weder die eine noch die andere Form der Kritik eine maßstabsetzende Rolle, was angesichts des örtlichen Kontexts kaum überraschen kann: München war zur damaligen Zeit nicht vergleichbar etwa mit West-Berlin, wo die aktive Hausbesetzerszene eine den Alltag prägende Präsenz besaß und „Kritik“ demensprechend allgegenwärtig war. Dürrs treffende Benennung, gemünzt auf Eyal Weizmans Arbeiten über koloniale räumliche Praktiken des Staates Israel, einer „engagierte[n] Forschung“, „deren Ziel es ist, Handlungen auf konkrete, namhafte Akteure zurückzuführen und mit dieser Kenntnis politische Entscheidungsprozesse zu beeinflussen“ (Dürr, 2011), trifft deshalb in gewissem Maße das Manko der selektiven Erinnerung an „Kiel 1969“.

Bezeichnend ist dabei ja nicht minder, dass der Mangel von Kritik sich nicht allein in der Form einer kaum je artikulierten gesellschaftlichen Kritik offenbarte, sondern auch als fehlender Einspruch gegen universitäre Missstände verwirklichte. Die symbolische Wirkung von „Kiel 1969“ war in München, wie eigentlich überall an bundesdeutschen geographischen Lehrstühlen, dem geographischen Wissenschaftsbetrieb, nicht aber der tragenden Wissenschaftsstruktur, gewidmet. Und obwohl dieser Sachverhalt sicher kein Alleinstellungsmerkmal der Geographie ist (wie Peter Weichhart im Rahmen der Kieler Diskussion im Jahr 2019 zurecht anmerkte), so bleibt doch festzuhalten, dass der Erinnerungsort „Kiel 1969“, gerade im Kontext des ‚anti-autoritären‘ Impulses der späten 1960er Jahre, dem Begriff der ‚Macht‘ damals wenig Erklärungskraft zugestanden hat. Die Folgen hiervon zeigen sich bis heute in weitestgehend unhinterfragten, mitunter feudal anmutenden, hierarchischen Strukturen an deutschen Universitäten, wie auch in der strukturellen Akzeptanz verlängerter prekärer Arbeitssituationen. Gerade die fortdauernde Existenz eines hochmobilen akademischen Prekariats war damals wie heute systemerhaltend – aber wurde als solches kaum je thematisiert und im günstigsten Fall durch die persönliche Intervention einer machtausübenden Person abgefedert. Die Tatsache, dass sich der Gestus „Kiel 1969“, so er sich überhaupt auf einen Vergleich mit außerhalb der bundesdeutschen Geographie prägenden Strukturen und Praktiken einließ, allenfalls auf die gerade im angelsächsischen Raum verbreitete Radikalität sowohl der quantitativ-theoretischen Neuerung wie auch der marxistischen oder kulturgeographischen Wende verwies, ist hierbei bezeichnend. Ist es wirklich keinem der damals tätigen Geographen oder keiner der wenigen damals fest angestellten Geographinnen bewusst geworden, wie anachronistisch und einem offenen Dialog diametral entgegenstehend die hierarchische Universitätsstruktur war und ist? War es wirklich undenkbar, einfach einmal den Blick auf ‚andere‘ Strukturen zu werfen (oder solche zu erfinden) und sich für eine gerechtere, generationenübergreifende, inklusive Ordnung an bundesdeutschen Universitäten einzusetzen?

Die Tatsache, dass unter den vordem genannten, theorieaffinen Geographen etwa Schulz bei Hard und Werlen zumindest kurz bei Bartels ihren jeweiligen Gedanken Form gaben, zeigt ja zumindest, wie abhängig der von „Kiel 1969“ ausgehende, disziplin-immanente Veränderungsimpuls von persönlich geschaffenen und für den Zeitraum einer Doktorarbeit oder Habilitation erhaltenen Schutzräumen sowie den hieraus sich ergebenen Netzwerken war. Deren Abwesenheit an einer Mehrzahl deutscher Geographielehrstühlen war es dann auch, die eine weitergreifende Veränderung geographischer Praktiken im Wege stand. Ist die These zu gewagt, dass sich hieran bis heute – der fünften Novelle des deutschen Hochschulgesetztes im Jahre 2002 nicht zum Trotze – wenig geändert hat?

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Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Danksagung

Die Abfassung dieses persönlichen Beitrags basiert auf einem Vortrag anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Geographentags 1969 auf dem Deutschen Kongress für Geographie 2019, ebenfalls in Kiel. Mein Dank gilt meinen Ko-Kommentator*innen Julia Verne und Peter Weichhart, den Organisator*innen der Veranstaltung Benedikt Korf und Ute Wardenga sowie all jenen, die zum Zuhören gekommen waren. Darüber hinaus gilt mein Dank auch den Autor*innen der vielen Kommentare, die mir in Kiel und hernach per E-Mail die Vielschichtigkeit des von mir angesprochenen Kontextes nahegebracht haben; vor allem danke ich den ‚Ehemaligen‘ Hans-Jörg Brey, Walter Kuhn und Sabine Tzschaschel für ihre sehr konstruktive Kritik. Ein herzliches Merci auch an Benno Werlen für verschiedene Gespräche zum Thema. Alle verbleibenden Fehler sind selbstredend allein von mir zu verantworten.

Begutachtung

This paper was edited by Benedikt Korf and reviewed by one anonymous referee.

Literatur

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Short summary
This intervention into the ongoing evaluation of Kiel 1969 within german-speaking human geography adds a personal voice to those debates. The focus of the paper is on practices defining the Department of Geography at the Technical University Munich during the 1980s. Discussing research and teaching, structures and personalities defining geography at this institution, the paper positions the revolution ostensibly emanating from the 1969 Geographentag in the context of everyday experiences.