Book review: Österreich – Raum und Gesellschaft
Seger, M.: Österreich – Raum und Gesellschaft, Klagenfurt am Wörthersee, Verlag des Naturwissenschaftlichen Vereins für Kärnten, 648 ff., ISBN 978-3-85328-087-4, EUR 39,00, 2019.
Es ist ein außergewöhnlich umfang- und materialreiches Werk über Österreich anzuzeigen: 648 Seiten im Großformat cm, mit einem Gewicht von 3,8 kg, 450 Graphiken und Diagrammen, 1200 Fotos, 33 doppelseitigen Karten und 650 Literaturtiteln, das zugleich einen extrem günstigen Ladenpreis besitzt.
Bevor eine Bewertung erfolgt, müssen zuerst Konzeption und Inhalt vorgestellt werden. Das Werk ist sehr klar in drei Teile gegliedert: (1) „Raum und Gesellschaft“, (2) „Vermessung der Landschaft“, (3) „Porträts der Bundesländer“. Dabei sind Teil 1 und 2 österreichweit angelegt (S. 1–243), während der sehr umfangreiche Teil 3 (S. 244–633) die neun Bundesländer einzeln vorstellt.
Teil 1 entwirft zu Beginn im Abschnitt „Österreich. Der Staat und sein Territorium“ zentrale Charakteristika von Österreich, wobei die Geschichte eine wichtige Rolle spielt. Dann werden „Bevölkerung, städtischer und ländlicher Raum“ und „Gesellschaftliche Prozesse und Disparitäten“ dargestellt. Darauf folgt „Erwerbsstrukturen und Wirtschaft, Daseinsvorsorge“, „Landschaft, Landwirtschaft und Wald“ sowie „Tourismus als Wertschätzung von Landschaft und Kultur“. Alle Themen werden extrem materialreich und unter Auswertung neuester statistischer Daten aufgearbeitet, wobei die über 100 Karten auf Bezirks- und Gemeindeebene besonders ins Auge fallen, die viele Sachverhalte in ihrer räumlichen Verbreitung präsentieren. Abgerundet wird die Darstellung durch Diagramme, Tabellen und aufschlussreiche Fotos, sodass bei jedem Themenfeld ein äußerst differenziertes Bild entsteht.
Teil 2 beginnt mit Landnutzungs-Karten über ganz Österreich im Maßstab 1:200 000 (kartographische Umsetzung: Thomas Hafner), die auf 60 Seiten erstmals publiziert werden, deren Methodik zu Beginn erläutert wird und die durch drei doppelseitige Übersichtskarten „Österreich und seine Nachbarschaft“ im Maßstab 1:750 000 abgerundet werden (de facto ein Atlas im Buch). Darauf folgen die Abschnitte „Die geologisch-morphologische Landesnatur“, „Die Landschaften der Klimaelemente“ und „Artenvielfalt und Biotoptypen – die Vegetationsstruktur“. Abgeschlossen wird dieser Teil durch den Abschnitt „Umweltbewertungen“, in dem Böden, Gewässer und Schutzgebiete gesondert dargestellt werden, weil sie jeweils eigene Rechtsmaterien darstellen. Auch in diesem Teil verdeutlichen wieder sehr viele Karten, Diagramme, Tabellen und Fotos die dargestellten Sachverhalte.
Teil 3 ist nicht nur mit Abstand der umfangreichste, er wird auch im Vorwort auf besondere Weise begründet: Den Bundesländern kommt „… im Sinn der regionalen Identität und der raumbezogenen Zugehörigkeit große Bedeutung zu, stellt doch das eigene Bundesland den Mittelpunkt der Lebensinteressen für den Großteil der Bevölkerung dar. Mit den ‚Porträts der Bundesländer‘ wechselt eine wissenschaftsnahe Perspektive zu einer alltagsweltlichen Sicht“ (S. 9). Die Darstellung jedes Bundeslandes beginnt mit einem „Überblick“ (zentrale Charakteristika, Abriss der territorialen Entwicklung, Naturräume, administrative Gliederung, Leitideen der Raumordnung, Bevölkerung und Wirtschaft), und dann folgen umfangreiche Vorstellungen aller Einzelregionen (Bezirke oder Gruppen von Bezirken). Auch in Teil 3 gibt es zahlreiche Karten, Diagramme und Tabellen; was hier aber besonders ins Auge fällt, ist die sehr große Zahl von Fotos, die meist vom Autor stammen und ausgesprochen aussagekräftig sind – zusammen mit dem Text und den anderen Abbildungen sorgen sie dafür, dass sich auch regionsfremde Personen ein gutes „Bild“ der regionalen Vielfalt Österreichs machen können.
Die thematische Breite, die in dieser Konzeption sichtbar wird, geht über eine geographische Darstellung deutlich hinaus (vor allem in den Bereichen Geschichte, Kunstgeschichte, Volkskunde, Soziologie). Um dieser Breite inhaltlich gerecht zu werden, hat Martin Seger eine Reihe von österreichischen Geographen und von Vertretern von Nachbardisziplinen einbezogen, die Texte von ihm kritisch redigiert und kürzere Texte beigesteuert haben, die gut in das Gesamtwerk integriert sind.
Zur Bewertung: Zum Charakter dieses Werkes: Es ist auffällig, dass Martin Seger sein Werk weder im Titel noch im Text als „Länderkunde“ bezeichnet, obwohl er im Vorwort explizit erwähnt, dass es an die Werke von Lichtenberger (1997) und Jülg (2001) anschließt, die als Länderkunden ausgewiesen sind. Auch die Gliederung des Werkes folgt der Logik der Länderkunde, wobei lediglich die Reihenfolge Physische Geographie – Humangeographie umgedreht ist (so wie es in den letzten Jahrzehnten oft gemacht wird, um den Verdacht eines Naturdeterminismus zu entkräften): Teil 1 behandelt Bevölkerungs-, Siedlungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeographie, Teil 2 Geomorphologie, Klimageographie und Vegetationsgeographie, in Teil 3 kehren diese Teilbereiche auf der Ebene der Bundesländer und der Regionen wieder. Und die gesamte Darstellung verfolgt das Ziel, die dargestellten geographischen Einheiten in idiographischer Perspektive als „Raumindividuen“ vorzustellen.
Gegenüber einer herkömmlichen Länderkunde setzt Martin Seger drei eigenständige Akzente: Die besondere thematische Breite, der starke Stellenwert der Landnutzung sowie der Fokus auf Bundesländer und Regionen. Vom oft kritisierten „Schema der Länderkunde“ ist hier nichts zu merken, im Gegenteil: Es handelt sich um eine sehr lebendige, stimmige und originelle Länderkunde. Der Rezensent hat den Eindruck, dass Martin Seger den Begriff „Länderkunde“ nur wegen seiner aktuell negativen Besetzung vermeidet, dass für ihn aber die Konzeption der Länderkunde für eine Regionale Geographie alternativlos ist.
Zur besonderen Bedeutung der Länderkunde in Österreich und der Schweiz: Da die Kleinstaaten Österreich und Schweiz nicht in das Nationalstaatenkonzept des 19. Jahrhunderts passen, müssen sie sich im 20. Jahrhundert explizit ihrer staatlichen Identität vergewissern. Dabei spielen Geographen eine wichtige Rolle, die immer wieder Gesamtbilder ihres Staates erarbeiten, die die staatliche Identität aus geographischer Perspektive definieren und festigen. Deshalb gibt es – im Unterschied zu Deutschland – sowohl in Österreich (Krebs, 1928; Gsteu, 1936; Leidlmair, 1983; Lichtenberger, 1997; Jülg, 2001) als auch in der Schweiz (Früh, 1930–45, Leemann, 1939; Egli, 1947; Gutersohn, 1958–64, Wiesli, 1986; Racine und Raffestin, 1990; Wachter, 1995; Schneider-Sliwa, 2012) ausgesprochen zahlreiche Länderkunden, die oft hohe Auflagen erleben. Mit diesen Länderkunden besitzt das Fach Geographie lange Zeit im Kontext der Wissenschaften eine hohe Anerkennung und im Kontext des öffentlichen Lebens eine große gesellschaftliche Relevanz.
In diesen Rahmen gehört auch das Werk von Martin Seger: Österreich erlebt im 20. Jahrhundert zahlreiche Umbrüche (1919, 1938, 1945, 1955, 1995), die seine Identität stark betreffen, und im programmatischen Text auf der Rückseite des Buches wird darauf explizit Bezug genommen: Dieses Werk „… versteht sich als mehrschichtiges Porträt der Republik – ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung und 75 Jahre nach ihrer Wiedergründung“. Zwar formuliert der Autor seinen Anspruch auf bescheidene Weise („Österreich … ist durch eine Reihe von Eigenheiten gekennzeichnet, die, unvollständig angeführt, dem Folgenden vorangestellt seien“, S. 12), aber nichtsdestotrotz besitzt dieses Österreich-Porträt den Anspruch, ein neues Gesamtbild dieses Landes zu entwerfen, das nicht nur eine wissenschaftliche (Teil 1 und 2), sondern auch eine gesamtgesellschaftliche Relevanz (Teil 3) besitzen soll. Der Rezensent hat den Eindruck, dass diese Aufgabe überzeugend gelungen ist.
Zur Art und Weise der Darstellung: Das gesamte Werk ist durch eine naturwissenschaftlich geprägte Argumentationsstruktur geprägt, bei der die erarbeiteten Inhalte quasi objektiv dargestellt werden. Dies verwundert, weil der Entwurf eines Österreich-Porträts so komplex ist, dass es dabei eigentlich nie eine einzig richtige, sondern stets mehrere mögliche Antworten gibt, die gegeneinander abgewogen werden müssten – eine Diskussion darüber findet jedoch nirgends statt. Weiterhin fällt auf, dass die gesamte Darstellung deskriptiv ausgerichtet ist: Es werden zwar sehr viele Probleme angesprochen, aber diese werden neutral beschrieben – so als ob sie die österreichische Identität auf den verschiedenen Ebenen nicht beeinträchtigen oder in Frage stellen. Dies erscheint selbstwidersprüchlich, denn der Prozess z. B. der Verstädterung und Entsiedlung bedroht durchaus die regionale Vielfalt und die regionalen Identitäten. Diese Form der Darstellung passt für den Rezensenten nicht zur Zielsetzung dieses Buches, aber hier folgt Martin Seger sehr deutlich dem Geographie-Verständnis seines Lehrers Hans Bobek, dem Begründer der Wiener Schule der Sozialgeographie (siehe dazu Lichtenberger, 1975:49 ff.).
Zur Bedeutung dieses Werks innerhalb der aktuellen Geographie: Die Geographie hat sich seit etwa 30 Jahren immer stärker auf immer kleinere Teilgebiete spezialisiert, sie legt seit etwa 10 Jahren ihren inhaltlichen Fokus stark auf die Analyse hybrider Lebensformen und Lebensräume, die jenseits fest abgegrenzter Räume untersucht werden, und sie orientiert sich dabei – bei Infragestellung scheinbar objektiver Gegebenheiten – oft an diskurstheoretischen Methoden. Das Werk von Martin Seger liegt bei allen drei Aspekten wie ein großer erratischer Block in der aktuellen geographischen Landschaft. Es würde aber zu kurz greifen, es deshalb als „unzeitgemäß“ abzutun: Martin Seger gelingt es auf eine anschauliche und eindrückliche Weise, für einen konkret abgegrenzten Raum das so komplexe Zusammenspiel von natürlichen und menschlichen Faktoren – vermittelt über die geschichtliche Dimension – aufzuschlüsseln und darzustellen. Und dabei zeigt sich, dass eine solche „integrative“ Analyse nicht nur wichtige Zusammenhänge aufdeckt, sondern dass sie auch praxis- und politikrelevant ist (auch wenn Seger dies nicht selbst thematisiert) und sogar breite Bevölkerungskreise anspricht – was kann dem Fach Geographie Besseres passieren? Es fragt sich, ob die aktuelle Geographie nicht gut beraten wäre, wieder mehr vom traditionellen Erbe des Faches Geographie aufzugreifen.