Articles | Volume 76, issue 1
https://doi.org/10.5194/gh-76-81-2021
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Book review
 | 
31 Mar 2021
Book review |  | 31 Mar 2021

Book review: Stresserleben, Emotionen und Coping in Guangzhou, China. Mensch-Umwelt-Transaktionen aus geographischer und psychologischer Perspektive

Volker Kaminske
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Bercht, A. L.: Stresserleben, Emotionen und Coping in Guangzhou, China. Mensch-Umwelt-Transaktionen aus geographischer und psychologischer Perspektive, Franz Steiner, Stuttgart, 445 S., ISBN: 978-3-515-10403-6 (Print), EUR 64.00, ISBN: 978-3-515-10414-2 (eBook), Open Access, 2013.

Die Rezeption wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Klimawandel verläuft in der Gesellschaft seit ca. 30 Jahren schleppend, obwohl die vorgebrachten Argumente oft eine sehr eindringliche Sprache sprechen. Aber erst im vorletzten Jahr kam z. B. durch Einbeziehung emotionaler Komponenten („Greta-Effekt“) eine Bewegung in die Klimawandeldebatte. Im letzten Jahr prägte Corona die wissenschaftliche Diskussion nachhaltig. Es gab aber auch hier zunächst sehr widersprüchliche Meinungen innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion. Häufig standen kognitive gegen emotional geprägte Argumente, ohne dass dabei eine Verständigung erkennbar wurde. Was lief (und läuft) hier falsch, und was müssen wir in Zukunft bei der Präsentation von Informationen sowie bei Wahrnehmungs- und Entscheidungsanalysen besser berücksichtigen?

Es geht primär um Wahrnehmung, ihre Bewertung und ihre Beantwortung: In der neueren Forschung wird die Eigenschaft, mit wahrgenommenen bzw. erfahrenen negativen Veränderungen sinnvoll umzugehen, als Resilienz bezeichnet. Eine solche Resilienz setzt voraus, dass reale Bedingungen der natürlichen und sozialen Umwelt einer – individuell unterschiedlichen – Bewertung unterliegen, deren Ergebnisse in der Regel wieder zu einer realen Reaktion führen. Die zu überprüfenden Rahmenbedingungen beziehen sich dabei hauptsächlich auf eine Bewertung solcher natürlichen und sozialen Rahmenbedingungen. Diese beruhen auf geographischen bzw. soziologischen Fakten, werden aber durch individuelle Bewertungen ein Faktor psychologischer Analysen. Fallen die Bewertungen von Angebot und Erwartung auseinander, entsteht Stress.

Da stresserzeugende Situationen gerade in heutiger Zeit deutlich zunehmen, scheint es sinnvoll, auf Untersuchungen zurückzugreifen, die diese Problematik aufgreifen. Das ist nicht ganz einfach, weil räumliche und soziologische Probleme mit psychologischer Fragestellung bisher nur marginal bearbeitet wurden. Anhand der Arbeit von Anna Lena Bercht wird dies hier exemplarisch vorgestellt, weil die Problematik nicht nur in Theorie und Praxis ausführlich dargelegt wird, sondern aufgrund der seit ihrer Publikation vergangenen Zeit auch erkennbar wird, inwieweit die Erkenntnisse zutreffen.

Mit der Arbeit von Bercht können wir davon ausgehen, dass zwischen der Wahrnehmung und den kognitiven Prozessen von Bewertung und Entscheidung sowie Reaktionen darauf viele unterschiedliche Faktoren auf das Individuum einwirken, die von Umgebung und Zeit abhängig sind und in unterschiedlichem Maße zu Stress (Abweichen der wahrgenommenen Realität und der normativen Erwartungen) führen. Ob dieser Stress dann Anlass für ein positives (konstruktives) oder negatives (destruktiv-hinnehmendes) Verhalten wird, hängt von dem Toleranzniveau des Individuums ab. Stresserleben und Coping (d.h. Bewältigungsstrategie aufgrund einer Neubewertung von Mensch-Umwelt-Beziehungen) sind daher zwei zentrale Begriffe dieser Arbeit.

Einer der wesentlichen Aspekte zum Verständnis liegt wohl in einer gedanklich ablaufenden Trennung zwischen Sachverhalt (kognitiver Vorgang) sowie persönlicher Einstellung und Reaktion dazu (behavioristischer Vorgang): Ein Phänomen, das bei vielen anderen Entscheidungsvorgängen in ähnlicher Form ebenfalls auftritt. Grund für eine unterschiedliche Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen ist dann meist die fehlende Stringenz bei der Umsetzung von Wahrnehmung in Bewertung und Aktion. Dies deshalb, da es für die Träger solcher Vorgänge eine überaus große Auswahl möglicher Alternativen gibt, die realisierbar sind. Gleichzeitig ist aber auch zu berücksichtigen, dass individuelle Bewertungsniveaus sich direkt auswirken auf konkrete Handlungen. Insofern liegt es nahe, gezielt auf die psychologische Basis von Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozessen zurückzugreifen, um mit dieser die denkbaren Alternativen sinnvoll interpretieren und bewerten zu können, wie es Bercht durchgeführt hat.

Was hier an einem Beispiel der Region Guangzhou/China präsentiert wird, wurde von der Autorin auch in einer Folgearbeit (Verhaltensweise norwegischer Fischer auf den Lofoten in Norwegen als Folge des Klimawandels) wiedergefunden.

Die Bedeutung von Wahrnehmen, Bewerten, Umsetzen sind vor allem dann von grundlegender Bedeutung, wenn es um die Bewältigung von substanzbedrohenden, räumlichen Stress-Situationen geht, wie sie bei raumbezogenen Problemen regelmäßig vorkommen.

Die hier herangezogene Arbeit bearbeitet diesen Themenkomplex anhand eines regionalen Beispiels in Südchina. Sie gliedert sich in zwei deutlich unterscheidbare, aber direkt aufeinander bezogene Teile:

Teil 1: Hier werden die Begriffe von Stress, Coping und Resilienz (Bewältigung einer Problemsituation durch Anpassungsreaktionen) in ihrem Bedeutungsumfeld vorgestellt. Herleitung, gängige Definitionen, Zielsetzungen sowie Schnittmengen ähnlich gebrauchter Begriffe wie Vulnerabilität, Stress, Erwartungshaltung, emotionale Diskrepanz zeigen die große Breite möglicher Erklärungsmöglichkeiten in Mensch-Umwelt-Handlungsprozessen auf. Wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen einer primären Bewertung („Liegt eine Bedrohung vor?“) und einer sekundären Bewertung („Was kann ich tun?“). Die Existenz einer selektiven Wahrnehmung mit der Folge individuell unterschiedlicher Reaktionsmuster wird als Problem erkennbar. Die Einflussgrößen menschlichen Handelns – Wollen, Können, Dürfen und situativer Kontext – sind wegen der individuellen Bewertungen für das betreffende Umfeld jeweils sorgfältig auszuloten. Als Ergebnis dieser Analyse darf angenommen werden, dass die auf Alltagserfahrungen beruhende Einordnung von stressauslösenden Merkmalen nie statisch ist, sondern stets den jeweiligen Mensch-Umwelt-Situationen neu angepasst wird. Inwiefern bestimmte Faktoren als problematisch oder belastend eingestuft werden, ergibt sich aber erst durch die Wahrnehmung und Bewertung der individuellen Personen in Wechselwirkung mit ihrem aktuellen und regionalen Umfeld.

Teil 2: Dieser Teil versucht, für diese Annahmen Belege zu finden im Zusammenhang mit dem geplanten Bau eines Großbahnhofs im Bereich von Guangzhou. Guangzhou ist eine der für Gesamtchina wichtigsten infrastrukturellen Standorte im Schienenverkehr. Hier wird das Netz in Richtung Zentralchina, in die nördliche Tiefebene, das südchinesische Bergland und in die Küstenregion (Hongkong, Macao) ausgerichtet. Die zunächst wichtigste Information bezieht sich auf die Methoden, die es Bercht ermöglichen, aussagefähige Informationen zur Verifizierung bzw. Falsifizierung ihrer Hypothesen gewinnen zu können. Sie setzt auf die Methode der Autophotographie und ergänzende narrative Informationstechnik unter Mithilfe der dortigen Universität. Dies verringert die sonst denkbaren Kommunikationsprobleme. Bei der Autophotographie photographieren Interviewpartner (gemäß Fragestellung) einen Bildausschnitt, der ihrer/seiner Meinung nach mit der Frage am meisten zu tun hat. Das heißt: Diese Methode spiegelt mit jedem Bild auch den Relevanzfilter des jeweiligen Betrachters wider. Das Anfertigen von Bildern durch die Befragten selbst vermindert Falschinterpretationen durch die Interviewer, wie sie sonst bei mündlichen Befragungen üblich sind.

Die präsentierten Ergebnisse zeigen, dass vorhandene Stress-Situationen und damit auch die Reaktion darauf von verschiedenen Ebenen im Bewertungsraster abhängen. Hierbei gehen so verschiedene Problembereiche wie Heimatverlust, Trinkwasserqualität, Korruption oder Kriminalität in eine Bewertung ein, die dann in sehr unterschiedlicher Weise zu Reaktionen (Coping) führt. Es wird deutlich, dass eine Reaktion zwischen Stress oder Stressvermeidung schrittweise abläuft („betrifft es mich: ja oder nein?“).

Dass trotz der vielen geprüften Einflussgrößen Unsicherheiten in der Bewertung bestehen bleiben, geht aus dem Punkt „Kontrolle/Unkontrollierbarkeit“ hervor. Da gerade in China zwischen den kognitiven („bestehen Zielinkongruenzen?“) und den emotionalen („gibt es Hoffnung?“) wie auch den evaluativen („habe ich Vertrauen in Information?“) und pragmatischen Faktoren („gibt es Einflussmöglichkeiten?“) eine starke Unsicherheit besteht, ist die Wahrscheinlichkeit bei Betroffenen groß, die Bedeutung der subjektiven Wahrnehmung herunterzuschrauben (Verleugnen), um so weiterem Stress zu entgehen. Diese Reaktion lässt sich in der Tat häufig feststellen. Vermutlich gilt dies in anderen Regionen und bei anderen Fragestellungen ebenfalls, so in Europa oder Amerika, so bei Klimawandel oder Corona-Betroffenheit. Auch hier werden die persönlichen Relevanzfilter der Thematik oft weitgehend ausgeblendet.

Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass mit dieser Studie ein wirksames Instrumentarium für wahrnehmungs- und entscheidungsbezogene Vorgänge zum Nachvollzug räumlicher Entscheidungen (aber auch dem Einfluss von Gesellschaft, Kultur, Finanzlage usw.) vorgelegt wurde, das auch entsprechend erweitert werden kann. Was für die Durchführung der Arbeit sicher von Vorteil war, ist die Tatsache, dass es sich bei China um ein Land mit gesteuerter Entwicklung handelt. Das heißt: Die für Emotionen und Handlungen bestehenden Möglichkeiten sind von vornherein reduziert und machen eine Untersuchung überschaubarer und einfacher (z. B. keine Einspruchsmöglichkeiten trotz Verlust von Eigentum und kultureller Identifikation). Für westliche Länder sind eher weitere Faktoren der individuellen Ausprägung, Bewertung und Reaktion anzunehmen.

Insgesamt muss der Autorin bescheinigt werden, dass sie mehrere Aufgabenkomplexe angepackt und in hervorragender Weise gemeistert hat:

  • die Herleitung eines geeigneten Instrumentariums aus der Analyse eines neuformulierten interdisziplinären Ansatzes zwischen Humangeographie und Psychologie;

  • die Schaffung einer verständlichen Kommunikationsebene für die hier angesprochenen Disziplinen und der Anstoß eines unmissverständlichen Dialogs über Sprachgrenzen und kulturelle Grenzen hinweg. Die Arbeit von Bercht ist zwar schon älteren Datums (2013), doch das Thema (Urbanisierung) und die diskutierten Konzepte (Mensch-Umwelt-Beziehung, Wahrnehmung und Bewertung, psychologischer Stress, Resilienz, Vulnerabilität, Coping, Emotionen, die Rolle von Zeit beim Copingverhalten) sind nach wie vor aktuell. Inhaltlich gäbe es Anknüpfungspunkte an gegenwärtige Themen aus der Nachhaltigkeits- und Global-Change-Forschung, z. B. in Bezug auf die Rolle von Emotionen, Personenvariablen (z. B. Kontrollüberzeugungen, Optimismus), Umweltfaktoren (Politik, Kultur etc.) und der Zeitwahrnehmung bei der Veränderung von Handlungsmotivationen und Verhalten (z. B. Nachhaltigkeitstransformation). Auch die bei der Datenerhebung verwendete Methode der Autophotographie vermag z. B. für die Analyse der Wahrnehmung von Lebensveränderungen und Handlungsoptionen hilfreich zu sein. Es ist daher zu wünschen, dass die Konzepte und Ergebnisse der Studie von Bercht den Weg zu einem weiteren Verständnis von Wahrnehmungs- und kognitiven Bewältigungsprozessen führen, wie sie in der Corona-Pandemie, aber auch in der Klimakrise gerade momentan tagtäglich auf uns einstürmen, und sinnvolle Interpretationen nach sich ziehen.