Articles | Volume 77, issue 3
https://doi.org/10.5194/gh-77-341-2022
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Book review
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16 Sep 2022
Book review |  | 16 Sep 2022

Book review: Urban Displacements. Governing surplus and survival in global capitalism

Florian Janik
Dates

Soederberg, S.: Urban displacements. Governing surplus and survival in global capitalism, London/New York, Routledge, 310 ff., ISBN 9780367236199, EUR 44.35, 2021.

Meist wird Verdrängung aus dem Wohnraum im Zusammenhang mit Gentrifizierung auf der Quartiersebene untersucht. Doch welche Rolle spielen diese Prozesse in den Verhältnissen des globalen Kapitalismus und welche Position nehmen die Verdrängten darin ein? Mit Urban Displacements gelingt Susanne Soederberg die Verknüpfung der Wohnungsfrage mit dem breiteren Kontext der Produktionsverhältnisse des postfordistischen Kapitalismus. Sie verbindet dabei Verdrängung aus dem Wohnraum mit der Ausweitung der urbanen Dienstleistungsökonomie, der Verschiebung von industrieller Warenproduktion hin zu einer Dienstleistungsökonomie in urbanen Zentren unter dem Druck zunehmender Finanzialisierung und der Etablierung neoliberaler Regierungspraktiken auf europäischer, nationaler und kommunaler Ebene. Diese Entwicklungen führen zu einem parallelen Anstieg von Armut und Reichtum in Städten in Form von überschüssigem Geld und überschüssiger Arbeitskraft (surplus money und surplus population). In drei umfangreichen Fallstudien über die Wohnungsfrage in Berlin, Wien und Dublin vermittelt Soederberg das Wirken dieser grundlegenden Verhältnisse und Prozesse in unterschiedlichen Wohlfahrtsstaaten und Wohnregimen.

Soederberg versteht ihre „renewed housing question“ (17) einerseits als Abgrenzung zu markliberalen Ansätzen (World Bank, 1993; McKinsey Global Institute, 2014), andererseits formuliert sie ihre Perspektive als konstruktive Kritik an den Ansätzen zur Finanzialisierung des Wohnens (Aalbers, 2016). Diese seien zu stark auf die Sphäre der Zirkulation konzentriert, während sie die soziale Reproduktion, die Produktionsverhältnisse sowie die Rolle des Staates und von intersektionalen Diskriminierungsformen unterbeleuchtet lassen. Die sogenannte Wohnungskrise versteht sie nicht als kapitalistische Fehlentwicklung, sondern als Folge der den Verhältnissen inhärenten Tendenz zur Überakkumulation. Soederberg bezieht sich dabei auf ein breites Spektrum marxistischer Ansätze vom historisch-geographischen Materialismus (Harvey, 1999) über die politische Ökonomie und Finanzialisierung des Wohnens (Aalbers und Christophers, 2014; Marcuse und Madden, 2016; Engels, 1984 [1872]; Christophers, 2015; Fine, 2013) sowie racial capitalism (Bhattacharyya, 2018) bis zur Staatstheorie (Keil und Wissel, 2019; Clarke, 1991; Bonefeld und Holloway, 1995).

Die Grundlage für Soederbergs Analyse bildet eine qualitative Erhebung über Interviews und eine Dokumentenanalyse. Der Auswahl der Fallbeispiele Berlin, Wien und Dublin liegen drei Merkmale zugrunde: Sie liegen alle in der Eurozone, bilden jeweils die größten urbanen Zentren ihres Landes und verkörpern jeweils einen besonderen Aspekt des Zusammenhangs von Wohnen mit dem globalen Kapitalismus. Dabei soll es sich nicht um eine vergleichende Studie im herkömmlichen Sinne handeln, etwa zum Zweck der Typenbildung. Vielmehr besteht Soederbergs Anliegen darin zu zeigen, dass die Auswirkungen der Verhältnisse des globalen Kapitalismus in Form von Verdrängung in unterschiedlichen Kontexten überraschend ähnlich ausfallen.

Das Buch besteht aus drei Teilen mit insgesamt neun Kapiteln. In den ersten beiden Kapiteln, die den ersten Teil bilden, beschreibt Soederberg ihren analytischen Rahmen in Abgrenzung sowohl zu neoklassischen Ansätzen der Wohnungsforschung als auch älteren marxistischen Ansätzen. Teil 2 bzw. Kapitel 3 beschäftigt sich mit der Etablierung neoliberaler Regierungspraktiken auf der Ebene der Europäischen Union und ihren Auswirkungen auf die Wohnungspolitik ihrer Mitgliedsstaaten. Dieser Teil der regionalen Maßstabsebene dient Soederberg als Zwischenschritt zwischen den abstrakten Abhandlungen der Prozesse und Strukturen des globalen Kapitalismus und den lokalen Ausprägungen in den Fallbeispielen in einer multiskalaren Analyse. Den dritten Teil des Buches bilden die Kapitel vier bis neun, in denen die Fallstudien behandelt werden.

Der Ausgangspunkt der theoretischen Konzeption liegt bei einer „commodity triad“ (26) aus Wohnen, Arbeit und Geld, wobei die Autorin die sozialen Verhältnisse nachvollziehen möchte, die durch das Zusammenspiel dieser Waren entstehen. Diese Perspektive zeigt, dass die Ursachen von Verdrängung nicht nur in der Sphäre der Kapitalzirkulation liegen, sondern auch in den Bereichen der Produktion von Waren und Dienstleistungen sowie der Lohnarbeit. In den Metropolen nehmen Verdrängung und Wohnungslosigkeit nicht nur deswegen zu, weil Wohnraum zunehmend Ziel von überschüssigem, anlagesuchendem Kapital ist und anhand steigender Mieten Profite abgeschöpft werden. Hinzu kommt ein Mangel an ausreichend bezahlten Arbeitsplätzen.

Die strukturellen Ursachen dieser Situation verortet Soederberg in einer Ausweitung der „credit-led accumulation“ (39) als Antwort auf anhaltende Überakkumulation. Während in den europäischen Dienstleistungsökonomien überschüssiges Kapital immer schwerer produktiv verwertet werden kann, erfolgt die Abschöpfung von Profit zunehmend durch sekundäre Ausbeutung über Miet- und Schuldverhältnisse. Dieser zusätzliche Druck auf Lohnarbeitende führt zu einer weiteren Prekarisierung und Verdrängung derjenigen, die bereits Probleme haben, ihre Arbeitskraft in ausreichendem Maße zu verkaufen. Immer mehr Betroffene geraten dadurch in einen Teufelskreis aus Armut, Verdrängung und Wohnungslosigkeit, den die Autorin treffend als „displaced survival“ (50) bezeichnet. Verdrängung versteht sie damit weniger als das einzelne Ereignis, sondern vielmehr als den Zustand, unter prekären Verhältnissen leben zu müssen.

Die Abschöpfung von Profiten über credit-led accumulation steht damit im Widerspruch zur Reproduktion der Arbeitskraft. Soederberg sieht den Staat zwar grundsätzlich in der Rolle, diesen Widerspruch auszugleichen, jedoch ist neoliberales Regierungshandeln derart hegemonial, dass die Ausweitung der credit-led accumulation oberste Priorität hat, was eine weitestgehend marktorientierte Wohnungspolitik beinhaltet. Diese Tendenz und deren Folgen beschreibt sie im empirischen Teil deutlich.

Den drei Fallstudien ist eine Analyse des Einflusses der EU-Gesetzgebung auf die Wohnungspolitik ihrer Mitgliedsstaaten vorangestellt. Wohnungspolitik selbst fällt zwar nicht in den Kompetenzbereich der EU, jedoch haben EU-Richtlinien weitreichende Konsequenzen für die staatlichen Wohnungspolitiken – insbesondere durch das Wettbewerbsrecht und die Fiskalpolitik. Soederberg beobachtet eine Ausbreitung und Institutionalisierung neoliberaler Prinzipien seit den 1990er Jahren, die den Rahmen staatlicher Regierungspraktiken der Mitgliedsstaaten und somit auch der drei Fallbeispiele vorstrukturieren. Vor allem die Währungsunion sowie der Stabilitäts- und Wachstumspakt drängen die Mitgliedsstaaten zu einer Priorisierung von Wettbewerbsfähigkeit und fiskaler Disziplin. Während Freiheiten des Marktes in Form von Freizügigkeit von Waren und Arbeit auf der europäischen Maßstabsebene seit dem Vertrag von Maastricht institutionalisiert sind, liegen sozialpolitische Maßnahmen im Kompetenzbereich der Mitgliedsstaaten. Wenn auch hier nicht von einer klaren Hierarchie gesprochen werden kann, so ist doch zumindest die Abkehr von Prinzipien des Marktes auf europäischer Ebene schwerer umzusetzen als der Abbau des Sozialstaates in den einzelnen Staaten. Spätestens seit der neuen Runde von Austeritätsmaßnahmen im Zuge der Finanzkrise von 2008 ist diese Tendenz deutlich erkennbar.

In den drei Fallbeispielen besteht Soederbergs Anliegen darin, die Hintergründe vorherrschender Krisennarrative materialistisch zu analysieren. Einer kurzen Übersicht über politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen folgt jeweils eine historische Einbettung der Etablierung von credit-led accumulation neben Neoliberalisierungstendenzen staatlichen Handelns. Anschließend führt die Autorin jeweils ein bis drei Schwerpunktthemen aus.

Im Berliner Fallbeispiel wendet sie sich gleich drei Krisennarrativen zu: dem der Integrationskrise, der Wohnungskrise und der Flüchtlingskrise. Sie stellt dabei überzeugend dar, wie die jeweiligen Krisen ihren Ursprung in Prekarisierungs- und Stigmatisierungsprozessen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt haben, während gleichzeitig die soziale Wohnraumversorgung abgebaut, privatisiert und neoliberalisiert wurde. Als Schlüsselmomente dieser Entwicklung nennt Soederberg die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit, die Einführung des Altschuldenhilfegesetzes sowie die Verschuldung des Landes Berlin im Zuge der Krise um die Berliner Bankgesellschaft im Jahr 2001. Diese Entwicklungen setzten nicht nur eine umfangreiche Privatisierungswelle des landeseigenen Wohnungsbestandes in Gang, darüber hinaus wurden die verbleibenden Berliner Wohnungsunternehmen verstärkt unter das Primat des profitorientierten Handelns gestellt. Unter diesen Umständen fehlt stigmatisierten Gruppen der angemessene Zugang sowohl zum Arbeits- als auch zum Wohnungsmarkt, was Segregation und Verdrängung zur Folge hat. Im vorherrschenden Diskurs allerdings wird das als gescheiterte Integration den Betroffenen selbst zur Verantwortung gemacht.

In der Wiener Fallstudie kritisiert Soederberg das sonst als Paradebeispiel vorgebrachte Modell der dortigen sozialen Wohnraumversorgung. Schon im Roten Wien der Zwischenkriegszeit war die soziale Wohnraumversorgung nicht für alle gleichermaßen zugänglich. Während die Dualisierung des Modells anhand intersektionaler Fragmentierungen seit 2006 zumindest de jure aufgehoben ist (seitdem stehen die sog. Gemeindewohnungen auch Menschen ohne österreichischen Pass offen), bleiben Barrieren de facto bis heute bestehen. Vor allem Migrantisierte, Marginalisierte und Prekarisierte müssen sich auf dem freien Markt mit Wohnraum versorgen, der in Wien aufgrund umfangreicher Neoliberalisierungsprozesse nicht weniger angespannt ist als in anderen europäischen Metropolen.

Im Dubliner Fallbeispiel treten die Abgründe des neoliberalen Modells deutlich zutage. Neoliberalisierung und Marktorientierung sind hier von allen Fallbeispielen am radikalsten und die sozialen Verwerfungen am stärksten – trotz hoher Wachstumsraten. Was diskursiv als Krise der Wohnungslosigkeit gerahmt wird, ist die Folge eines strikten Glaubens an das Heilsversprechen der ausgewogenen Märkte. Die soziale Wohnraumversorgung besteht lediglich aus einer Subventionierung privater Vermieter*innen und selbst Notunterkünfte für Wohnungslose bieten in Dublin ein lukratives Geschäftsmodell. Unter diesen Bedingungen stieg die Anzahl von Familien, die monatlich wohnungslos wurden, zwischen 2008 und 2019 um 1000 % an.

Die Thesen von Urban Displacements überzeugen nicht nur durch die umfassende Unterfütterung durch drei Fallbeispiele, sondern auch anhand der schlüssigen Anwendbarkeit der theoretischen Perspektive auf verschiedene Maßstabsebenen. Das schafft eine Verbindung zwischen alltäglichen Situationen von Prekarisierten und Verdrängten, neoliberalen Regierungspraktiken sowie Strukturen und Prozessen des globalen Kapitalismus – zumindest im europäischen Kontext. Zwar erscheint ihr Begriff der credit-led accumulation als eine recht grobe Kategorie, die keinerlei Unterscheidung zwischen zinstragendem und fiktivem Kapital vornimmt und somit die Feinheiten der Kapitalzirkulation außer Acht lässt. Außerdem widmet sie erstaunlich wenig Raum der Frage, wie credit-led accumulation konkret mit der politischen Ökonomie des Bodens und der gebauten Umwelt in Verbindung steht und sich auf den Wohnungsmarkt oder die Handlungslogiken (kommunaler) Wohnungsunternehmen auswirkt. Dafür gelingt es ihr eindrucksvoll darzulegen, dass die aktuellen Krisen des Wohnens kein Staatsversagen darstellen, sondern die Folge der Hegemonie neoliberaler Regierungspraktiken und damit Ausdruck kapitalseitig verschobener Kräfteverhältnisse sind. Die Erkenntnis, dass die Prekarisierung der Wohn- und Arbeitsverhältnisse zwei Seiten derselben Medaille bilden, stellt eine wichtige Argumentationsgrundlage dar gegen Apologien der Gentrifizierung, die Aufwertung und soziale Durchmischung von Quartieren als geeignetes Mittel zur Armutsbekämpfung sehen, damit jedoch Verdrängung verursachen.

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Literatur

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