Articles | Volume 78, issue 1
https://doi.org/10.5194/gh-78-131-2023
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Book review
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02 Mar 2023
Book review |  | 02 Mar 2023

Book review: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit (The Dawn of Everything. A new History of Humanity)

Philipp Sarasin
Dates

Graeber, D. und Wengrow, D.: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, Klett-Cotta, Stuttgart, 672 S., ISBN: 978-3-608-98508-5, EUR 28.00, 2021 (Originalausgabe: The Dawn of Everything. A new History of Humanity).

Der Anthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow haben ein erstaunliches und seit seinem Erscheinen 2021 auch breit und kontrovers diskutiertes Buch geschrieben. Es ist ein Werk, dessen selbsterklärte Ansprüche nicht höher sein könnten: Die beiden Autoren schreiben in der Einleitung (ich zitiere aus der deutschen Ausgabe von 2022), sie wollten „nicht nur eine neue Geschichte der Menschheit vorlegen, sondern den Leser zu einer neuen Geschichtswissenschaft einladen, durch die unsere Vorfahren ihre volle Menschlichkeit zurückerhalten“ (S. 39). Man könnte sagen, dass dieser Satz schon das ganze Programm ihres Buches in a nutshell enthält. Denn dessen Anspruch besteht einerseits darin, die Menschheitsgeschichte seit den ersten fassbaren Spuren von homo sapiens insofern neu zu erzählen, als diese Dutzende von Jahrtausenden umfassende Geschichte auch als historische begriffen, das heißt als Teil ‚unserer‘ Geschichte verstanden werden müsse. Es sei doch unwahrscheinlich, dass homo sapiens sein seit rund 200.000 Jahren voll entwickeltes Gehirn erst in den letzten wenigen tausend Jahren wirklich gebraucht haben soll. Die frühen Menschen waren, so die Autoren, „einfach nur Menschen, genau wie wir: genauso wahrnehmungsfähig und genauso verwirrt“ (S. 139). Man kann ihnen da, mit einem gewissen erstaunten Zögern, wohl nur zustimmen und ist gespannt darauf, wie eine solche Geschichte zu erzählen wäre.

Und andrerseits nun die „neue Geschichtswissenschaft“: Der damit verbundene Anspruch ist zweifellos kontroverser – und auch politischer. Denn Graeber/Wengrow verstehen darunter eine Geschichtswissenschaft, die in keiner Weise von irgendeiner ‚Logik‘ der Geschichte ausgeht, das heißt zum Beispiel einer evolutionären Verlaufsform, etwa als Funktion der steigenden Kopfzahl menschlicher Gemeinschaften, die mit Notwendigkeit zur Ausbildung staatlicher Bürokratien und Herrschaftsapparate führe, die ihrerseits dann die Entwicklung der Schrift befördere etc. Auch Pfadabhängigkeiten scheint es in ihrem Geschichtsbild kaum zu geben. Im Speziellen bedeutet das aber vor allem die Zurückweisung der marxistischen Annahme, dass es letztlich die Werkzeugentwicklung sei, die als Motor der Geschichte die gesellschaftliche Organisation und deren Entwicklung determiniert. Nicht, dass Technologien keine Rolle spielten – aber, so die Autoren, „die Bedeutung neuer Technologien für die Gesamtrichtung des gesellschaftlichen Wandels“ sei „leicht zu überschätzen“ (S. 531).

In ebenso dezidierter Weise lehnen sie auch alle strukturalistischen und post-strukturalistischen Ansätze seit Lévy-Strauss ab, die die Menschen zu bloßen „Pappfiguren“ degradieren würden. Denn in all diesen Varianten einer von ihnen allerdings sehr holzschnittartig karikierten Geschichtsschreibung – insbesondere ihre Nähe zur tendenziell anarchistischen Geschichts- und Subjektphilosophie Foucaults ist ihnen komplett entgangen – werde den Menschen fälschlicherweise abgesprochen, immer wieder frei wählen und entscheiden zu können, wie sie ihr Zusammenleben gestalten, wie viele Stunden und mit welchen Techniken sie arbeiten wollen, ob sie ihren Nachbarn kriegerisch oder friedlich zu begegnen suchen etc. Die „volle Menschlichkeit“, die dank dieser Zurückweisung aller deterministischen oder strukturalistischen Geschichtsdeutungen unseren Vorfahren wieder zukommen soll, bedeute mit anderen Worten, dass die Menschen spätestens seit den Höhlenzeichnungen von Lascaux und Altamira – also seit rund 20.000, vielleicht auch 30.000 Jahren – in immer wieder neuer Weise bewusst und reflektiert ihre politische Ordnungen und Wirtschaftsweisen gestaltet hätten. Schon „in der Zeit der Jäger und Sammler“, heißt es in diesem Sinne programmatisch in der Einleitung, „fanden mutige soziale Experimente statt, die weit mehr einem Karnevalszug politischer Formen glichen als den öden Abstraktionen der Evolutionstheorie“ (S. 16).

Diese These spitzen Graeber/Wengrow insofern auch noch zu, als sie behaupten, eine herrschaftsfreie Organisation von Gesellschaft sei jederzeit möglich, und das heißt: eine Gesellschaft von – relativ – Gleichen, eine Gesellschaft ohne Hierarchien. Dass mehr oder minder herrschaftsfreie Gesellschaften indigener Völker existiert haben und immer noch existieren, ist an sich keine neue Erkenntnis, doch diese Befunde werden üblicherweise Völkern auf einer ‚einfachen Evolutionsstufe‘, Völkern ohne Landwirtschaft oder Völkern mit einer nur sehr geringen Kopfzahl zugeordnet. Etwas anderes ist es jedoch zu behaupten, der Mensch als grundsätzlich freies Wesen sei jederzeit zu einer solchen Organisation seiner gemeinschaftlichen Angelegenheiten in der Lage. Zwar schildern Graeber/Wengrow auch eine Reihe von indigenen Gesellschaften, die z.B. Sklaven hielten, strenge Hierarchien kannten oder ausgesprochen kriegerisch waren; insofern ist ihre These, dass Herrschaftsfreiheit und Gleichheit möglich seien, weder in naiver Weise geschichtsblind, noch entwirft sie in rousseauistischer Manier das Bild eines fernen, dafür umso glücklicheren Ursprungs. Dennoch überwiegen in ihrer Darstellung des archäologischen und ethnographischen Forschungsstandes mit Beispielen rund um den Globus und aus Tausenden von Jahren jene, die eine zumindest weitgehend herrschaftsfreie Ordnung auch von größeren Gemeinschaften zu belegen scheinen, so etwa in den großen neolithischen oder bronzezeitlichen Städten oder „Megastätten“ (S. 316) wie Nebelivka in der Ukraine, Teotihuacán in Mexico oder die schon frühneuzeitliche Stadt Cahokia im heutigen US-Bundesstaat Illinois, in denen die „Bürger“ jeweils in relativer Gleichheit zusammenleben und ihre gemeinsamen Angelegenheiten regelten. „Die Menschheit“, heißt es daher an einer Stelle etwas salopp, „hat ihre Geschichte vermutlich nicht in einem Zustand uranfänglicher Unschuld begonnen, aber sie begann offensichtlich mit einer bewussten Abneigung dagegen, herumkommandiert zu werden“ (S. 154).

Mit Blick auf die Gegenwart allerdings schleicht sich dennoch zumindest insofern ein gewisser Rousseauismus in die Argumentation der Autoren ein, als sie nicht müde werden, immer wieder zu sagen, dass irgendetwas in der jüngeren Geschichte „schrecklich missraten“ sei oder „schiefging in der Menschheitsgeschichte“ (z.B. S. 13 oder S. 535) und zum modernen Staat, zu bürokratischer Herrschaft und zu kapitalistischer Ausbeutung geführt habe. Was wann genau „schiefging“, wird zwar nicht klar, weil Graeber und Wengrow wie gesagt die üblichen, mehr oder minder geschichtsdeterministischen oder evolutionären Antworten auf solche Fragen zurückweisen. Aber vielleicht ist es auch nicht ihre Aufgabe, sie zu beantworten; vielmehr ist ihr Buch als ein (differenziert argumentiertes) Pamphlet zu verstehen, das der Realität gegenwärtiger Herrschaftsstrukturen ein immer wieder sehr lichtes Bild von herrschaftsfrei organisierten, neolithischen oder auch jüngeren indigenen Gesellschaften entgegenhält, die mal Ackerbau getrieben haben, mal nicht, die in kleinen Dörfern lebten oder auch regelrechte Städte bauten, ohne aber in deren Mitte einen Tempel oder einen Königspalast zu errichten, oder die viel weniger arbeiteten, als der Tag Stunden hat etc. Mit dem caveat, dass man ohne archäologische oder ethnographische Fachkenntnisse kaum abschätzen kann, ob die beiden Autoren die entsprechende Forschung immer korrekt widergeben, ist dieses Bild außerordentlich suggestiv. Sie erreichen damit zumindest das Ziel, Herrschaftsfreiheit als historische Möglichkeit denkbar und radikale Nichtdeterminiertheit als geschichtstheoretisches Konzept diskussionswürdig erscheinen zu lassen.

Dass dem Werkzeuggebrauch und generell den Formen wirtschaftlicher Organisation keine determinierende Wirkung für die gesellschaftliche Entwicklung zukommt, demonstrieren die Autoren vor allem am Beispiel der Landwirtschaft. Das traditionelle Narrativ, wiederum seit Rousseau, aber auch seit Friedrich Engels' Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats (1884), proklamiert unter dem in den 1930er Jahren geprägten Titel „neolithische Revolution“, dass das Aufkommen landwirtschaftlicher Techniken und Wirtschaftsweisen ‚unumkehrbar‘ war und über die Schaffung von Eigentumsverhältnissen schließlich in relativ kurzer Zeit zwingend zur Ausbildung von ‚staatlichen‘ Strukturen geführt habe. Doch das sei für Graeber/Wengrow eine „Revolution, die niemals stattfand“ (S. 234), weil viele jungsteinzeitliche Gesellschaften über sehr lange Zeit mit Formen von Ackerbau und Viehzucht experimentiert hätten, ohne dass sie Ungleichheit, Privateigentum und staatliche Strukturen ausbildeten. Wie Beispiele einer vielmehr „spielerischen Landwirtschaft“ (S. 286) aus Nord- und Südamerika ebenso wie aus dem Gebiet des Fruchtbaren Halbmondes zeigen, haben diverse Wildbeutergesellschaften Landwirtschaft saisonal mit Jagen und Sammeln verbunden oder sind nach einer Phase landwirtschaftlicher Experimente wieder zur Wildbeuterei zurückgekehrt etc. Selbstverständlich basierten die frühesten staatlichen Gebilde auf der Abschöpfung von Getreideüberschüssen durch eine herrschende Elite, aber der Zusammenhang sei umgekehrt keineswegs zwingend: „Zwischen dem Auftauchen der ersten Bauern im Nahen Osten und dem Aufstieg dessen, was wir gewöhnlich als erste Staaten bezeichnen, liegen 6000 Jahre“ – also nicht gerade die Zeitspanne einer Revolution –, und überdies brachte die Landwirtschaft, so Graeber/Wengrow, „in vielen Teilen der Welt nie irgendeine Institution hervor, die diesen Staaten auch nur im Entferntesten ähnlich wären“ (S. 148).

Das ist nicht der einzige Ikonoklasmus, mit dem die Autoren jene Fortschrittsgeschichte attackieren, die letztlich immer nur das industriegesellschaftliche Gesellschaftsmodell als unabweisbare historische Notwendigkeit erscheinen lässt. Besonders viel Sprengkraft liegt auch in jener Erzählung, die nicht ferne Wildbeuter, sondern die jüngere europäische Geistesgeschichte betrifft: die Geschichte vom Ursprung der aufklärerischen Idee der Freiheit. War denn „Freiheit“ tatsächlich eine europäische Erfindung, gar die Quintessenz dessen, was Europa ausmacht? Nun, eher nicht, so Graeber/Wengrow: „Der Gedanke, unsere heutigen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Demokratie seien irgendwie Produkte der ‚westlichen Tradition‘, hätte Voltaire enorm überrascht“ (S. 30) – denn wo in dieser Tradition war je von Freiheit und Gleichheit die Rede gewesen? Das schöne geistesgeschichtliche Wunder, dass in der extrem hierarchischen, absolutistisch regierten französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts diese Ideale aufkamen, hatte vielmehr, wie die Autoren in einem faszinierenden ersten Kapitel argumentieren, seine reale Ursache höchstwahrscheinlich ganz woanders: Nämlich in den unzähligen Gesprächen französischer Siedler und Missionare mit indianischen Intellektuellen und Staatsmännern, vor allem der Huronen im Osten der heutigen USA und Kanadas, von wo aus deren Verwunderung über und Kritik an der Ungleichheit der europäischen Menschen durch Reiseberichte von Jesuiten zu einem breiten Lesepublikum gelangten und schließlich in die Reflexionen französischer Philosophen und Intellektuellen des Aufklärungszeitalters eindrangen.

Das zu zeigen, ist geradezu ein ikonoklastischer Knaller, mit dem Graeber und Wengrow den eurozentrischen Blick auf die Menschheitsgeschichte gleich zu Beginn dezentrieren und dessen Nachhall man wohl noch lange hören wird. Nach der Lektüre dieses ersten Kapitels sind die Augen jedenfalls offen, um jene andere, weitgehend unbekannte oder verdrängte Welt wahrzunehmen, die von den ersten Spuren der Menschheit bis zu indianischen Gesellschaften der Gegenwart reicht.

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