Book review: Von Ein- und Ausschlüssen in Europa. Eine ethnographische Studie zu EU-Migration und Wohnungslosigkeit in Deutschland
Haj Ahmad, M.-T.: Von Ein- und Ausschlüssen in Europa. Eine ethnographische Studie zu EU-Migration und Wohnungslosigkeit in Deutschland, Münster, Verlag Westfälisches Dampfboot, 245 ff., ISBN 978-3-89691-078-3, EUR 27,00, 2022.
Im Dezember 2022 wurde der erste Bericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales über Wohnungslosigkeit in Deutschland veröffentlicht. Hintergrund ist das Wohnungslosenberichterstattungsgesetz, das nach jahrzehntelangen Kämpfen für eine statistische Erhebung von Wohnungslosigkeit im Jahr 2020 endlich verabschiedet wurde. Dem nun erstmals vorliegenden statistischen Bericht zufolge sind in Deutschland derzeit etwa 262 600 Menschen ohne Wohnung, 38 500 leben ohne jede Unterkunft auf der Straße. Angesichts der seit Jahren in vielen Städten angespannten Mietwohnungsmärkte und einer sich weiter zuspitzenden Wohnungsnot ist davon auszugehen, dass Obdach- und Wohnungslosigkeit zumindest in naher Zukunft nicht abnehmen werden, auch wenn die EU ihre Mitgliedsländer dazu aufgefordert hat, Obdachlosigkeit bis 2030 zu beseitigen.
Angesichts dieser hohen Zahlen und des extremen sozialen Leidens, das sich hinter den Zahlen verbirgt, ist es schon erstaunlich, wie still es zumindest in der deutschsprachigen Geographie und Stadtforschung seit Jahren um das Thema ist. Während die Analyse des Umgangs mit wohnungslosen Menschen in der angloamerikanischen Stadtforschung zum regelrechten „ Lackmustest“ für den Grad der Neoliberalisierung städtischer Politik erklärt und umfangreich betrieben wurde (für einen Überblick siehe DeVerteuil et al., 2009), muss man im deutschsprachigen Raum weiterhin mit der Lupe nach vergleichbaren Studien suchen. Wird Wohnungslosigkeit in der deutschsprachigen Geographie und Stadtforschung überhaupt als Thema aufgegriffen, dann vor allem in studentischen Abschlussarbeiten. Oft handelt es sich dabei um Randgruppenstudien, die in erster Linie Wissen über wohnungslose Menschen generieren; ein Schwerpunkt liegt zudem auf dem Aspekt der Verdrängung aus öffentlichen Räumen (siehe z. B. Neupert, 2010; Boß, 2018).
Nur wenige Arbeiten widmen sich jenseits davon der Frage nach der sozial- und ordnungspolitischen Steuerung von Wohnungslosigkeit oder fragen nach den spezifischen sozialen Verwundbarkeiten und räumlichen Konstellationen von Wohnungslosigkeit, die eben nicht nur durch Wohnungsverluste, sondern auch durch diese Steuerung hervorgebracht werden. Eine wichtige Ausnahme ist das Buch Von Ein- und Ausschlüssen in Europa von Marie-Therese Haj Ahmad, das letztes Jahr im Verlag Westfälisches Dampfboot erschienen ist. Ein Alleinstellungsmerkmal der im Buch verhandelten empirischen Studie ist, dass sie innereuropäische Migration und die Wohnungslosigkeit von EU-Bürger*innen in Deutschland zum Thema macht.
Das Buch ist das Ergebnis einer mehrjährigen ethnographischen Untersuchung in Einrichtungen der sozialen Wohnhilfe, Jobcentern, Gerichten, medizinischen Einrichtungen, Notübernachtungen, Wärmestuben und Tagestreffs für Wohnungslose in Berlin. Als ehemalige Sozialarbeiterin in Einrichtungen des Berliner Hilfesystems und Mitarbeiterin in einem Beratungsprojekt für wohnungslose EU-Bürger*innen hatte Haj Ahmad zu Feld und Zielgruppe der Studie einen vergleichsweise guten Zugang. Auf dieser Basis wäre es ihr ein Leichtes gewesen, eine ethnographische Randgruppenanalyse vorzulegen, die vor allem Wissen über wohnungslose EU-Bürger*innen, ihre Biographien und Mobilitätsmuster produziert. Doch genau so eine Studie hat Haj Ahmad erfreulicherweise – und Erwartungshaltungen in der politischen und sozialarbeiterischen Praxis wie auch in der Wissenschaft zum Trotz – nicht vorgelegt. Die Studie untersucht nicht die Gruppe der wohnungslosen EU-Bürger*innen selbst. Stattdessen rekonstruiert sie, wie deren besonders prekäre Situation überhaupt zustande kommt. Dafür rückt sie das komplexe Zusammenspiel von europäischer Migrationspolitik, nationalem Sozialrecht und dessen Umsetzung auf lokaler Ebene, kommunalem Ordnungsrecht, von Verwaltungs- und Hilfepraxis sowie von rassistischen Ausschlüssen im Alltag von Ämtern und Hilfeeinrichtungen in den Mittelpunkt.
Konsequent zeigt die Arbeit die Machtverhältnisse auf, deren Folge die Wohnungslosigkeit und extreme Verwundbarkeit von EU-Bürger*innen ist. Um die Analyse aber nicht gänzlich auf Gesetzgebungsprozesse, Policies und institutionelle Praktiken zu verlagern, sondern zugleich nah an den wohnungslosen Menschen zu bleiben, bedient sich Haj Ahmad eines ethnographischen Kunstgriffs: Sie entwickelt die epistemische Figur Saša Piemērs (von der slawischen Koseform Saša für Alexander/Alexandra und Piemērs, dem lettischen Wort für Beispiel). Jedes der vier großen empirischen Kapitel beginnt mit einem Aufeinandertreffen: In Kapitel 4 besucht Saša Piemērs, der schon seit einiger Zeit in einem Park lebt, ein Berliner Sozialamt, um sich – zunächst erfolglos – um einen Platz in einer Notunterkunft zu bemühen. Haj Ahmad begleitet ihn und eine Sozialarbeiterin bei diesen Besuchen. Sie treffen auf Verwaltungsmitarbeiter*innen, die das Gesuch abwehren und sich für nicht zuständig erklären, sich mitunter aber auch verantwortlich fühlen und solidarisch zeigen. In Kapitel 5 kommt Haj Ahmad mit dem Diabetespatienten Saša Piemērs in einer Arztpraxis ins Gespräch, die wohnungslose Menschen medizinisch versorgt, aber um ihre Finanzierung bangen muss und diese schließlich auch verliert. In Kapitel 6 begleitet Haj Ahmad den rumänischsprachigen Piemērs in Suppenküchen, Tagestreffs und Bahnhofsmissionen. Diese niedrigschwelligen Einrichtungen scheinen zunächst offener für wohnungslose EU-Bürger*innen zu sein. Vor Ort treffen Piemērs und Haj Ahmad jedoch auf vielfältige Praktiken differentieller In- und Exklusion. Etwa in Form besonderer „Integrationstage“ in einem Tagestreff für Wohnungslose, der für zwei Tage die Woche rumänischsprachige Dolmetscher*innen engagiert hat, EU-Bürger*innen den Zutritt an allen anderen Wochentagen aber untersagt. Bei dem Besuch eines solchen „Integrationstags“ lernt Haj Ahmad schließlich die Romni Saša Piemērs kennen, die im Tiergarten gemeinsam mit anderen wohnungslosen Menschen zeltet. Diese Begegnung mit Piemērs nimmt Haj Ahmad zum Anlass, um in Kapitel 7 die Rolle von Rassismus, insbesondere von Antiziganismus und Antislawismus, ihr Zusammenspiel mit Vorstellungen von „freiwilliger“ bzw. „unfreiwilliger“ Wohnungslosigkeit und damit verbundene Verhandlungen von „Schuld“ (wer sind die „deserving“, wer die „undeserving poor“?) in der Migrations- und Wohnungslosenpolitik und der Hilfepraxis in den Mittelpunkt zu rücken.
Frustrierend ist in der Zusammenschau der Kapitel nicht zuletzt, dass bestimmte Problematisierungen und Tropen in der Migrations- als auch in der Wohnungslosenpolitik offensichtlich einfach nicht totzukriegen sind. Hartnäckig schränken sie das Handlungsfeld ein und prägen den Umgang mit wohnungslosen Menschen (in der Regel zu deren Ungunsten): sei es die Vorstellung von „Push- und Pullfaktoren“ in der Migrationspolitik, die Pathologisierung von Mobilität, das Konzept der „Wohnfähigkeit“, Abgrenzungen von „freiwilliger“ und „unfreiwilliger“ Wohnungslosigkeit in der Verwaltungs- und Hilfepraxis oder eben die Unterscheidung zwischen hilfewürdigen und -unwürdigen Wohnungslosen in der Wahrnehmung unterschiedlicher Betroffenengruppen.
Aufbauend auf den ethnographischen Eindrücken legt Haj Ahmad in ihrem Buch Stück für Stück den Blick auf ein innereuropäisches Grenzregime frei, das entgegen der Versprechen von einem freien, gleichen Europa vielfältige Hierarchien, Exklusionsmomente und verworfene Subjektivitäten produziert. Wohnungslose EU-Bürger*innen sind die „inneren Anderen“ in einem von inneren Grenzen durchkreuzten Europa. Wie Haj Ahmad im wiederholten Rekurs auf Saša Piemērs in seinen/ihren verschiedenen Verkörperungen zeigt, sind wohnungslose EU-Bürger*innen aber nicht einfach passive Manövriermasse politischer Aushandlungsprozesse – vielmehr sind sie eigensinnige Grenzgänger*innen, die sich nicht zurückweisen lassen, die immer wieder für ihre Rechte und für Inklusion streiten, wo sie verwehrt werden. Manchmal wünscht man sich daher beim Lesen, die Darstellung wäre an einigen Stellen doch etwas länger bei Saša Piemērs verblieben, vor allem bei seiner/ihrer Interaktion mit den Mitarbeiter*innen von Ämtern, Behörden und sozialen Einrichtungen, um die Herstellung sozialer Differenzen und Hierarchien in diesen Interaktionen noch detaillierter zu beleuchten, bevor rechtliche und politische Hintergründe aufgeschlüsselt werden.
Das Buch ist lesenswert für alle Geograph*innen und Stadtforscher*innen, die sich für die Migrationspolitik Deutschlands und Europas interessieren, denn es eröffnet ganz neue und ausgesprochen kenntnisreiche Einblicke in die Komplexität innereuropäischer Grenzverläufe und zeigt dabei auch die Bedeutung der Stadt als Schauplatz der alltäglichen Aushandlung des EU-Grenzregimes auf. Gleichermaßen interessant ist es für Leser*innen, die mehr über Wohnungslosenpolitik, die Situation wohnungsloser Menschen und die Ambivalenzen der etablierten Verwaltungs- und Hilfepraxis erfahren wollen. Nicht zuletzt ist das Buch ein wichtiger Beitrag für das Feld der Sozialen Arbeit, denn zwischen den Zeilen verhandelt es auch die Frage, wie die Soziale Arbeit an der Reproduktion des Grenzregimes und seinen Verwerfungen teilhat, wie sie sich einer solchen Komplizenschaft aber auch verweigern, ja vielleicht sogar abolitionistisch handeln kann.