Articles | Volume 78, issue 3
https://doi.org/10.5194/gh-78-393-2023
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Book review
 | 
14 Aug 2023
Book review |  | 14 Aug 2023

Book review: anarchistische geographien

Nils Grube

Spoerri, G. F. und Stenglein, F. (Hrsg.): anarchistische geographien, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, 301 ff., ISBN 978-3896910691, EUR 30,00, 2021.

Längst überfällig mag einem diese erste, umfassendere Veröffentlichung zur anarchistischen Geographie für den deutschsprachigen Raum erscheinen. Überfällig einerseits aufgrund der international vor allen in den vergangenen zehn Jahren weitreichend geführten Debatten. Diese zeugen nicht nur von einem spürbar erneuerten Interesse an der Beziehung zwischen Geographie und Anarchismus (Ferretti, 2020), sie waren auch Schauplatz einer teils recht hitzig geführten Auseinandersetzung zur Rolle der anarchistischen Theorieschule innerhalb der (marxistisch dominierten) radical geography. Hier bemängelte zunächst der eine (Springer, 2014) die Missachtung anarchistisch geprägter Autor:innen (vor allem Pjotr Kropotkin, Pierre-Joseph Proudhon oder Élisée Reclus) innerhalb der Geographie seit den 1970er Jahren. In einer direkten Antwort plädiert dann ein anderer (Harvey, 2017) statt des Führens eines Ideologie-Streits für ein Neuausloten beider linker Strömungen im Rahmen der Bearbeitung gegenwärtiger Probleme (S. 63f.). Überfällig aber andererseits auch angesichts des immanenten Potenzials, das die Perspektiven anarchistischer Theorie und Praxis im Kontext aktueller sozialer Kämpfe und der Überwindung spätkapitalistischer Krisen bieten. Dem bereits im Herbst 2021 in der Reihe „Raumproduktionen – Theorie und gesellschaftlicher Praxis“ des Westfälischen Dampfboot Verlag erschienenen Sammelband anarchistische geographien gelingt es, einen vielfältigen Überblick über die Bandbreite anarchistischer Ansätze, Themen und Praxisbeispiele zu entwerfen und deren Anknüpfungspunkte für eine macht- und herrschaftskritische Geographie aufzuzeigen.

Doch der Reihe nach. Denn zunächst fällt beim Betrachten des Bandes die besondere Namensgebung auf. Die bewusste Kleinschreibung im Buchtitel unterliegt einer der herrschaftskritischen Fokussierung zugrundeliegenden Intention, keine Definitionsmacht ausüben zu wollen. In der ungewöhnlichen, da als Gespräch abgedruckten Einleitung („Kein weiteres Element im kritischen Blumenstrauß …“) führt das Herausgeber:innen-Duo Germaine F. Spoerri und Ferdinand Stenglein aus, es habe sich bewusst gegen eine mögliche Großschreibung ausgesprochen, da es kein akademisches Feld abstecken möchte. Denn durch dieses werde letztlich nicht-konformes Denken vieler für die Produktion von Herrschaftswissen vereinnahmt (siehe Einleitung, S. 11). Auch die Verwendung von „geographien“ in der Mehrzahl ist beabsichtigt. Mit dieser Pluralität als einer der zentralen theoretischen Grundsätze des Anarchismus (siehe u. a. Eibisch, 2020) wird der Verschiedenheit individueller und kollektiver Denkweisen sowie der Anerkennung von Vielfalt (und aller damit einhergehenden Widersprüchlichkeit) innerhalb der anarchistischen Theorie und Praxis Rechnung getragen.1 Folglich verweigert das Buch eine übergreifende Definition des Begriffs oder tiefergehende Ergründung des Wesens des Anarchismus. Den Leser:innen wird damit weniger vorgestellt, was Anarchismus sei oder was ihn nun genau auszeichnet bzw. von anderen sozialistischen Strömungen unterscheidet. Vielmehr wird seine Bandbreite unterschiedlicher Lesarten und Umsetzbarkeiten aufgezeigt, wodurch vielfältige Verbindungen zur Geographie entstehen. Hierbei spricht man sich gegen ein Verbleiben auf der Ebene einer reinen Analyse von räumlichen Manifestierungen hierarchischer Machtstrukturen und deren Einflüsse auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit aus. Vielmehr soll eine anarchistisch gelesene Geographie ihren Beitrag für emanzipatorische Wege zur Überwindung jener leisten (S. 139f.). Wichtige Aspekte in dieser prozessbezogenen Auslegung sind beispielsweise das Zusammenspiel mit Zielsetzungen anarchistischer Praxis wie der Abbau hierarchischer Strukturen, die Förderung von lokalen basisdemokratisch getroffenen Entscheidungsprozessen, der Aufbau selbstverwalteter Gemeinschaften zur Gestaltung des eigenen Lebensraums oder die Schaffung von autonomen Räumen zur Ermöglichung alternativer Lebensweisen und Formen der herrschaftsfreien Organisierung.

Dem Buchprojekt liegt eine mehrjährige Entstehungsgeschichte zugrunde, die sich von einem anfänglichen Austausch auf zwei wissenschaftlichen Tagungen in Tübingen und Reggio Emilia bis zu einem mehrtägigen Autor:innentreffen erstreckt, bei dem Idee und Form des Bands konkretisiert wurden. Das Ergebnis ist ein rund 300 Seiten umfassendes Werk mit dreizehn, sehr diversen Beiträgen, deren Autor:innenschaft sich zwischen den Polen szene-affinen Aktivismus und herrschaftskritischer Wissenschaft bewegt. Unkonventioneller Weise bestimmen nicht ein historischer Rückblick den Einstieg in den Sammelband sondern Beiträge zu grundlegenden Positionierungsfragen, die sowohl die geographische Wissensproduktion als auch die anarchistische Praxis betreffen. Hierzu versammeln sich im ersten Abschnitt Beiträge zum Verhältnis zum (Queer-)Feminismus, zur marxistisch geprägten radical geography sowie zum insbesondere durch den Post-Anarchismus aufgeworfenen Politikbegriff. Der zweite Abschnitt („Kämpfe autonomer Geographien“) verdeutlicht die Perspektiven eines aktiven anarchistischem geographierens im Kontext sozialer Kämpfe. Auf Grundlage empirischer Beispiele werden diese bei Besetzungen, solidarischem Aktivismus in der Geflüchtetenhilfe oder der Erkämpfung und Bewahrung autonomer Freiräume beschrieben. Der dritte Abschnitt widmet sich anschließend übergeordnet der Frage von Lernprozessen. Diese werden reflexiv auf Grundlage von Erfahrungen geschildert, die im Zusammenhang von Mieter:innenkämpfen und solidarischen Nachbarschaften oder bei der Auseinandersetzung mit der universitären Wissen(schaft)sproduktion erfolgten. Besonderheit in diesem Abschnitt ist sicherlich der Abdruck des übersetzten, bereits 1990 veröffentlichten Artikels von Myrna Margulies Breitbart zur anarchistischen Perspektive auf die Bedeutung gemeinschaftlicher Lernorte im Bereich der emanzipatorischen Kinder- und Jugendbildung. Den Abschluss macht dann eine historische Perspektive auf die Wurzeln der Verbindung von Anarchie und Geographie, die unter dem Titel „Anti-Genealogien“ zusammengestellt sind, wodurch eine bewusste Betonung gegen eine lineare Rekonstruktion und Narration von Wissen zum Ausdruck kommen soll.

Im Ganzen betrachtet fällt dem Lesenden ein Aspekt wiederkehrend ins Auge: Anarchist:innen bzw. jene, die sich dem Anarchismus verbunden fühlen, pflegen seit jeher zur Akademie ein Verhältnis, das irgendwo zwischen Kritik, Misstrauen und Abneigung liegt. So auch hier. Nicht wenige der Autor:innen publizieren nur in selbstgewählten Pseudonymen und distanzieren sich somit gegenüber dem Wissenschaftsbetrieb. Gleichzeitig nähren sich immer wieder Zweifel am Unterfangen angesichts des Bewusstwerdens, mit dem gewählten Format des wissenschaftlichen Sammelbands jenem Wissensproduktionssystem einen entsprechenden Beitrag zu leisten. Besonders deutlich wird dies in der Schilderung des Problems einer (wissenschaftlichen) Offenlegung anarchistischer Welten, wie es die Autor:innen Camille und Dominique zum Ausdruck bringen: „Wer Themen rund um Anarchie in die Akademie bringt, produziert einerseits Wissen, das innerhalb eines hierarchischen Wissenssystem publiziert und vermarktet wird und sogar ‚Nischen‘ für Nachwuchswissenschaftler*innen schafft. Andererseits erhält dies ein hierarchisches Wissensproduktionssystem aufrecht, indem es Diskurse und Publikationen schafft, die für nicht-akademische Kreise oftmals unzugänglich sind und bleiben“ (S. 115).

Es mag demnach in der Natur der Sache liegen, dass sich die Protagonist:innen bei ihrem Vorhaben (freiwillig) in ein unausweichliches Dilemma begeben haben. Und im Zuge dessen stellt sich ohne Zweifel die berechtigte Frage, ob ein Sammelband über machtsensible und herrschaftskritische Perspektiven in derartig gewählter Form gelingen kann, ohne jene in ein hierarchisches und machtdurchzogenes Wissenschaftssystem einzubringen. Die Antwort kann ernüchternd wie logisch nur lauten: leider nein! Ist der Sammelband dadurch misslungen? Keinesfalls! Denn trotz aller (Zer-)Streuung in diesem Band ist diese auf eine nachhaltige Weise inspirierend, sich stärker mit der Vielfalt und den Widersprüchlichkeiten anarchistischen Denken und Handelns auseinanderzusetzen und diese in eine eigene geographische Denk- und Arbeitsweise zu integrieren. So funktioniert der Band auf einer anderen Ebene ganz hervorragend, indem er die Perspektive für eine „anarchistisch inspirierte Geographie“ (S. 78) eröffnet. Die Beiträge beleuchten aus unterschiedlichen Perspektiven, was unter dem spezifischen Attribut anarchistisch zu verstehen ist und wie man es in Verbindung mit geographischen Konzepten und Denkweisen theoretisch wie praktisch verfügbar machen kann.

Bereiche oder Untersuchungsgebiete, in denen anarchistische Prinzipien zur Anwendung kommen, gibt es zu genüge: Exemplarisch sei hier auf die jüngsten Proteste der Klimabewegung hingewiesen. Neben den dezentralen und autonomen Interventionen aktivistischer Gruppierungen wie extinction rebellion oder Die letzte Generation sorgten Anfang 2023 vor allem die Ereignisse rund um die Räumung des seit 2020 besetzte Dorf Lützerath am Rand des nordrhein-westfälischen Braunkohle-Tagebaus Garzweiler II für größere Aufmerksamkeit. Wie schon bei zahlreichen globalisierungskritischen Demonstrationen zuvor (siehe hierzu u. a. Frenzel, 2014) errichteten Aktivist:innen basisdemokratisch organisierte Protestcamps und planten von hier aus ihre Aktionen, mit denen die Räumung des Dorfes durch der Allianz aus Kapital (Energiekonzern RWE) und Staatsmacht (Exekutive des Bundeslands Nordrhein-Westfalen) verhindert werden sollte. In den hierbei zu Tage kommenden Herausforderungen sozialer Kämpfe im Zeitalter ökonomischer und ökologischer Krise(n) des Spätkapitalismus und der damit verbundenen Notwendigkeit einer sozial-ökologischer Transformation ergeben sich somit zwangläufig Anknüpfungspunkte für anarchistisches geographieren. Dieser Sammelband liefert hierzu einen wichtigen Bezugspunkt und Impulsgeber.

Haftungsausschluss

Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.

Literatur

Eibisch, J.: Für eine neue annarchistische Theorie!, Gai Dao 106, 23–32, https://fda-ifa.org/wp-content/uploads/2020/01/Gai-Dao-No-106-Januar-2020_web.pdf (last access: 1 August 2023), 2020.  

Ferretti, F.: Anarchism/Anarchist Geographies, in: International Encyclopedia of Human Geography, Elsevier, 119–125, ISBN 978-0-08-102296-2, 2020. 

Frenzel, F.: Exit the system? Anarchist organisation in the British climate camps, ephemera: theory & politics in organization, 14, https://ephemerajournal.org/index.php/contribution/exit-system-anarchist-organisation-british-climate-camps (last access: 1 August 2023), 2014. 

Harvey, D.: “Listen, Anarchist!” A personal response to Simon Springer's “Why a radical geography must be anarchist”, Dial. Hum. Geogr., 7, 233–250, https://doi.org/10.1177/2043820617732876, 2017. 

Springer, S.: Why a radical geography must be anarchist, Dial. Hum. Geogr., 4, 249–270, https://doi.org/10.1177/2043820614540851, 2014. 

1

Jonathan Eibisch nennt hierzu das Handeln nach ethischen Werten (Vielfalt, Gleichheit, Individuelle Freiheit, Gemeinschaft/Solidarität und Selbstbestimmung), theoretischen Grundsätzen (Pluralität, Kooperation, soziale Singularität, freie Vereinbarung und Selbstorganisation) und organisatorischen Prinzipien (Dezentralität, Horizontalität, Föderalismus, Freiwilligkeit und Autonomie) (Eibisch, 2020:24).