Resonanz und Rezeption. Werk und Wirkung Friedrich Ratzels im internationalen Vergleich
The text explains the main themes and conceptual arguments of the thematic issue on the reception of Ratzel's spatial theories in Italy, France, Germany and the USA. The work and impact of Friedrich Ratzel between 1880 and 1945 are examined in the perspective of a history of transformation based on the history of knowledge. As a result, the case studies demonstrate that Ratzel's work had an international impact on the object constitution of the academic subject of geography, firstly through the later widespread geopolitical theorising, secondly with regard to the conceptualisation of anthropogeography and thirdly in the relationship of the discipline to the formation of nation states, territorial rule and colonial expansion. Equally decisive is that some interpretations of Ratzel's writings turn out to be rather appropriations of already existing receptions of his work. This reception of reception is undoubtedly a key element of a differentiated impact analysis.
In der Zeitschrift L`Année sociologique befasste sich Émil Durkheim 1897/1898 ausführlich mit dem ein Jahr zuvor erschienenen Hauptwerk des deutschen Geographen Friedrich Ratzel. In seiner Politischen Geographie versuche Ratzel nachzuweisen, „que le facteur géographique avait sur l'ensemble de l'évolution sociale une influence prépondérante“ (Durkheim, 1897/1898:522). Daran geknüpft sei die Absicht, die Politische Geographie als „la plus fondamentale de toutes les sciences sociales“ (Durkheim, 1897/1898:522) zu etablieren. Ratzels Schrift, in der er den Boden zum „le vinculum sociale par excellence“ (Durkheim, 1897/1898:522) erkläre, könne aus soziologischer Sicht nicht überzeugen, denn der Begriff sei „bien vague et délimite mal un champ de recherches“ (Durkheim, 1897/1898:523). Stattdessen müsse sich eine Politische Geographie auf „le domaine de l'État (Staatsgebiet)“ (Durkheim, 1897/1898:523 Ergänzung i. O.) konzentrieren und dessen vielfältige Ausprägungen detailliert untersuchen. Ratzel vernachlässige zudem die Wirkungsmacht nahezu aller sozialen Institutionen, was Durkheim etwas gönnerhaft dahingehend kommentierte, dass diese „imperfections inhérentes à toute science qui débute“ (Durkheim, 1897/1898:532) seien. Dass die Politische Geographie erst am Anfang stehe, diese Einschätzung teilte zeitgleich auch der französische Geograph Paul Vidal de la Blache, die Anstrengungen Ratzels bewertete er indes deutlich wohlwollender. Es sei der allgemeinen Geographie zu empfehlen, sich mit dessen Schriften intensiv auseinander zu setzen, da man dort „une conception de la géographie politique répondant en somme à l'état présent de la science“ (Vidal de la Blache, 1898:111) finde. Ratzels Konzepte seien zwar oft noch zu unbestimmt, doch verwende er einen Begriff vollkommen zurecht, wenn vom Staat die Rede sei, und das sei der „d'organisme vivant. Cette expression ne fait que désigner par une formule frappante la loi de développement qui domine les relations de l'homme et du sol“ (Vidal de la Blache, 1898:108). Zwar seien die Lebensverhältnisse Produkte komplexer Entwicklungen, doch verwiesen diese auf „un noyau qui leur a donné naissance, un point solide autour duquel, par une sorte de cristallisation, se sont groupées les parties annexes. Ils ressemblent en ce sens à des êtres vivants“ (Vidal de la Blache, 1898:108).
Bereits zu Lebzeiten riefen Ratzels Schriften also durchaus unterschiedliche Reaktionen hervor, nicht nur Kollegen der eigenen Zunft, sondern auch etablierte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der benachbarten Fachdisziplinen übten Kritik an seinen oftmals als unpräzise empfundenen Abhandlungen (Antonsich et al., 2001; Klinke und Bassin, 2021; Jureit und Chiantera-Stutte, 2021). Während in der Geschichtswissenschaft vor allem Skepsis vorherrschte, was wohl in erster Linie mit Ratzels rigoroser Abgrenzung gegenüber der als übermächtig empfundenen Historiographie und mit seinem immer wieder bemängelten barocken Schreibstil zusammenhing, waren sich die eigenen Fachkollegen eher uneinig in der Beurteilung des seit 1886 in Leipzig lehrenden Geographen. Manche, wie der in Göttingen wirkende Hermann Wagner, bescheinigten ihm „das grosse Verdienst“, mit seiner Anthropogeographie der geographischen Forschung „neue Impulse“ (Wagner, 1882:700) gegeben zu haben, während es andere wie Alfred Hettner, der sich 1887 bei Ratzel habilitiert hatte, „unverständlich“ fanden, „wie man von einer Begründung der Geographie des Menschen durch dieses Buch“ sprechen könne (Hettner, 1907:402). Nach seinem überraschenden Tod 1904 wurde das mehr als 1200 Schriften umfassende Gesamtwerk Ratzels zunächst vornehmlich von deutschen Schulgeographen gelesen, was schlichtweg damit zusammenhing, dass sich in erster Linie Ratzels Schüler, namentlich Emil Schöne, Alois Geistbeck und Christian Gruber, darum bemühten, ihr großes Vorbild zum legitimen Nachfolger Carl Ritters zu küren (Schultz, 2021).
Die internationale Rezeption hingegen intensivierte sich erst nach Ratzels Tod, vor allem im und nach dem Ersten Weltkrieg stieß seine Politische Geographie in zahlreichen europäischen und außereuropäischen Ländern auf erhebliche Resonanz. In erster Linie wäre hier die von dem schwedischen Staatswissenschaftler Rudolf Kjellén geleistete Transformation der Ratzelschen Theorien in eine nun auch begrifflich als Geopolitik bezeichnete Lehre „vom Staat als geographischem Organismus und als Erscheinung im Raume“ zu nennen (Kjellén, 1916:45). Kjelléns Deutung der Ratzelschen politischen Geographie korrespondierte mit einem konservativen Entwurf von Moderne, der sich keineswegs als anti-modern verstand, sich aber sehr wohl als Gegenmodell zu den westlichen, vor allem britisch-französischen Gleichheitsidealen positionierte. Karl Haushofer wiederum nahm 1940 nicht nur auf Kjellén Bezug, sondern inszenierte sich schon seit geraumer Zeit als legitimer Erbe der Ratzelschen Lebensraumtheorie, was rezeptionsgeschichtlich die Tendenz untermauerte, imperiale Landnahmen des 19. Jahrhunderts mit der nationalsozialistischen Herrschafts- und Eroberungspolitik im Zweiten Weltkrieg zu verklammern – eine Deutungsfigur, die die Wahrnehmung der sowohl wissenschaftlichen wie auch politischen Wirkmacht Ratzels ebenso gravierend wie nachhaltig verengte. In der Forschung stand jedenfalls diese oder eine ähnlich lautende Kontinuitätsbehauptung lange Zeit im Mittelpunkt, und Ratzel avancierte dabei zur Gründungs- und Schlüsselfigur einer vermeintlich spezifisch deutschen, sich von der anglo-amerikanischen Variante gravierend unterscheidenden Geopolitik.
Die wesentlich breitere internationale Rezeption des Ratzelschen Werkes blieb im Fahrwasser dieser Deutungskonstellation zwar nicht gänzlich unbeachtet, ist aber bis heute noch nicht hinreichend erforscht. Hier setzt das Themenheft an und fragt anhand von sieben Fallstudien nach der bemerkenswert vielfältigen Auseinandersetzung mit Ratzels Theorien in Italien, Frankreich, Deutschland und in den USA. Der Blick ist dabei sowohl auf die unterschiedlichen nationalen Wissenschaftstraditionen gerichtet als auch interdisziplinär angelegt. Werk und Wirkung Friedrich Ratzels zwischen 1880 und 1945 werden im Sinne einer wissenshistorisch orientierten Transformationsgeschichte untersucht, was impliziert, jedes Rezeptionsgeschehen als einen selektiven Aneignungsprozess zu verstehen. Dabei kristallisieren sich einige übergeordnete Gesichtspunkte heraus. So erweist sich die Rezeption von (in diesem Fall geographischen) Wissensbeständen als ein Transfergeschehen, durch das das jeweilige Referenzobjekt nicht nur reformuliert und angeeignet wird, sondern – geprägt von der gegenwartsbezogenen Perspektive – zu einem mehr oder weniger und im Einzelfall im Detail zu bestimmenden neuen Deutungskonzept variieren kann. Solche Ent- und Rekontextualisierungen vollziehen sich nicht nur über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg, sie können auch disziplinübergreifend, wie hier beispielsweise zwischen der Geographie, der Geschichtswissenschaft und den Rechts- und Staatswissenschaften, oder in Wechselwirkung mit außerwissenschaftlichen Diskurs- und Handlungsfeldern, wie beispielsweise zwischen Wissenschaft und Politik, erfolgen. Analytisch zielen die Beiträge dieses Themenheftes darauf, das Verhältnis von Referenz- und Rezeptionssystem detailliert zu bilanzieren und hinsichtlich vorschnell aufgestellter Kontinuitätsbehauptungen besonders sorgfältig abzuwägen.
In Italien begann die Rezeption bereits zu Ratzels Lebzeiten. Die Auseinandersetzung der akademischen Geographie mit seinem Werk bezog sich in erster Linie auf den Einfluss biologischer und biogeographischer Theorien auf politische Prozesse, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stand dabei die Nationalstaatsbildung Italiens im Mittelpunkt. In den Jahrzehnten zwischen der italienischen Einigung und der ersten Nachkriegszeit trugen Geographen durch Theoriebildung, angewandte Forschung und Bildungsarbeit erheblich zur Konsolidierung des Nationalstaates bei. Ihr Hauptaugenmerk lag dabei auf der Bestimmung des nationalen Raums und seiner legitimen Grenzen. Insbesondere die Entwicklung wissenschaftlicher Methoden, mit denen der genaue Verlauf der Landesgrenze entlang der Alpenkette bestimmt werden sollte, wurde maßgeblich durch Konzepte deutscher Geographen wie Oscar Peschel und Friedrich Ratzel beeinflusst. Matteo Proto konkretisiert diese Rezeption anhand der Arbeiten von Giovanni und Olinto Marinelli und ihrer Auseinandersetzung mit Ratzels Grenz- und Territorialkonzepten. Dabei wird zum einen die enge Verknüpfung der nationalstaatlichen Konsolidierung mit geographischen Konzepten der kolonialen Landnahme deutlich, zum anderen erwiesen sich diese Bezüge für die Entstehung, Begründung und Realisierung des im italienischen Faschismus propagierten Konzeptes eines „spazio vitale“ als grundlegend. Der Begriff, im Deutschen ursprünglich um die Jahrhundertwende von Ratzel geprägt, avancierte Ende der 1930er Jahre zu einem Schlagwort der faschistischen Propaganda in der Debatte über die intendierte Neuordnung Europas. Nicola Bassoni zeichnet in seinem Beitrag vier Phasen der Ratzel-Rezeption in Italien nach und analysiert ihre Verflechtungen mit einschlägigen Kolonialdiskursen. Für die Aneignung und Umarbeitung der Ratzelschen Theorien konstatiert er sowohl bemerkenswerte Kontinuitäten als auch eklatante Brüche. In jedem Fall legitimierte „spazio vitale“ die faschistische Expansion nachdrücklich, das Konzept bezog sich dabei aber in erster Linie auf Karl Haushofers geopolitische Arbeiten und wies deutlich weniger Bezüge zu Ratzels Lebensraumtheorie auf.
Auch für Frankreich springt zunächst die enge Verklammerung der Rezeption Ratzels mit der Formierung des politischen Selbstverständnisses als Nation und Republik ins Auge. Marie-Claire Robic zeigt in ihrem Beitrag, wie grundlegend Ratzels Werk für die Objektkonstituierung der französischen Nationalgeographie war, gerade weil sich diese im Wettstreit konkurrierender Fachdisziplinen und im Kontext einer in Europa dominierenden deutschen Geographie zu behaupten hatte. Ihre Analyse der Rezeption Ratzels verweist jedoch auch auf gravierende Unterschiede in der Art und Weise, wie auf seine Schriften Bezug genommen wurde, je nachdem, ob es darum ging, die Anthropogeographie oder die Politische Geographie zu kommentieren, eine theoretische Fundierung der Humangeographie vorzunehmen, eine Nationalgeographie zu verfassen oder die Bedeutung der eigenen Disziplin gegenüber konkurrierenden Fächern hervorzuheben. Der Beitrag vergleicht zudem die Modelle, die sowohl Ratzel als auch Vidal de la Blache aus den Biowissenschaften entlehnten. Die zunehmend nationalistische und imperialistische Politik in Deutschland löste auf französischer Seite eine scharfe Kritik an den staatstragenden Wissenschaften und ihren Konzepten aus, was schließlich im und nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Umarbeitung der Schlüsselkategorie Raum führte.
Daran anschließend zeichnet Nicolas Ginsburger für die Zwischenkriegszeit die zunehmend divergierenden Auseinandersetzungen französischer Geographen, in erster Linie Schüler des 1918 verstorbenen Paul Vidal de la Blache, mit Ratzels Werk nach, die zwischen Verehrung, Kritik und Ablehnung changierten. Berücksichtigt wird dabei erstens das doppelte Erbe von Friedrich Ratzel und Paul Vidal de la Blache, zum zweiten die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs und seine Folgen für die europäischen und weltweiten internationalen Beziehungen sowie drittens das Aufkommen neuer Denkrichtungen wie die Geopolitik in Deutschland. Geographen wie Albert Demangeon, Jean Brunhes oder Jacques Ancel stützten sich weiterhin auf Ratzels Arbeiten und diskutierten ihre Relevanz und Reichweite. Mit Bewunderung, Kritik oder Abneigung beharrte diese Generation darauf, mit (und oftmals auch gegen) den Leipziger Geographen zu argumentieren. Trotz aller Kritik wurden seine Theorien weiterhin herangezogen, wenn es galt, die turbulenten Veränderungen in der Zwischenkriegszeit einzuordnen und zu deuten.
Die internationale Rezeption Ratzels lässt sich darüber hinaus an persönlichen Kontakten und Beziehungen des Leipziger Geographen festmachen. Die US-amerikanische Geographin Ellen Churchill Semple war seine Schülerin und ihm zeitlebens eng verbunden. Nach ihrem Studium in Leipzig setzte sie sich weiterhin intensiv mit Ratzels Werk auseinander und übersetzte einige seiner Texte. Ian Klinke analysiert in seinem Beitrag ihre Beschäftigung, Rezeption und Umarbeitung der Ratzelschen Theorien. Semple fand dort eine wissenschaftliche Sprache, die es ihr erlaubte, die nordamerikanische Geschichte und insbesondere die Institution der Sklaverei neu zu interpretieren. Umgekehrt blieb Semple für Ratzel, der die USA zwischen 1873 und 1875 besucht hatte, eine wichtige Informantin über die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen in Nordamerika. In Anlehnung an Ratzel entwickelte Semple gleichwohl eine eigenständige Anthropogeographie, die viele der bisherigen Ambivalenzen hinter sich ließ. Semple gilt bis heute als Schlüsselfigur für die Theoriebildung des Umweltdeterminismus.
Sowohl für Italien und Frankreich als auch für die USA lässt sich festhalten, dass es weder eine geradlinige noch eine einhellige Rezeption des Ratzelschen Werkes gab. Die Auffassungen der Protagonisten divergierten je nach politischer Konfliktlage oder variierten aufgrund der national unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen. Die Bewertungen der Ratzelschen Geographie fielen demnach insgesamt uneinheitlich aus, was auch damit zusammenhing, dass sich die Autoren und Autorinnen meistens für unterschiedliche Forschungsthemen interessierten. Wer sich auf Ratzels Schriften über wachsende Räume und wandernde Grenzen bezog, beurteilte sein Werk anders als diejenigen, die seine Abhandlungen über die anthropographische Betrachtungsweise des Meeres heranzogen. Jenseits dieser Heterogenitäten zeigt sich aber zugleich, dass die beiden Weltkriege für die internationale Rezeption und Weiterentwicklung überaus einschneidend waren. Patricia Chiantera-Stutte diskutiert in ihrem Beitrag, wie Ratzels Politische Geographie im Kontext der Weltkriege von Rudolf Kjellén und Carl Schmitt aufgegriffen und neu gedacht wurde. Ihre Analyse macht deutlich, dass es keine lineare Rezeption der zentralen Begrifflichkeiten gab, das Bild einer kontinuierlichen Entwicklung vom Ratzelschen Lebensraumbegriff zu Kjelléns Reichs- und Großmachtkonzepten bis hin zu Schmitts völkerrechtlicher Großraumordnung erweist sich als bestenfalls zu oberflächlich. Kjellén und Schmitt nutzten Ratzels Schriften dazu, Methodik und Theoriebildung ihrer eigenen Fachdisziplinen neu zu denken, verbunden mit der politischen Intention, Deutschlands globalen Machtanspruch und dessen gewalthafte Durchsetzung wissenschaftlich zu legitimieren.
Ebenso wie der Erste Weltkrieg erwies sich auch der zweite für die Rezeption der Ratzelschen Schriften als eine Art Transfer-Situation. Ratzel selbst hatte den Krieg als eine „Schule des Raumes“ bezeichnet, ohne freilich bereits zu ahnen, wie tiefgreifend sich dieser in den nächsten Jahrzehnten verändern sollte. Die gravierenden Erschütterungen bisheriger Ordnungsmodelle durch Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg sowie die damit verschobenen Machtkonstellationen provozierten eine intensive Auseinandersetzung mit alternativen Entwürfen der staatlichen, supranationalen und globalen Verfasstheit. Auch jenseits der engeren geopolitischen Zirkel galten Großraumtheorien als innovative Konzepte, die sich sowohl vom Modell des klassischen Nationalstaates wie auch vom Völkerbund als zwischenstaatlicher Ordnungsinstanz abwendeten. Insofern griffen NS-Juristen wie Reinhard Höhn und Werner Best durchaus internationale Debatten auf, als sie 1940 begannen, an einer politischen Theorie rassenbiologischer Herrschaft zu arbeiten, die sie an einer Kontroverse mit Carl Schmitt über völkerrechtliche beziehungsweise völkische Grundprinzipien einer europäischen Großraumordnung konturierten. Im Zentrum des Beitrages von Ulrike Jureit steht die Verflechtung und Transformation geographischer, völkerrechtlicher und rassenbiologischer Verhältnisbestimmungen der in einem Großraum lebenden „Völker“. Der damit einhergehende mehrfache Diskurswechsel wirft zum einen die Frage auf, inwiefern geographische Wissensbestände (wie beispielsweise Ratzels Lebensraumtheorie) für die nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungspolitik überhaupt noch relevant waren, zum anderen richtet sich der Blick auf die signifikante Verschiebung von einer auf vermeintlichen Naturgesetzen beruhenden Beschreibung menschlicher Gemeinschafts- und Staatsbildungen hin zu einer handlungsorientierten Programmatik der rassenbiologischen Homogenisierung Europas, die mit brutaler Offenheit Völkermord als eine von mehreren Handlungsoptionen für die rassenbiologische Homogenisierung Europas legitimierte.
Im Ergebnis zeigen die einzelnen Fallstudien, dass das Ratzelsche Werk die Objektkonstituierung des akademischen Faches Geographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts international nachhaltig geprägt hat, zum einen in Form der später weit verzweigten geopolitischen Theoriebildung, zum anderen mit Blick auf die Entwicklungsdynamiken der Anthropogeographie und nicht zuletzt drittens in der Verhältnisbestimmung der eigenen Fachdisziplin zu Nationalstaatsbildung, territorialer Herrschaft und kolonialer Expansion. Ratzel avancierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer teils verehrten, teils scharf kritisierten Gründungsfigur einer vermeintlich spezifisch deutschen Geopolitik. Dabei variierte die Qualität der jeweiligen fachlichen Verarbeitungen, die mancherorts über relativ belanglose Belegstellen kaum hinausgingen, erheblich. Ebenso entscheidend ist jedoch, dass sich manche Lesarten der Ratzelschen Schriften bei genauerer Betrachtung doch eher als Aneignungen bereits existierender Rezeptionen seines Werkes, beispielsweise durch Karl Haushofer oder Rudolf Kjellén, erweisen. In dieser Rezeption der Rezeption steckt zweifellos ein Schlüsselelement der Analyse des um den Namen Friedrich Ratzel kreisenden Phänomens, das durch eine ebenso zeitgebundene wie irritierend langlebige Auseinandersetzung mit Werk und Leben gekennzeichnet ist.