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Großraum versus Lebensraum. Die Interdependenzen geographischer, juristischer und rassenbiologischer Ordnungsvorstellungen
Ulrike Jureit
Between 1940 and 1943, Nazi jurists such as Reinhard Höhn and Werner Best worked on a political theory of racial-biological rule, which they contoured in a controversy with Carl Schmitt over the basic principles of international law and of a European Großraum. The focus of the contribution is on the entanglement and transformation of geographical, international legal and racial-biological relations between the „peoples“ living in a Großraum. On the one hand, the multiple change in discourse raises the fundamental question of the relevance of geographical knowledge (such as Ratzel's Lebensraumtheorie) for the National Socialist policy of conquest and extermination. At the same time, the focus is on the significant shift from a description of human community and state formation based on supposed natural laws to an action-oriented agenda of racial-biological homogenisation of Europe, which with brutal openness legitimised genocide as an option regarding the „Umvolkung“ that had already been practised in occupied Poland since 1939.
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Am 1. April 1939 hielt Carl Schmitt anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Instituts für Politik und Internationales Recht der Universität Kiel einen Vortrag mit dem Titel Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. In der später erweiterten und publizierten Fassung bezeichnete der zu dieser Zeit bei führenden NS-Funktionären bereits in Ungnade gefallene und als ideologisch unzuverlässig geltende Jurist seine Ausführungen als einen Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, so jedenfalls lautet der Untertitel der schließlich 1941 erschienenen und alsbald in mehrere Sprachen übersetzten Publikation (Schmitt, 2009). Im Vortrag selbst konzentrierte sich Schmitt darauf, über die „im Allgemeinbegriff ‚Staat‘ liegenden Gebietsvorstellungen hinaus, den Begriff des konkreten Großraums und den ihm zugeordneten Begriff eines völkerrechtlichen Großraumprinzips in die Völkerrechtswissenschaft einzuführen“ (Schmitt, 2009:11). Dabei unterschied er verschiedene, allesamt seiner Meinung nach unbrauchbare oder ideologisierte Raumbegriffe, von denen er sich scharf abgrenzte, um mit Großraum als Gegenmodell den gegenwärtigen „Wandel der Erdraumvorstellungen und -dimensionen“ (Schmitt, 2009:11) zu prononcieren. Im später hinzugefügten Kapitel Der Raumbegriff in der Rechtswissenschaft ging Schmitt dann dezidierter auf die wortgeschichtlichen Implikationen seiner Argumentation ein, indem er Großraum unter anderem zu geographisch und geopolitisch konnotierten Raumtheorien in Beziehung setzte. Im Folgenden wird es daher zunächst darum gehen, diese Verhältnisbestimmung Schmitts dezidierter aufzuzeigen, um daran deutlich zu machen, so jedenfalls die hier vertretene These, dass Schmitts Großraum im Kern kein geographisches, sondern ein genuin völkerrechtliches Konzept war. Dementsprechend gehörten weder Fachkollegen der Geographie noch namhafte Geopolitiker zu den entscheidenden Referenzen seiner Theoriebildung. Jenseits der Fachgrenzen wurde sein Großraumkonzept damals interdisziplinär breit rezipiert, zugleich aber von denjenigen kritisiert, die sich spätestens mit Kriegsbeginn der konkreten Eroberung von Lebensraum im Osten verschrieben hatten. Im zweiten Teil soll daher der Kontroverse Großraum versus Lebensraum anhand einschlägiger Publikationen nachgegangen und die Unterschiede zwischen Carl Schmitts völkerrechtlich verfassten und den von NS-Juristen rassenbiologisch begründeten Ordnungsmodellen herausgearbeitet werden. Daran anknüpfend zielt der Beitrag zudem darauf, die Interdependenzen zwischen den im Zweiten Weltkrieg entworfenen Konzepten völkischer Herrschaft und den in diesen Kontexten immer wieder zitierten Werken Friedrich Ratzels kritisch zu beleuchten.
Dass Carl Schmitt überzeugter und bekennender Antisemit war, ist kein Geheimnis. Immer wieder hat er sich aggressiv und abfällig über Juden geäußert, auch über diejenigen, die er persönlich kannte. Seine Übereinstimmungen mit dem Nationalsozialismus, seine engen Kontakte zu führenden NS-Größen wie dem späteren Generalgouverneur Hans Frank und Reichsmarschall Hermann Göring beförderten seine steile Karriere zum juristischen Sinnstifter des NS-Staates (Bendersky, 1983; Noack, 1993; Quaritsch, 1995; Gross, 2000; Blasius, 2001; Mehring, 2009). Als Schmitt sich Ende der 1930er Jahre dezidierter mit dem Raumbegriff zu beschäftigen begann, lagen diese beruflichen Erfolge bereits hinter ihm. Seit Dezember 1936 sah er sich – vor allem durch Artikel im Schwarzen Korps – offener Kritik ausgesetzt, die ihm als Preußischen Staatsrat mangelnde rassenbiologische Grundüberzeugung sowie opportunistisches Verhalten vorhielt (Zeck, 2002). Trotzdem blieb Schmitt als Staats- und Völkerrechtler mit Lehrstuhl in Berlin sowie als politischer Philosoph überaus einflussreich (Hausmann, 1998, 2011). Angesichts des eskalierenden Weltkrieges entwickelte er auf der Grundlage bereits ausgearbeiteter Schriften wie der „Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff“ (Schmitt, 2007) aus dem Jahr 1938 eine Raumtheorie, in der er im Kern das Ende souveräner Staatlichkeit diagnostizierte. „Die Epoche der Staatlichkeit geht zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren“ (Schmitt, 2009) – so lautete seine ebenso schlichte wie prägnante Schlussfolgerung.
Entgegen dieser Ankündigung verlor Schmitt über dieses Ende doch noch erstaunlich viele und vor allem bis heute umstrittene Worte. Die Veränderungen staatlicher Verfasstheit meinte er vor allem an der Entstehung neuartiger Völkerrechtssubjekte, an der Veränderung des bisher völkerrechtlich gehegten Krieges sowie an der Erschütterung des überkommenen Staatsverständnisses durch den Volksbegriff feststellen zu können. Dabei unterzog er die bisherige Völkerrechtslehre unter dem Gesichtspunkt der ihr zugrunde liegenden Raumprinzipien einer dezidierten Kritik, die er um den Begriff Großraum gruppierte (Gruchmann, 1962; Schmoeckel, 1994; Blindow, 1999; Kleinschmidt, 2004; Voigt, 2008). In Anlehnung an die seit der Jahrhundertwende etablierte Großraumwirtschaft mit ihren Globalisierungseffekten analysierte Schmitt den zeitgenössischen Wandel der politischen Raumordnungen als ein großräumliches Verflechtungsgeschehen, dessen Folge es sein werde, dass souveräne Nationalstaaten zugunsten supranationaler Großräume an Bedeutung verlieren (Schmitt, 2009:11). Trotz seiner uneingeschränkten Sympathie für die Forderung bevölkerungsstarker Länder nach mehr „Raum und Boden“ sah Schmitt nicht in diesem „demographischen Recht“, sondern in der am 2. Dezember 1823 verkündeten Monroe-Doktrin das völkerrechtlich erfolgreichste Großraumprinzip (Schmitt, 2009:22). Die Monroe-Doktrin stelle durch ihr Interventionsverbot außeramerikanischer Mächte ein „ordnendes Großraumprinzip“ dar, das es zwar nicht wörtlich, wohl aber in seinen Kerngedanken auf gegenwärtige Machtkonstellationen zu übertragen gelte (Schmitt, 2009:30). Denn die westlichen Demokratien beanspruchten mittlerweile, wie damals die absolute Monarchie in Europa, das Recht auf Intervention, mit dem unter humanitären Vorwänden imperialistische Ziele verfolgt würden. Die USA hätten sich im Lauf der letzten Jahrzehnte immer weiter von ihrer eigenen Doktrin entfernt, indem sie sich dem britischen Universalismus annäherten und mit dem von Wilson propagierten Selbstbestimmungsrecht der Völker eine Art Weltdoktrin verkündeten. In seinem berühmten Dualismus von Land und Meer pointierte Schmitt folglich zwei für ihn gegensätzliche Raumprinzipien: das kontinentale, in zusammenhängenden Räumen verankerte Prinzip einerseits sowie das auf die Sicherung von Handels- und Verkehrswegen konzentrierte Raumverständnis von Seemächten andererseits (Schmitt, 2001). Die völkerrechtliche Denkweise, „die einem geographisch zusammenhanglosen, über die Erde verstreuten Weltreich zugeordnet ist, tendiert von selbst zu universalistischen Argumentationen. Sie muß das Interesse am unveränderten Bestand eines solchen Reiches mit dem Interesse der Menschheit gleichsetzen, um überhaupt eine Argumentation zu haben“ (Schmitt, 2009:35). Folglich seien universalistische, weltumfassende Allgemeinbegriffe die typischen Waffen des Interventionismus. Schmitts Polemik gegenüber dem britischen Empire ist hier weniger von Interesse als seine daran exemplifizierte Raumtheorie, denn für ihn zeigte sich nirgendwo drastischer als im angelsächsischen Universalismus „der Gegensatz von Straße und Lebensraum“ (Schmitt, 2009:35).
Die Inanspruchnahme der amerikanischen Monroe-Doktrin (Schmitt, 1939) für eine zukünftige planetarische Ordnung bestand für Schmitt darin, in der „Verbindung von politisch erwachtem Volk, politischer Idee und politisch von dieser Idee beherrschtem, fremde Interventionen ausschließendem Großraum“ ein „echtes“ Raumprinzip verwirklicht zu sehen, auf das sich unter anderem deutsche Herrschaft in Europa berufen könne: „Für uns gibt es weder raumlose politische Ideen noch umgekehrt ideenlose Räume oder Raumprinzipien“ (Schmitt, 2009:29) – so Schmitt unmissverständlich, um dann seinem Begriff des Politischen folgend auszuführen:
Zu einer bestimmbaren politischen Idee wiederum gehört, dass ein bestimmtes Volk sie trägt und dass sie einen bestimmten Gegner im Auge hat, wodurch sie die Qualität des Politischen erhält (Schmitt, 2009:29).
Dass Schmitt die politischen Feinde nicht nur in den westlichen Demokratien mit ihren universalistischen Herrschaftsansprüchen identifizierte, sondern damit auch „die Judenfrage“ meinte, daran ließ er keinen Zweifel (Schmitt, 2009:45). Der Dreiklang aus Idee, Volk und Großraum bildete fortan das Grundgerüst seiner Raumtheorie, die er an die für ihn zukünftig dominierende völkerrechtliche Größe des Reiches gebunden sah. Träger und Gestalter einer in Großräumen strukturierten Ordnung seien eben nicht mehr Staaten, sondern Reiche (Kettenacker, 1983; Blindow, 1999). Sie „sind die führenden und tragenden Mächte, deren politische Idee in einen bestimmten Großraum ausstrahlt und die für diesen Großraum die Interventionen fremdräumiger Mächte grundsätzlich ausschließen“. Erst wenn „die Sonne des Reichsbegriffs“ (Schmitt, 2009:49) aufgehe, ließe sich ein abgrenzbares Nebeneinander auf einer sinnvoll eingeteilten Welt denken.
Schmitts Reichsbegriff lebt von der strikten Abgrenzung gegenüber dem „individualistischen Westen“ wie auch dem „weltrevolutionären Osten“: Im Unterschied zu diesen „übervölkischen Gebilden“ müsse das Großdeutsche Reich nicht als Staat oder Staatenbund, sondern eben als Reich verstanden werden, das „wesentlich volkhaft“ sei. Schmitts Raumordnung basierte strukturell auf dem Souveränitätsverlust der innerhalb des Großraumes existierenden Einheiten. Territoriale Integrität, staatliche Selbstbestimmung sowie das Recht, fremde Interventionen auszuschließen, blieb allein dem Reich als einziger souveräner Instanz innerhalb des Großraumes vorbehalten. Für die anderen Einheiten wurde zwar der „äußerliche territoriale Gebietsbestand mit seinen linearen Grenzen […] garantiert, nicht aber der soziale und wirtschaftliche Inhalt der territorialen Integrität, ihre Substanz“ (Schmitt, 1997:226). Man könnte hierfür auch Schmitts berühmte Souveränitätserklärung außenpolitisch wenden: Souverän ist nur, wer über den Vorbehalt des Interventionsverbots entscheidet (Gruchmann, 1962:68–121; Blindow, 1999:81–91; Schmoeckel, 1994:23–123). Mit dieser Konstruktion vertrat Schmitt eine Art Hegemonialkonzept, das den untergeordneten Einheiten das Recht und die Fähigkeit absprach, die für ein modernes Gemeinwesen notwendige Organisation und Ordnung zu gewährleisten. Nicht alle Völker seien imstande, diese „Leistungsprobe“ zu bestehen, so Schmitt, nur Völker, die sich auch als staatsfähig erwiesen, sollten über das Recht verfügen, souveräne Entscheidungen zu treffen. Während das Völkerrecht der liberalen Fiktion der Gleichheit gefolgt sei und die sachliche wie qualitative Verschiedenheit der Völkerrechtssubjekte grundsätzlich ignoriere, ziele der Reichsbegriff – so formulierte es auch Ernst Rudolf Huber ganz im Sinne seines akademischen Lehrers – auf eine gestufte Ordnung, „in der die führende Macht die offene Verantwortung für den Bestand der Gesamtordnung und für die Existenz aller Glieder übernimmt“ (Huber, 1941:51). Huber wählte hierfür die Bezeichnung „hegemonialer Föderalismus“, die angesichts des von ihm und Schmitt vertretenen Volksgruppenrechts die intendierte Entrechtung zu kaschieren suchte. Denn die politische Idee, die seine Reichsvision trug, bestand in einer gestaffelten Völkerordnung, die allen Assimilierungs-, Absorbierungs- und Schmelztiegelidealen abschwor und stattdessen „für den mittel- und osteuropäischen Raum, in dem viele, aber – von den Juden abgesehen – einander nicht artfremde Völker und Volksgruppen leben“, ein ihrer völkischen Eigenart entsprechendes Dasein versprach (Schmitt, 2009:47).
Die genaue Definition von „artfremd“ blieb in diesem Zusammenhang allerdings ebenso diffus wie das Schicksal derjenigen Bevölkerungen, die – wie „die Juden“ – im Sinne der Schmittschen Kategorien tatsächlich als „artfremd“ galten. In der Logik von „artfremden“ und „artgleichen“ Bevölkerungen konkretisierte sich die territoriale Homogenisierung des politischen Raumes, die sich nun nicht mehr auf ein Staatsgebiet, sondern auf einen vom Reichsgedanken dominierten Großraum bezog. Realisiert sah Schmitt diesen Wandel politischer Territorialität bereits im deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 (Schmitt, 2009:47). Im Vertragstext sei von „beiderseitigen Reichsinteressen“ die Rede, die auf dem ehemals polnischen Staatsgebiet abgesteckt würden. Auch lehne Artikel 2 – ähnlich wie die Monroedoktrin – jegliche Einmischung dritter Mächte ausdrücklich ab. Damit seien bereits zwei Elemente gegeben, die Schmitt für eine völkerrechtliche Neuordnung als unabdingbar ansah. Darüber hinaus verabschiede sich das deutsch-sowjetische Kooperationsabkommen von dem im Versailler Vertrag installierten Minderheitenschutz, indem die Umsiedlung der jeweils eigenen Volksgruppen als raumgestaltendes Prinzip nicht nur verabredet, sondern auch durchgesetzt würde. Daran zeige sich, dass entgegen des liberaldemokratischen Minderheitensystems ein auf dem Grundsatz der Nichteinmischung beruhendes Volksgruppenrecht bereits internationale Praxis sei (Schmitt, 2009:47; Schmoeckel, 1994:133–147). Schmitt proklamierte hier die Setzung neuen Rechts. Völkerrechtliche Subjekte sollten demnach nicht mehr souveräne Staaten, sondern die über Großräume herrschenden Reiche sein. Da der Staat ein Mindestmaß an Organisation voraussetze, um Ordnung zu garantieren, trete nicht der Volksbegriff an seine Stelle, da dieser „wesentlich Organismus“ meine. Vielmehr könne nur das Reich den Staatsbegriff überwinden, nämlich als „eine von bestimmten weltanschaulichen Ideen und Prinzipien beherrschte Großraumordnung, die Interventionen raumfremder Mächte ausschließt und deren Garant und Hüter ein Volk ist, das sich dieser Aufgabe gewachsen zeigt“ (Schmitt, 2009:61). Dass vor allem die Deutschen ein in dieser Weise begabtes, zur Beherrschung eines modernen Großraumes prädestiniertes, um nicht zu sagen auserwähltes Volk darstellten, war für Schmitt ebenso unstrittig wie das politische System, das er für diese Herausforderung als zukunftsfähig erachtete: Die „Tat des Führers hat dem Gedanken unseres Reiches politische Wirklichkeit, geschichtliche Wahrheit und eine große völkerrechtliche Zukunft verliehen“ (Schmitt, 2009:63).
Ähnlich wie für das 16./17. Jahrhundert diagnostizierte Schmitt Ende der 1930er Jahre einen „Wandel des planetarischen Raumbildes“ (Schmitt, 2009:74), der sich im Großraumbegriff mit seinen nicht nur quantitativen, sondern vor allem qualitativen Steigerungssemantiken erfassen lasse. Er argumentierte in erster Linie gegen einen vorherrschenden „leeren“ Raumbegriff, den es seiner Meinung nach durch Großraumdenken zu überwinden gelte. „Wort und Begriff des Großraumes“ seien eine unentbehrliche Brücke von den überkommenen zu den künftigen Raumvorstellungen, „vom alten zum neuen Raumbegriff“ (Schmitt, 2009:75). Das alte Verständnis habe sich durch eine „mathematisch-physikalisch-naturwissenschaftliche Neutralität“ ausgezeichnet, die das Land, den Boden, das Territorium und das Staatsgebiet zu unterschiedslosen, von linearen Grenzen umschlossenen Flächen staatlicher Betätigung degradiert habe. Haus und Hof als konkrete Ordnung würden als „bloße Katasterfläche“ angesehen, das Staatsgebiet verkümmere zu einem neutralen Herrschafts- oder Verwaltungsbezirk, einem Zuständigkeitsbereich oder einer Kompetenzsphäre ohne Berücksichtigung des jeweiligen Status, sei es als „Protektorat, Kolonie, Staatsgebiet, Volksboden“ (Schmitt, 2009:77). Diese in der Rechtswissenschaft lange Zeit dominierende Auffassung zeichne sich historisch vor allem durch vier Prämissen aus: erstens sei sie als Gegenmodell zu patrimonialen und feudalen Objektvorstellungen Ausdruck der politischen Entwicklung zum konstitutionellen Verfassungsstaat, zweitens habe sie der „barock-bühnenhaften Vorstellung“ vom Staatsgebiet als „Schauplatz des Imperiums“, wie Ernst Zitelmann Ende des 19. Jahrhunderts formuliert hatte, Rechnung getragen, drittens sei gemäß der allgemeinen, vorzugsweise positivistisch-naturwissenschaftlichen Vorstellung vom Raum alles gegenständlich Wahrnehmbare „und daher auch jeder rechtlich bedeutungsvolle Sachverhalt“ bloße Erscheinung in Raum und Zeit, und schließlich viertens sei die Theoriebildung von jüdischen Juristen wie Paul Laband, Georg Jellinek und Hans Kelsen geprägt worden, denen allerdings „die Beziehung eines Volkes zu einem durch eigene Siedlungs- und Kulturarbeit gestalteten Boden und zu den daraus sich ergebenden konkreten Machtformen“ (Schmitt, 2009:79) unverständlich geblieben sei. Schmitt verwirft hier alle modernen Raumkonzepte der Anordnung, Lokalisierung und Bewegung, die er als jüdische Theorien diskreditiert. Ihren negativen Höhepunkt habe diese Sichtweise „im Apriorismus der Kantischen Philosophie“ erreicht, „wo der Raum eine apriorische Form des Erkennens ist“ (Schmitt, 2009:80).
Während Schmitt einerseits historisch gewachsene Wahrnehmungen von Raum und Räumlichkeit aufgrund der genannten vier Faktoren als ebenso verfehlt wie wirkmächtig kritisiert, verweist er im Gegenzug auf Erkenntnisse und Theoriebildungen, die ein anderes Verständnis vorbereitet, erforscht oder ausgearbeitet hätten, darunter in erster Linie Max Plancks Quantenphysik sowie die auf die epistemologischen Umbrüche in der Physik verweisende Bewegungs- und Wahrnehmungslehre des Neurologen und Sozialmediziners Viktor von Weizsäcker (von Weizsäcker, 1940). Nach dessen Gestaltkreistheorie sei Raum nicht per se oder vorab gegeben, sondern entstehe erst aus der Interaktion des Menschen mit seiner Umgebung. Bewegung gehe demnach
nicht im bisherigen naturwissenschaftlichen Raum vor sich, sondern es geht umgekehrt die raumzeitliche Gestaltung aus der Bewegung hervor. Für diese biologische Betrachtung ist also die Welt nicht im Raum, sondern der Raum in und an der Welt. Das Räumliche wird nur an und in den Gegenständen erzeugt, und die raumzeitlichen Ordnungen sind nicht mehr bloße Eintragungen in den vorgegebenen leeren Raum, sondern sie entsprechen vielmehr einer aktuellen Situation, einem Ereignis (Schmitt, 2009:80).
Im Verhältnis des Volkes zu seinem Boden realisierte sich für Schmitt für die zur Vorherrschaft prädestinierten Entitäten ein zusammenhängender Leistungsraum – ein Schlagwort, mit dem er fortan gegen die aufklärerische Moderne im Allgemeinen und gegen das Kantsche Raumverständnis im Besonderen zu Felde zog.
Die Geographie als klassische Disziplin des Räumlichen gehörte für ihn im Unterschied zur Biologie nicht zu den in seinem Sinne innovativen Referenzdisziplinen, denn gerade die physische Geographie als genuin naturwissenschaftlicher Teilbereich des Faches war ja maßgeblich an einer Theoriebildung beteiligt, die Schmitt prinzipiell in Frage stellte. Denn eine „nur geographisch bestimmte Vorstellung“ vom Raum mag zwar eine politische Bedeutung erlangen, „für sich allein stellt sie noch kein überzeugendes Rechtsprinzip dar“ (Schmitt, 2009:29). In diesem Kontext bezieht sich Schmitt auch auf Friedrich Ratzel, in dessen Lebensraum-Schrift von 1901 er die Transformation vom Raum zum Großraum aber allenfalls angedeutet sieht. Ratzel verwendete die Bezeichnung Großraum selbst nicht, er habe aber, und so zitiert ihn Schmitt dann auch, „schon in dem weiten Raum etwas Größeres, ich möchte sagen, Schöpferisches“ (Ratzel, 1901:67) erkannt. Ratzel bewertete einen großen Raum ganz grundsätzlich als „lebenerhaltend“ (Ratzel, 1901:67), nicht nur für die Tier- und Pflanzenwelt, sondern auch für die Entwicklung menschlicher „Rassen, Abarten oder Arten“, allerdings ging es ihm dabei um weitgehend spekulativ bleibende, darwinistisch geprägte Überlegungen, wie in einem fortlaufenden Evolutionsprozess neue Lebensformen entstehen und welche Raumverhältnisse dafür als förderlich anzusehen sind. Schmitt hingegen interessierte sich für diese anthropogeographischen Zusammenhänge nicht. Ratzels Raumtheorie ist an dieser Stelle für ihn eine Belegstelle, die mit seiner eigentlichen Argumentation kaum Berührungspunkte aufweist. Die Beifügung des Wortes Groß verändere – so Schmitt an das aus dem Kontext gerissene Ratzel-Zitat anknüpfend – das bisherige Begriffs- und Bedeutungsfeld im Sinne eines politisch, kulturell, rechtlich und sozial gestalteten Raumes. Diese qualitative Veränderung bindet er aber am Ende nicht an Ratzels Schriften zurück, sondern erörtert in der Fußnote mit Verweis auf Ferdinand de Saussure, wie eine solche Transformation sprachwissenschaftlich zu bewerten und in rechtswissenschaftliche Zusammenhänge zu übertragen sei. Bei Ratzel sei die Umformung jedenfalls noch nicht vollzogen, Schmitt sah bei ihm allenfalls „Anläufe zu einer Überwindung“ des leeren Raumes (Schmitt, 2009:79). Als „Begründer einer neuen Wissenschaft vom Raum“ habe Ratzel zwar schon erkannt, dass „Raumbewältigung das Merkmal allen Lebens“ sei, gleichwohl komme darin aber noch nicht „die umfassende Wirkung und die eigentliche Tiefe neuer Raumvorstellungen“ (Schmitt, 2009:79) zum Bewusstsein. Die Überwindung der „Vorstellung des leeren Raumes“ sei vielmehr von genuin naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Biologie und der Physik überzeugend geleistet worden.
In seinen Herleitungen eines anderen, qualitativ neuen und letzten Endes völkisch konnotierten Raumbegriffs nahm Schmitt zwar immer wieder Bezug zu Theoriebeständen und Begriffsbildungen anderer Fachdisziplinen, die Geographie allgemein sowie die politische Geographie im Speziellen spielten dabei allerdings keine herausragende Rolle. Viel entscheidender für Schmitts Argumentation war zum einen das „bedeutende Werk“ (Schmitt, 2009:14) Viktor von Weizsäckers, zum anderen die von Juristen verfassten Abhandlungen zur Umgestaltung des Staats- und Völkerrechts, darunter Werner Hampel, Ernst Wolgast und Ulrich Scheuner. Ratzels Lebensraum-Schrift stellte für Schmitt keine entscheidende Referenzgröße dar, was sich schon allein daran zeigte, dass er Ratzels prominenten Lebensraumbegriff fast nie verwendete und in keiner Weise für seine eigenen Argumentationen nutzte (Schmoeckel, 1994:81–91). Ratzels politische Geographie diente ihm allenfalls als Verweis auf allgemeine Vorarbeiten eines letztlich erst im und nach dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Großraumdenkens, das eben nicht mehr nur imperialistisch bestimmt war. Ähnlich beiläufig bezog sich Schmitt auch auf den „Meister der geopolitischen Wissenschaft“ (Schmitt, 2009:29) Karl Haushofer (Haushofer et al., 1928). Dieser habe zwar die Kraft raumüberwindender Mächte betont, vom „völkerrechtswissenschaftlichen Standpunkt betrachtet, lassen sich Raum und politische Idee nicht trennen“ (Schmitt, 2009:29). Schmitt formulierte hier zwar grammatikalisch keinen Gegensatz, aber der zurückhaltende Gestus legt nahe, dass Haushofer für ihn keine fachliche Referenz darstellte. Dessen Abhandlungen über die geographische und politische Bedeutung von Grenzen schienen Schmitt zwar erwähnenswert, sie dienten aber letztlich dazu anzumerken, dass das „eigentlich geographische Schrifttum nicht weiter herangezogen“ (Schmitt, 2009:17) werden könne. Hier wie auch an weiteren Stellen wird deutlich, dass sich Schmitt anderen zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskursen zuordnete, in erster Linie waren allgemein rechtswissenschaftliche, in Raumfragen vor allem völkerrechtliche und rechtsphilosophische sowie rechtsgeschichtliche Autoren für ihn maßgebend. Er selbst sah sich, wenn überhaupt, dann eher von den wirtschaftsgeographischen Arbeiten Heinrich Schmitthenners und der Heartland-Theorie Halford Mackinders beeinflusst, letzterem dankte er nach Kriegsende allerdings wohl auch aus strategischen Gründen explizit für dessen Anregungen. Gleichzeitig diente ihm diese Würdigung dazu, ausdrücklich hervorzuheben, dass die juristische Denkarbeit etwas anderes sei als die geographische Vorgehensweise. Juristen wie er hätten ihr Wissen über „Ding und Boden, (…) Realität und Territorialität“ nicht von Geographen und Geopolitikern erlernt, sondern „viel tiefer als mit der Geographie“ sei der juristische Raumbegriff mit den „mythischen Quellen rechtsgeschichtlichen Wissens“, wie sie im 19. Jahrhundert unter anderem von dem Rechtshistoriker und Altertumswissenschaftler Johann Jakob Bachofen erschlossen worden waren, verbunden (Schmitt, 1997:5). Bei aller Vorsicht gegenüber Schmitts nachträglichen Darstellungen hinsichtlich seiner Rolle während des „Dritten Reiches“ lassen seine raumtheoretischen Schriften erkennen, wie stark er sich im eigenen nationalen wie internationalen Fachdiskurs bewegte und wie wenig er der politischen Geographie und der daran anknüpfenden geopolitischen Programmatik zugeneigt war. Nachweislich zielten seine Einlassungen gegenüber dem stellvertretenden Hauptankläger der Vereinigten Staaten, Robert M. W. Kempner, im April 1947 zwar einzig und allein darauf, eine ebenso ideologische wie wissenschaftliche Distanz zum Nationalsozialismus angesichts der alliierten Ermittlungen im sogenannten Wilhelmstraßen-Prozeß glaubhaft zu machen, und ebenso war seine Behauptung, er habe zwischen 1933 und 1945 allein wissenschaftlich geforscht und dabei stets seinen Abstand „zu jeder politischen Festlegung und zu jedem Regime präzisiert“ (Schmitt, 1995:453), erwiesenermaßen unwahr, doch daraus folgt im Umkehrschluss nicht, dass Schmitt in einer von Friedrich Ratzels Lebensraum über Rudolf Kjelléns Staat als Lebensform zu Karl Haushofers Geopolitik reichenden Traditionslinie stand und auf dieser Grundlage die völkerrechtlichen Theorien für die nationalsozialistische Expansions- und Vernichtungspolitik lieferte. Sein Großraumkonzept war keineswegs identisch mit dem, was SS-Juristen wie Reinhard Höhn und Werner Best seit Kriegsbeginn als „völkische Großraumordnung“ propagierten und im besetzten Polen bereits umsetzten.
Der Einfluss Schmitts auf die zeitgenössische Debatte über planetarische Kräfteverhältnisse, internationales Recht und globales Ordnungsdenken war beträchtlich. Bereits die unmittelbaren Reaktionen auf seinen Kieler Vortrag verdeutlichten, dass er mit seiner Großraumtheorie wie auch mit der Wiederbelebung des Reichsbegriffs auf eine hohe Bereitschaft stieß, bisherige Ordnungskonzepte staatlicher Verfasstheit rechtlich wie politisch zu überdenken. Im Ausland wurde Schmitts Vortrag als quasi offizielle Erklärung zur nationalsozialistischen Außenpolitik gelesen, mit der Deutschland die Vorherrschaft in Europa postulierte. Der Eindruck, dass Schmitt außenpolitische Programme der NS-Regierung beeinflussen, mitgestalten und juristisch legitimieren würde, bestärkte sich noch durch die Reichstagsrede Hitlers vom 28. April 1939, in der er vier Wochen nach Schmitts Vortrag gegenüber den USA tatsächlich so etwas wie eine deutsche Monroe-Doktrin formulierte. Ob Hitler Schmitts Vortrag gekannt hat, ist unklar, zumindest ließ er ihn wissen, dass er Wert auf die Originalität seiner eigenen Gedanken lege (Schmitt, 1995:348).
Fakt ist, dass Schmitts Großraumtheorie Ende der 1930er Jahre in der wissenschaftlichen wie auch in der politischen Debatte gleichsam in der Luft lag (Obst, 1939; Daitz, 1942; Hoffmann, 1940; Mallmann, 1940; Rogge, 1941; Suthoff-Groß, 1943). Die durch den Krieg verschobenen Machtkonstellationen provozierten weltweit eine intensive Auseinandersetzung mit alternativen Entwürfen der staatlichen, supranationalen und globalen Verfasstheit. Auch jenseits des engen nationalsozialistischen Zirkels galten Großraumtheorien als innovative Konzepte einer internationalen Dynamik, die sich sowohl vom Modell des klassischen Nationalstaates wie auch vom Völkerbund als zwischenstaatlicher Ordnungsinstanz abwendeten. Dass Schmitts Großraumtheorie für die nationalsozialistische Eroberungspolitik legitimierend wirkte, ist wohl unstrittig, seine Arbeit jedoch als juristische Ausarbeitung einer nationalsozialistischen Lebensraumdoktrin zu verstehen, würde ihr nicht gerecht. Schmitts Modell wich in einigen entscheidenden Punkten von dem ab, was von SS-Juristen unter Lebensraum als Herrschaftskonzept verstanden wurde (Schmoeckel, 1994:152–240; Herbert, 1996:271–289; Kletzin, 2002:110–167; Specter, 2017). Auf die Unterschiede legte in den ersten Kriegsjahren vor allem die SS besonderen Wert, während Schmitt diese Diskrepanz vor allem nach 1945 für seine eigene Rechtfertigung zu instrumentalisieren wusste. Raumtheoretisch gehört der Konflikt um Großraum versus Lebensraum zu den aufschlussreichsten während des Zweiten Weltkrieges, denn in ihm gipfelte eine begriffliche Karriere, die Lebensraum zum wohl berüchtigtsten Schlagwort nationalsozialistischer Eroberungs- und Vernichtungspolitik stilisierte. Gleichzeitig liegt die Herausforderung darin, diesen Disput von den zweifellos politisch motivierten Anfeindungen gegenüber Schmitt zu trennen, denn schließlich galt der im politischen Katholizismus verwurzelte Jurist seit 1936 als ideologisch unzuverlässig. Die Motive, die vor allem Reinhard Höhn, Werner Best und Wilhelm Stuckart antrieben, mit Schmitts Großraumtheorie hart ins Gericht zu gehen, sind daher ohne das politische Klima, in dem sich dieser Konflikt abspielte, nicht adäquat darstellbar, doch selbst dann bleibt eine sachliche Diskrepanz zwischen dem von Schmitt konzipierten Großraum und der von SS-Juristen vertretenen Lebensraumordnung.
Einer der schärfsten Kritiker der Schmittschen Großraumtheorie war der seit 1940 als Militärverwaltungschef in Frankreich und später als Reichsbevollmächtigter in Dänemark fungierende Werner Best (Herbert, 1996). Der promovierte Jurist gehörte nicht nur in unterschiedlichen Funktionen zur engeren SS-Führungselite, er galt auch als einflussreicher Theoretiker einer in erster Linie rassenbiologisch konnotierten Herrschaftsordnung. Gemeinsam mit Wilhelm Stuckart, Staatssekretär im Reichsinnenministerium, Gerhard Klopfer, Ministerialdirektor in der Parteikanzlei der NSDAP, Rudolf Lehmann, Oberster Militärrichter und Leiter der Rechtsabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht, und Reinhard Höhn, Professor für Staatsrecht in Berlin, gründete er 1941 die juristische Fachzeitschrift Reich – Volksordnung – Lebensraum (RVL), von der in den nächsten zwei Jahren insgesamt sechs Bände erschienen, bevor sie dann aufgrund der Kriegslage eingestellt wurde. Als offizielles Organ der Abteilung Staats- und Verwaltungswissenschaften des Reichsforschungsrates zielten die Herausgeber darauf, eine „Brücke (…) zwischen der praktischen Arbeit, die die Träger der deutschen Volksordnung“ (Stuckart, 1941) vorzugsweise im Krieg leisteten und einer neuen Rechtslehre, die sich in strikter Abgrenzung zum westlichen Universalismus der völkischen Erneuerung Europas und der dafür notwendigen räumlichen Neuordnung verpflichtet fühlte, herzustellen.
Der Herausgeberkreis sah sich zum einen in Konkurrenz zu der vom Staatsrechtler und Schmitt-Schüler Ernst Rudolf Huber herausgegebenen Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, zum anderen diente RVL als publizistischer Ort für die Auseinandersetzungen mit Carl Schmitts Großraumordnung. Bevor Best allerdings 1942 dort einen anonymisierten Artikel mit dem Titel Herrenschicht oder Führungsvolk? publizierte, auf den hier noch zurückzukommen sein wird, hatte er bereits zuvor unmittelbar nach der ersten Veröffentlichung von Schmitts Vortrag eine Rezension für das Zentralorgan des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes verfasst, in der er den Disput über die unterschiedlichen Vorstellungen großräumlicher Ordnungsbildung präzise benannte. Da Begriffe stets Programme seien, konfrontierte er Schmitts „völkerrechtliche Großraumordnung“ mit dem Gegenbegriff einer „völkischen Großraumordnung“ (Best, 1940). Und in dieser Variante steckte tatsächlich ein anderes Modell: Während Best zunächst die Subjekte einer solchen Ordnung als „Völker“ (und wie Schmitt nicht als Staaten) identifizierte und das völkerrechtliche Prinzip der Gleichheit zugunsten einer gestuften Völkerordnung aufgab, bekräftigte er zugleich den Führungsanspruch eines Volkes innerhalb der Großraumordnung. Darüber hätte er sich vielleicht mit Schmitt noch verständigen können, aber Best zielte mit seiner Kritik nicht nur auf begriffliche Nuancierungen, sondern er plädierte erklärtermaßen für die Abschaffung des Völkerrechts. Schmitt habe es versäumt, so Best in einer zweiten Gegenrede, „mit der Schöpfung des Rechtsbegriffs der Großraumordnung dem Begriff des Völkerrechts ein theoretisches Staats- (ja Welt-) begräbnis erster Klasse zu bereiten“ (Best, 1941:1533). Der Begriff des Völkerrechts sei tot, so Best unmissverständlich (Best, 1941:1534). Das Verhältnis der in einem Großraum lebenden Völker sei nicht rechtlich, sondern biologisch bestimmt. Best sah hierbei völkische Lebensgesetze am Werke, die bei der Errichtung einer „völkischen Großraumordnung“ über das Schicksal der „Mitwirkung“ der beteiligten Völker entschieden. Es sei nicht Zweck einer Großraumordnung, „die Völker und ihre in einem bestimmten Augenblick bestehenden Volksordnungen künstlich zu konservieren. Denn dies wäre eine lebenswidrige und damit unmögliche Zwecksetzung. Das Leben wird nicht durch bewusst geschaffene ‚Ordnungen‘ an Aufstieg und Niedergang gehindert“. Zudem müssten bei der Schaffung einer Großraumordnung auch unerwünschte Mitwirkungen in Rechnung gestellt werden, „solange noch bewusste und fortpflanzungsfähige Substanz desselben lebt“ (Best, 1940:1007).
Man könnte bei solchen Formulierungen tatsächlich an einige Passagen im Werk Friedrich Ratzels denken, auch wenn es aufgrund des gesamten Schrifttums grundsätzlich festzuhalten gilt, dass für die SS-Führungselite geographische und geopolitische Erkenntnisse relativ unerheblich waren. Für ihre Argumentationen spielten Schriften von Friedrich Ratzel, Rudolf Kjellén, Erich Obst oder Otto Maull keine Rolle. Sachlich ergeben sich indes Anknüpfungspunkte hinsichtlich der Dynamiken bestimmter Entwicklungen, schließlich hatte schon Friedrich Ratzel die räumlichen Logiken des Aussterbens und Ausrottens herausgestellt. Begrenzter Lebensraum führe dazu, dass eine Art die andere verdränge oder ausrotte, „Neuschöpfung und Fortschritt“ setzten „Rückzug und Untergang“ voraus. Ratzel sah in dem
Auf- und Abwogen verschiedener Rassen und Nationalitäten, die Ursachen des Falles der Einen, des Steigens der Anderen, das wie ein rother Faden durch den Trubel sich hindurchziehende Gesetz einer höheren Entwicklung in seinen für jedes Volk verschiedenen Ausbildungen (Ratzel, 1869:480)
Markantes Beispiel dafür sei die europäische Besiedlung Nordamerikas, ein „Vernichtungskampf“ (Ratzel, 1901:54) gegenüber den „primitiven Völkern“, die aufgrund ihrer mangelhaften Bodenhaftung und ihrer niederen Kultur den Europäern unterlegen seien. Ratzel beschrieb aus der Perspektive eines Beobachters evolutionäre, seiner Wahrnehmung nach von quasi natürlichen Kräften angetriebene Prozesse, denen er eine gewisse Unausweichlichkeit zuschrieb, da sie Entwicklungsgesetzen folgten, die es wissenschaftlich noch weiter zu erforschen gelte. Alle Lebewesen unterlägen vergleichbaren Entwicklungsgesetzen, da sie eben Teil der Ökumene seien. Ratzel konstatierte seinem generellen Biologismus folgend somit verschiedene, als natürlich ausgegebene Gesetzmäßigkeiten, eine daraus resultierende politische Programmatik mit definierten Akteuren und operationalisierten Handlungsoptionen findet man in seinen geographischen Schriften indes nicht.
Reinhard Höhn gehörte zu den radikalsten und ideologisch profiliertesten Juristen des NS-Regimes (Wildt, 2011; Müller, 2019; Chapoutot, 2021). Zunächst als Abteilungschef im SD-Hauptamt mit Reinhard Heydrich als direkten Vorgesetzten und anschließend als Direktor des Instituts für Staatsforschung an der Universität Berlin vertrat er eine völkische Rechts- und Staatslehre, die er scharf und programmatisch von anderen Fachrichtungen abzugrenzen wusste (Höhn, 1935). Inhaltlich zielte Höhn auf die vollständige Abkehr vom individualistischen Rechtsprinzip hin zu einer im völkischen Gemeinschaftsgedanken verankerten Rechtsordnung. Die Großraumtheorie, wie sie Carl Schmitt und andere Staats- und Völkerrechtler diskutierten, sah Höhn gerade deswegen kritisch. Sie lasse einen Rückfall in ein Staatsverständnis befürchten, das einem auf völkischem Zusammenleben beruhenden Rechtsverständnis diametral entgegenstehe. Die Gefahr, zu einem staatlichen Herrschaftssystem zurückzukehren, das Höhn bereits für überwunden hielt, trete nun in Gestalt einer Großraumordnung hervor, in der die Überwindung des Staatsbegriffs zwar behauptet, aber letztlich nicht vollzogen würde. Staatstheoretisch existiere kein Unterschied zwischen staatlicher Gebietshoheit und dem mit Raumhoheit ausgestatteten Großraum. Ganz im Gegenteil: Die von Schmitt vertretene Großraumordnung sei umso gefährlicher, „weil die staatliche Herrschaft nunmehr gigantische Formen annehmen kann“ (Höhn, 1941:257). Im Schmittschen Großraum sah Höhn nichts anderes als einen monströsen Großstaat, den es seiner Logik nach gerade zu überwinden gelte.
Höhns Kritik stellte die Vorstellung von Großräumen keineswegs generell in Frage. Großraum als wirtschaftlicher und politischer Kampfbegriff habe sich vor allem in „Abkehr von den Methoden liberal-kapitalistischer Wirtschafts- und Sozialpolitik“ entwickelt und „den Imperialismus im Sinne des 19. Jahrhunderts“ durch völkische Neuordnungskonzepte in Europa überwunden. Zudem gehöre es zum Großraumdenken,
dass ganz bestimmte geschichtsmächtige Völker für ganz bestimmte Räume Verantwortung tragen. In Europa und dem mit ihm verbundenen Lebensraum sind es der deutsche Reichsgedanke und die faschistische Idee des Imperiums, die der Geschichte und Gegenwartsbedeutung dieser Völker Rechnung tragen (Höhn, 1941:262).
In vielen dieser Überlegungen stimmten Höhn und Schmitt überein. Konfliktpunkt war nicht die Vorstellung großräumlicher Ordnung an sich, die Diskrepanz lag vielmehr in ihrer ideologischen „Substanz“. Bei Schmitt sei der Großraum nach innen „mit irgendeiner politischen Idee und irgendeinem politisch erwachten Volk“ erfüllt. Insofern „ist irgendein Reich jeweils der Träger irgendeiner politischen Idee und irgendeines politisch erwachten Volkes“. Nur so könne Schmitt auch von „Reichen“ reden, deren Vielzahl Höhn bereits erhebliches Unbehagen bereitete (Höhn, 1941:263). Gleichzeitig griff er auch das Interventionsverbot an, da dieses bei Schmitt das einzig gestaltende Prinzip großräumlicher Beziehungen darstelle. Nicht ohne Überzeugungskraft argumentierte Höhn, die Nichtintervention stelle einstweilen nur eine Art Gegenformel dar, auf deren Grundlage sich keine internationale Ordnung konzipieren lasse (Höhn, 1941:274). Die Ordnung der Völker benötige mehr als nur formale Prinzipien der äußeren Abgrenzung. Schmitts Interventionsverbot bleibe ein dem amerikanischen Individualismus und dem westeuropäischen Imperialismus verhaftetes Prinzip, unabhängig davon, ob es rechtlich auf Nationalstaaten oder Großräume angewandt werde. Im Gegensatz dazu gingen in der völkischen Rechts- und Staatslehre die innere Ordnung des Großraumes mit der äußeren und damit auch mit der völkischen Ordnung „eng ineinander über“ (Höhn, 1941:277), daher sei „das Wesen der Großräume einmal nicht vom Boden der Abgrenzung, sondern vom Boden der Substanz aus zu erfassen“ (Höhn, 1941:283). Die Ordnung nach Großräumen müsse auf „der Lebensgesetzlichkeit der Völker“, oder besser: auf einer „völkischen Gesamtlebensordnung“ basieren, die der Nationalsozialismus bereits im völkischen Rechtsdenken erprobt habe und nun auf die Neuordnung Europas auszudehnen beginne. Diese Transformation geschehe in Form einer an der Praxis erprobten Theoriebildung. Vor allem dieser Theorie-Praxis-Bezug erlaube es noch nicht, „heute schon eine in sich geschlossene Lehre mit der entsprechenden Systematik und Begriffsbildung für den Großraum aufstellen zu wollen“ (Höhn, 1941:287).
Auf die Frage, welche Art von Praxis Höhn meinte, wird noch zurückzukommen sein. Vorerst soll zunächst seinen irritierend vagen Andeutungen zu den angeblich fundamentalen „Lebensgesetzen der Völker“ nachgegangen werden. Der Ökonom Werner Daitz benannte diesen nebulösen Kern der Argumentation etwas konkreter, indem er – in widersprechender Anlehnung an Schmitt – von einer „biologischen Monroedoktrin“ sprach (Daitz, 1942:86). Hierunter seien „echte Lebensräume“ statt imperialistische Konstruktionen wie die der Hemisphäre, der Pan-Idee oder andere Hegemonialkonzepte zu verstehen. Rechtssubjekt eines Großraumes sei demnach die biologisch zusammengehörende Völkerfamilie, die über das souveräne Recht verfüge, biologisch fremde Interventionen auszuschließen. Ein echter Großraum, so Daitz,
ist also der natürliche Lebensraum einer Völkerfamilie und empfängt von ihrer biologischen Substanz aus Charakter, Ausdehnung und Gestalt. […] Ein echter Großraum kann also nicht von außen, vom Raum her: von geographischen, geopolitischen Gesichtspunkten oder aber machtpolitischen Zielsetzungen anderer Räume mit ihm raumfremder biologischer Substanz her bestimmt werden (Daitz, 1942:81).
Daitz verwendete zudem den Begriff „Umartung“. Er sah es als „rassisches Grundgesetz“ an, dass Rassen zwangsläufig ihre Substanz verlieren, wenn sie ihren „natürlichen Lebensraum“ verlassen. Daraus folgte für ihn der Kampf um das „Selbstbestimmungsrecht der Völkerfamilien“, die er in sechs „echte Großräume“ unterteilte. In seiner Logik ergaben sich daraus Großostasien, Großamerika und Großeuropa mit den entsprechenden Nahrungsergänzungsräumen in Afrika, Südamerika und Indien (Daitz, 1942:85 f.).
Höhn ergänzte dazu wiederum, dass die Lebensrechte der Völker nicht auf einer ihnen per se zugestandenen Souveränität basierten, wie sie in der überkommenen Freiheits- und Gleichheitsideologie vertreten worden sei, sondern auf einer „Wertordnung unter den Völkern“ (Höhn, 1942:135). An die Stelle des Gleichheitsprinzips von allem, was Menschenantlitz trage, trete der Gedanke der Verschiedenheit auf Grund der volkseigenen Leistungsfähigkeit. Nur in einem Großraum, der in diesem Sinne als Lebensraum gedacht werde, könne eine „Harmonie der Ungleichen“ hergestellt werden. Was eine gestufte Rechtsordnung beispielsweise in Bezug auf das Staatsangehörigkeitsgesetz konkret bedeutete, stellte Staatssekretär Wilhelm Stuckart klar. Es ergebe sich eine „natürliche Stufung der Bevölkerung […], als zwischen Volkszugehörigen, Fremdvölkischen und Fremdrassigen ein lebens- und naturgesetzlicher Unterschied besteht“. Reichsbürgerrecht hieß die Konstruktion, mit der die „blutsmäßige Zugehörigkeit“ rechtlich festgeschrieben wurde. Während zunächst „das Rassenproblem die Kernfrage der Staatsangehörigkeits- und Reichsbürgergesetzgebung“ gewesen sei, stehe nun auch die rechtliche Unterscheidung zwischen artverwandten und artfremden Völkern im Zentrum. Auch hier sei danach zu entscheiden, wer nach rassischer Überprüfung als erwünschter oder eben unerwünschter Zuwachs einzustufen sei. An letzteren habe das Großdeutsche Reich „nur ein raumgebundenes, kein völkisches Interesse“ (Stuckart, 1943:61, 74, 85). Während Höhn begrifflich das „Völkische“ vorzog und insgesamt eher im Ungefähren darüber verblieb, wie diese Neuordnung faktisch aussehen sollte, sprach der damals noch in Heidelberg, später in Straßburg lehrende Rechtswissenschaftler Herbert Krüger wie Daitz unmissverständlich von der Homogenität der Rassen. Zwar verfüge das Reich als räumliche Größe über die Fähigkeit, Völker verschiedenster Natur in einer komplexen Einheit zu umgreifen, dies setze aber Rassengleichheit als Strukturprinzip voraus. Für den Großraum, den Krüger lieber als „äußeres Reich“ bezeichnet wissen wollte, könne von diesem Grundsatz keinesfalls abgerückt werden, denn wenn Rassenzugehörigkeit meine,
dass die Rasse das tiefste Element der Bildung des einzelnen Menschen sowohl wie der Völker ist, so heißt das eben negativ, dass daneben ein Element von gleicher oder gar stärkerer Wirkungskraft nicht denkbar ist. Insbesondere kann der Raum solche Gegensätze nicht überbrücken (Krüger, 1941:164).
Krüger nahm kein Blatt vor den Mund: Völker verschiedener Rassen seien in einem als Lebensraum strukturierten Großraum nicht miteinander zu vereinbaren, das schließe vor allem „die Juden“ wie auch alle anderen „raumfremden Mächte“ aus. Ob darunter auch die Polen fielen, war indes strittig.
In diesem und auch in anderen Texten der RVL lässt sich die Überlegung erkennen, ob im Prozess der Großraumbildung die Fortexistenz aller in diesem Raum vorhandenen Völker garantiert sei. Oder anders ausgedrückt: Es ging um die Kausalität zwischen Großraumbildung und Völkermord. Denn in Bests Umarbeitung der „völkerrechtlichen“ zur „völkischen“ Großraumordnung vollzog sich die Transformation von einem rechtlichen zu einem „lebensgesetzlichen“ Verhältnis. Wie Best in seiner Replik auf Schmitts dritte Buchauflage ausführte, kennzeichne der Begriff völkisch,
dass an die Stelle willkürlich gesetzter ‚Rechtsbeziehungen‘ zwischen willkürlich bestimmten ‚Rechtssubjekten‘ die bewusste Gestaltung lebensgesetzlich bestimmter Wechselbeziehungen zwischen den schicksalgegebenen Volks'organismen' tritt (Best, 1941:1534).
Ziel einer neuen Großraumordnung sei es nicht, eine neue Völkerrechtsordnung zu errichten, sondern „die Struktur des Völkerlebens“ generell zu verändern. Best redete also über biologisch definierte Beziehungen. In dem anonym publizierten Text hielt er dazu fest, dass „Führung auf die Dauer nie ohne oder gegen den Willen der Geführten ausgeübt werden kann“ (Best, 1942:140). Dieser Satz meinte nicht nur das, was er auf den ersten Blick aussagt. Liest man ihn nur als Herrschaftsstrategie eines autoritären Systems, verstünde man Best grundfalsch. Seine Argumentation zielte nicht nur auf eine autoritäre Führung im Großraum, sondern auf die für ihn legitime Option der Vernichtung, falls ein Grundkonsens zwischen „Führung“ und „Geführten“ eben nicht herstellbar war. Das Verhältnis zwischen Führungsvolk und unterworfenen Völkern folgte dabei einer nüchternen Abwägung: Ein Führungsvolk könne gegenüber den übrigen Völkern dieses Raumes nur in zweifacher Weise verfahren. Entweder vernichte es „ganze Völker dieses Großraumes in ihrer gesamten lebenden Substanz“ beziehungsweise verdränge sie aus dem beherrschten Großraum oder aber die Beziehungen zwischen den Völkern müssen lebensgesetzlich gestaltet werden (Herbert, 1996:281–289). Entscheidend an dieser Argumentation ist die generelle Option des Führungsvolkes, ob „die anderen Völker in dem von dem stärksten Volk beherrschten Großraum belassen werden“ (Best, 1942:139). Ihre Vernichtung war nach Bests Auffassung zwar nicht in jedem Fall die „vernünftigste“ Maßnahme, sie war aber eine von mehreren Optionen. Diese Rechtfertigung von Völkermord publizierte Best 1940 noch anonym, zwei Jahre später formulierte er dieses Kalkül bereits in abgründiger Offenheit:
Vernichtung und Verdrängung fremden Volkstums widerspricht nach geschichtlichen Erfahrungen den Lebensgesetzen nicht, wenn sie vollständig geschieht (Best, 1942).
Die von Höhn, Best, Stuckart und anderen SS-Führungskräften zwischen 1940 und 1943 verfassten Texte offenbaren die Entschlossenheit, eine Art „politische Theorie“ (Herbert, 1996:297) völkischer Herrschaft zu etablieren. Ihre Programmatik schärfte sich zu einem nicht unerheblichen Teil an der Kontroverse mit Carl Schmitt über die völkerrechtlichen beziehungsweise völkischen Grundprinzipen einer zukünftigen Großraumordnung in Europa. Wenn auch bestimmte Praktiken der räumlichen Homogenisierung hinter der angeblichen Wirksamkeit nebulöser Lebensgesetze unkenntlich blieben, überrascht die zuweilen brutale Offenheit, mit der die Option zum Völkermord gerechtfertigt wurde. Die Behauptung Höhns, eine vollständige Systematik zur Neuordnung Europas sei jedoch noch nicht vorzeigbar, diente indes nicht nur der Verschleierung der bereits praktizierten Massenvernichtung, sondern entsprach der Überzeugung, die eigene politische Theorie aus der Praxis der territorialen Neuordnung heraus generieren und weiterentwickeln zu können. Die rassenbiologische Homogenisierung des vormals polnischen und später sowjetischen Staatsgebietes diente hierfür als zentrales Experimentierfeld.
Geographische Raumtheorien, wie die von Friedrich Ratzel, Rudolf Kjellén oder Karl Haushofer, waren für diese Juristen unerheblich. Ebenso wie die völkerrechtliche Großraumordnung von Carl Schmitt sahen sie auch in der Geopolitik letztlich unbrauchbare Varianten des westlichen Imperialismus und seinen rechtlich fixierten Gleichheitspostulaten. Beides gedachten sie radikal und endgültig zu überwinden. Ihr Fanatismus brauchte keine Bezugnahme oder Rückbindung an tradierte Eroberungs- und Herrschaftssysteme. Das Schlagwort vom Lebensraum übernahmen sie zwar aus dem geopolitischen Diskurs, machten daraus aber eine rassenbiologische und im Kern antisemitische Ordnungsvision. Die SS-Juristen zielten dementsprechend zwar auch auf eine Lebensraumordnung, sie bezogen sich damit aber nicht auf Friedrich Ratzels Biogeographie, sondern ihr Lebensraum hatte sich im rechten Milieu nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Eroberungs-, Herrschafts- und Vernichtungsprogrammatik entwickelt, die nicht mehr nur eine imperiale Weltordnung beanspruchte, sondern rassenbiologische Herrschaft in Europa realisieren wollte (Jureit, 2012). Dem Nationalsozialismus ging es nicht nur um die eigene Hegemonie in Europa oder in der Welt, es ging ihm nicht nur um Ressourcen, Ausbeutung, Unterdrückung und Machtgewinn, es ging um die Biologisierung der Weltherrschaft in Theorie und Praxis. Selbstverständlich war dafür geopolitisches Denken grundlegend, aber das war es für französische und britische Herrschafts- und Expansionsmodelle auch. Das Spezifische der nationalsozialistischen Lebensraumdoktrin war nicht Ratzels „Kampf um Raum“, sondern die rassenbiologische Umgestaltung aller Lebens- und Herrschaftsbereiche nach innen wie nach außen. Für diese „Umvolkung“ Europas beanspruchte man zu wissen, nach welchen Gesetzmäßigkeiten menschliches Zusammenleben funktioniert. Man selbst verstand sich als auserwählter Vollstrecker eines als schicksalhaft verklärten biopolitischen Auftrages, für dessen Realisierung der technisierte Massenmord stets eine von mehreren Optionen war.
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Ich danke Benedikt Korf und zwei anonymen Gutachtern für Hinweise und Kritik.
This paper was edited by Benedikt Korf and reviewed by two anonymous referees.
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- Kurzfassung
- Einleitung
- Souverän ist, wer über den Vorbehalt des Interventionsverbots entscheidet
- Leerer Raum
- Völkische oder völkerrechtliche Großraumordnung? – Eine Kontroverse
- Genozid als Option
- Lebensraum als Programm
- Datenverfügbarkeit
- Interessenkonflikt
- Haftungsausschluss
- Danksagung
- Begutachtung
- Literatur
- Kurzfassung
- Einleitung
- Souverän ist, wer über den Vorbehalt des Interventionsverbots entscheidet
- Leerer Raum
- Völkische oder völkerrechtliche Großraumordnung? – Eine Kontroverse
- Genozid als Option
- Lebensraum als Programm
- Datenverfügbarkeit
- Interessenkonflikt
- Haftungsausschluss
- Danksagung
- Begutachtung
- Literatur