Articles | Volume 74, issue 1
https://doi.org/10.5194/gh-74-27-2019
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Book review
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28 Jan 2019
Book review |  | 28 Jan 2019

Book review: Die Erde, der Mensch und das Soziale. Zur Transformation gesellschaftlicher Naturverhältnisse im Anthropozän

Pascal Goeke
Dates

Laux, H. und Henkel, A. (Hrsg.): Die Erde, der Mensch und das Soziale. Zur Transformation gesellschaftlicher Naturverhältnisse im Anthropozän, transcript, Bielefeld, 305 ff., ISBN 978-3-8376-4042-7, EUR 34.99, 2018.

1 Zumutungen des Anthropozäns

Das Anthropozän mutet der Soziologie, aber auch vielen anderen Wissenschaften wie etwa der Humangeographie, allerlei zu: Lange Zeit anerkannte Unabhängigkeitserklärungen zur disziplinären Selbstvergewisserung („soziologische Erklärungen sind unabhängig von …“) und Gegenstandsabgrenzung („Gesellschaft ist unabhängig von …“) werden offen angegriffen; naturwissenschaftliche Erkenntnisse bedrängen mit ihren twitterfähigen „stunning facts“ sozialwissenschaftliche Diskussionsmodi und ermöglichen eine neue Blüte von Welterklärern, die eine vergessen geglaubte Universalgeschichte im planetarischen Massstab wiederbeleben; und deutlich wird auch, dass die lange Zeit von Handlungspressionen relativ befreiten Sozial- und Geisteswissenschaften verstärkt hinsichtlich ihrer Nützlichkeit für die grosse sozial-ökologische Transformation geprüft werden.

In dem von Henning Laux und Anna Henkel editierten Band „Die Erde, der Mensch und das Soziale“ finden sich 13 Aufsätze von 14 Autor*innen, die in den Horizont dieser und ähnlicher Zumutungen zu stellen sind. Leider, um mit dem kleinen Manko des Bandes zu beginnen, verzichten die beiden Herausgeber*innen auf eine systematische Benennung der Zumutungen und ersparen sich zudem die Mühen einer leitenden Fragestellung. Stattdessen präsentiert die autor*innenlose Einleitung lediglich die bekannte Erfolgsgeschichte des Anthropozänbegriffs und fasst die Beiträge zusammen. Diese Orientierungslücke gleichen die Herausgeber*innen auch in ihren eigenen Beiträgen nicht aus. Zwar skizziert Laux die „Soziogenese“ des Anthropozäns facettenreicher als in der Einleitung, aber die von ihm vorgestellten soziologischen Strategien im Umgang mit dem Anthropozän möchte ich hier schon allein deshalb nicht wiederholen, weil sie entweder gar nicht oder nur unzureichend belegt werden. Und obwohl Henkel im Titel ihres Beitrags verspricht, die Herausforderungen des Anthropozäns für die Soziologie zu skizzieren, wirbt sie lediglich für ihre eigene Position einer Soziologie der Nachhaltigkeit.

Zum Glück sind viele Beiträge mehr als nur „explorative Sondierungen“ (S. 13) und somit für die Geographie lehrreicher. Es lohnt sich daher der Frage nachzugehen, ob und wie die Autor*innen, die mehrheitlich aus der Soziologie, aber auch aus der Geographie, der Philosophie sowie der Wissenschafts- und Technikforschung kommen, mit den Zumutungen des Anthropozäns umgehen.

2 Zumutungen als Aufbruchsmotivation

Besonders inspirierend lesen sich die Beiträge von den Autor*innen, die sich der verschiedenen Zumutungen des Anthropozäns bewusst sind und ihnen nicht mit rechthaberischem Grummeln oder diffamierender Süffisanz begegnen, sondern sich offen für Veränderungen zeigen. Dies gilt zum Beispiel für Roland Lippuner, leider der einzige Geograph im Band, der die Herausforderungen des Anthropozäns für die Sozialwissenschaften kenntnisreich aufzeigt, aber nicht der Versuchung erliegt, bestehende ideenreiche und elaborierte Theorien wegen einiger Unzulänglichkeiten gleich gänzlich über Bord schmeissen zu wollen. Und weil er das Anthropozän grundsätzlich weiter und vielfältiger als die Geologie begreift, muss er es auch nicht wegen seines vermeintlich entpolitisierenden Charakters verwerfen, sondern kann sich für mehrere und verschiedene Theorien und Begriffe öffnen. Im Ergebnis skizziert er eine neo-kybernetische Ökologie mit den Leitbegriffen der Komplexität und Kontrolle und wird so den vielen Neben-, Mit- und Gegeneinandern im Anthropozän epistemologisch und sachlich gerecht. Ähnlich verhält sich der Beitrag von Stephan Lorenz. Zwar behagt ihm der Anthropozänbegriff nicht, aber weil er davon absehen und seine theoretischen Prämissen mit dem Anthropozän verbinden kann, entwickelt er über das Thema Bienen verschiedene sozialwissenschaftliche Perspektiven im und auf das Anthropozän, die neue Einsichten und eventuell auch neue Handlungsoptionen versprechen. Der gemeinsame Nenner dieser teils neuen Perspektiven im Anthropozän – er würde Ökozän bevorzugen – ähnelt Lippuners Argumentationen: Detailkenntnisse seien nötig, aber nicht hinreichend, um einen Sinn für die „Dynamiken ökologischen Zusammenlebens zu entwickeln“ (S. 245).

Als Auftrag für die empirische Forschung sehen Tanja Bogusz und Nico Lüdtke das Anthropozän. Beide fragen, welche Konsequenzen es für die Wissenschaft hat, wenn anthropozäne Förderkulissen mit Transformationsimperativen errichtet werden. Theoretisch vielschichtig reflektiert und empirisch reichhaltig berichtet Bogusz von ihren Beobachtungen über soziotechnische, geopolitische und epistemische Arrangements eines vorrangig am Pariser Naturkundemuseum beheimateten Expeditionsteams, das sie nicht allein in Frankreich, sondern auch bei einer Expedition zum Bismarck-Archipel begleitete. Das Ergebnis: Die mit dem Anthropozän verbundenen epistemischen, politischen und soziotechnischen Triften wirbeln den traditionellen Forschungsmodus Expedition durcheinander. Das ist mühsam, aber mit Blick auf Gerechtigkeitsansprüche auch lohnend. Lüdtkes Beitrag hat zunächst wenig mit dem Anthropozän zu tun. Weil er aber die Probleme und Bearbeitungsmodi transdisziplinären Arbeitens benennt und die Idee der (Selbst-)Verantwortung theoretisch ausarbeitet und empirisch illustriert, bietet er Einsichten in praktische und moralische Aspekte dieser Arbeitsweise. Cordula Kropp weist im Zusammenhang mit der geforderten Transformation noch auf die Widerständigkeiten von Infrastrukturen hin und rückt ihr Forschungsthema in den Horizont der Anthropozändiskussionen. Dabei stellt sie überzeugend heraus, dass im Anthropozän „jedes stabile Gegenüber de-ontologisiert und in einen Strudel hybrider Identitäten gerissen“ wird (S. 191).

3 Ambivalenzen des Anthropozäns

Weil die Anthropozändiskussionen auf praktisch alle Weltverhältnisse abstellen, kann man ihnen und ihren Transformationsimperativen kaum entrinnen. Zudem zwingt der universalistische Charakter des Anthropozänbegriffs zu Positionierungen. Katharina Block weist in diesem Zusammenhang auf eine konstitutive Ambivalenz des Anthropozäns hin: Mit dem Bewusstsein vom Anthropozän geselle sich zu den von Sigmund Freud benannten kosmischen, evolutionären und psychologischen Kränkungen des Menschen eine vierte narzisstische Kränkung, für die Block selbst keinen knappen Begriff anbietet, die sich aber als natürlich-umweltliche Kränkung und zukünftig vielleicht noch zusätzlich als digitale Kränkung bezeichnen ließe. Obwohl also der Mensch im Anthropozänbegriff zentral gestellt wird, gelte es zu erkennen, dass der Mensch immer auch ein Naturwesen sei und entsprechend auch von der Natur, der Umwelt oder dem Körper her zu begreifen sei. Aus der in den Anthropozändiskussionen angezeigten Not will Block eine Tugend machen und plädiert dafür, mit dem Begriff des Anthropozäns nicht allein die Kränkung anzunehmen, sondern an der Überwindung des Anthropozäns zu arbeiten. Es überrascht zu sehen, dass diese Position, obwohl in der Argumentation von Helmuth Plessner stehend und mit interessanter philosophischer Raffinesse versehen, nicht mehr sonderlich weit vom bekannten Anthropozännarrativ der Grossen Transformation entfernt ist. Auch Joachim Fischer wendet sich der Philosophischen Anthropologie Plessners zu, stellt ausgewählte Grundzüge sehr gut vor und riegelt die Theorie doch ab: Sie sei aufgrund ihrer Architektur gut geeignet, um (i) sozialkonstruktivistische und kulturalistische Ansätze, (ii) überdehnte Vitalismusansätze, (iii) die engere Anthropozän-Theorie und (iv) kritische Theorien des Anthropozentrismus einzuhegen. So unstrittig dieses Verdienst ist, so rigide kommt die Darstellung daher. Es fehlt die Lust auf Veränderung und wenn praktisch nur der Begriff der exzentrischen Positionalität vorgetragen wird, dann bleibt auch ein wenig offen, was die Philosophische Anthropologie für die Diskussion noch zu bieten hat.

Die recht schroffe Rückweisung einer wunderbaren Einladung zur Veränderung – denn auch das ist das Anthropozän – schimmert auch in Arno Bammés Beitrag durch. Die natürlich-umweltliche Kränkung ficht ihn nicht an. Stattdessen stellt er im Gestus des Welterklärers auf das Gesamtbild ab: neolithische Revolution, Achsenzeit, Mosaische Unterscheidung, griechisches Mirakel, europäisches Mirakel und schliesslich das Anthropozän seien die wichtigsten „sozialhistorischen Wegscheiden“ für ein angemessenes Verständnis der Gegenwart. Aphorismen stützen sein grosses Bild: Nur Apokalyptiker, so Bammé mit Verweis auf Sloterdijk, könnten heute noch vernünftige Zukunftspolitik machen (S. 38). Bitte nicht! Die von ihm identifizierten fünf Gestaltungsaufgaben (Konzeption einer Weltregierung unter Beibehaltung der Errungenschaften demokratischer Zivilgesellschaften; Gemeinwohlökonomie mit kreativer Dynamik; nachhaltige Gesellschaftspolitik; postakademische Wissenschaft im Dienste der Gesellschaft bei gleichzeitiger Wahrung wissenschaftlicher Autonomie; und Weltethik unter Berücksichtigung der modernen Lebenswissenschaften ohne Rückbezug auf konkurrierende Gottheiten) sind zwar nicht falsch, aber in ihren Begründungen erratisch. Und wenn er wiederkehrend von dem Menschen spricht, dann möchte man ihm raten, Habermas' und Luhmanns Ausführungen zu Gesellschaft nicht wie zu Beginn seines Beitrags en passant als theoretische Irrgänge auszusortieren, sondern mit Gesellschaft zu rechnen – wer sonst sollte für die Transformation mitentscheidend sein? Den Reigen der ambivalenten Beiträge schließt Andreas Folkers ab, der Carl Schmitts Konzept des „nomos der Erde“ aufgreift, um Resilienz als gegenwärtigen Nomos, als Rechts- und Erdordnung des Anthropozäns, zu identifizieren. Das überzeugt. Auf Verwunderung werden vielleicht seine Aussagen stoßen, dass die Klimawissenschaften mit Eisbohrkernen „bewaffnet“ seien (S. 152), wir im Sinne Anna Tsings die „Ruinen des Kapitalismus“ bewohnen (S. 151) und Donna Harraway mit dem Bild des Kompostierens – aus dem Abfall des Vergangenen entsteht der Boden für Neues – einen guten Blick für die anstehenden Aufgaben biete. In meinen Augen nimmt Folkers seine überzeugende, aber selbstverständlich selektive Analyse des ersten Teils zu ernst und verliert sich in etwas wohlfeilen Metaphern und praktisch nur schwer vorstellbaren Forderungen.

4 Fazit

Aus Platzgründen konnten nicht alle Texte des Bandes gebührend kommentiert werden – Karl-Werner Brand verbindet gesellschaftliche Naturverhältnisse noch aufs Engste mit kapitalistischen Entwicklungen und das Autorenduo Jeremias Herberg und Gregor Schmieg widmen sich der viel zu oft vergessenen Technosphäre. Die (deutschsprachige) Geographie kann und sollte in meinen Augen dreierlei aus dem vielfältigen Band lernen. Erstens zeigen die Beiträge, dass der Begriff Anthropozän nur geologisch als Nachfolge- oder Unterbegriff des Holozäns zu verstehen ist, sonst aber als soziale Weltbeobachtungsformel wirkt und in diesem Sinn eher der Globalisierungsdiskussion folgt. Zweitens sollte der Begriff genau deshalb nicht als naturwissenschaftlicher Übergriff verschmäht, sondern in seiner Vielfalt und Zeitdiagnostik verstanden und diskutiert werden. Für die seit jeher vielstimmige Geographie folgt daraus drittens die Chance, ihre Erfahrungen mit umweltlichem Denken, Skalen – jetzt bis hin zum planetarischen Massstab – und mit praktischen Umsetzungserfahrungen in die Diskussion hineintragen zu können. Eine offene Grundhaltung bei gleichzeitiger Suche nach besonderen sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen ist dabei, das zeigen die guten Beiträge des Bandes, unerlässlich.