Articles | Volume 76, issue 2
https://doi.org/10.5194/gh-76-177-2021
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04 May 2021
Standard article |  | 04 May 2021

„Geografe, nüme schlafe!“: Radikale Geographie in Zürich (1980–1990)

Benedikt Korf, Maxie Bernhard, Tim Fässler, Meret Oehen, Nicola Siegrist, Livia Zeller, and Gary Seitz
Kurzfassung

In early summer 1980, radical geography students rallied around the slogan „Geografe nüme schlafe!“ („Geographers, stop sleeping!“) to take part in the radical youth movement that shook the city of Zurich at that time. In turn, these activist students brought these struggles back into the university and the geography department, where they confronted the professorate with their demands for a new curriculum. This paper argues that the antagonistic Stimmung, in which these struggles took place, produced a radical „thought style“ that flourished in a specific constellation of „thought events“: a prominent theory seminar in 1980, the AK WissKri, a network of radical geography students, the „Geoscope“ journal and, finally, a number of diploma theses on feminist, urban and historical geography. In these thought events, a radical geography materialized outside and beyond the mainstream of German language geography. Building on archival material and narrative interviews, this paper documents these student initiatives for a radical geography, and illustrates the precarious conditions of possibility of radical geography, in Zurich, and beyond.

Da war eine Demo geplant in der Stadt, und es hat diese Glocke gehabt im Treppenhaus [im Institutsgebäude an der Blümlisalpstrasse] … und dann hat jemand diese Glocke geläutet und gerufen: ‚Geografe, nüme schlafe, Geografe ad Demo‘ … Da war rasch ein ziemlicher Aufruhr … Das war für die Professoren (…) eine massive Provokation. Sie konnten nichts damit anfangen.

(Christian Schmid, 6. Mai 2019)

1 Eine vergessene Revolte?

Im Mai 1980 kam es in Zürich zu den sogenannten „Opernhauskrawallen“. Junge Aktivistinnen und Aktivisten protestierten dagegen, dass der Zürcher Stadtrat 60 Millionen Franken für die Renovation des Opernhauses bewilligte, ein neues Autonomes Jugendzentrum (AJZ) jedoch ablehnte. Es sei „eine bleierne Zeit“ gewesen und zugleich unheimlich aufregend, erzählt Christian Schmid (5. März 2020), damals Student am Geographischen Institut der Universität Zürich:

Diese Stadt war zwei Jahre im Ausnahmezustand, es gab zeitweise Demos jede Woche … es gab viele Verletzte, und auch viele Verhaftete, am Schluss waren es mehrere Tausend Strafverfahren. … Das war eine sehr turbulente Zeit. (C. Schmid, 6. Mai 2019)

Viele Geographiestudierende nahmen an den Protesten teil und beteiligten sich an Aktivitäten der autonomen Jugendszene.

Wir beschränkten uns nicht auf die theoretische Arbeit, sondern beteiligten uns ausserhalb der Universität überall dort, wo in dieser Stadt während der achtziger Jahre etwas lief,

erinnert sich Richard Wolff, damals Geographiestudent, heute Stadtrat der Alternativen Liste (AL) in Zürich.1

Theorie und politische Praxis gehörten für diese revoltierenden Studierenden zusammen. Deshalb riefen sie ihren Mitstudierenden zu: „Geografe, nüme schlafe! Geografe ad Demo“. Zugleich trugen sie die Revolte zurück ans Geographische Institut an der Universität Zürich und wendeten sich gegen den etablierten Lehrplan. Die Studierenden verstanden sich als Avantgarde kritischer und radikaler Geographie. Sie forderten einen Raum für Gesellschaftskritik und Theorie in der Geographie. Von ihren Lehrenden am Institut konnten sie dazu wenig erwarten: Statt länderkundlichen Vorlesungen zu folgen, eigneten sie sich im Eigenstudium die theoretischen Grundlagen radikaler und kritischer Geographie an. Sie organisierten Theorieseminare, vernetzten sich mit deutschen Studierenden und schrieben radikale Texte in der Fachschaftszeitschrift. So schufen sie in Zürich einen intellektuellen Raum für eine radikale Geographie.

Die Geschichte der radikalen Geographie in Zürich musste, wie im gesamten deutschsprachigen Raum, als studentisches Projekt (vgl. Best, 2009:351ff., 2016) gegen eine skeptische Professorenschaft2 erkämpft werden. So gilt der 1969 in Kiel abgehaltene Deutsche Geographentag („Kiel 1969“) in vielen Lehrbüchern als paradigmatisches Ereignis, in dem erstmals kritische Studierende gegen das Establishment im Fach öffentlich revoltierten (Werlen, 2000:208; Weichhart, 2008:68); doch blieben von den studentischen Initiativen für eine politisch und theoretisch radikale Geographie nur wenig Spuren in der deutschsprachigen Geographie übrig (vgl. Best, 2009:351; Belina, 2014). Eine dieser Spuren führte nach Zürich: „Eine der nachhaltigen Folgelinien [von ‚Kiel 1969‘] führt zunächst in die Schweiz“, hält Benno Werlen (2014:297) dazu fest und zählt u. a. wichtige Initiativen zur kritischen Fachgeschichte, zur kritischen Stadtforschung und zur Genderforschung auf, an denen Christian Schmid und Richard Wolf beteiligt gewesen waren. Auch habe die Zeitschrift „Geoscope“ des Zürcher Fachvereins „zu dieser Zeit für die deutschsprachige Geographie eine ähnliche Stellung [eingenommen] wie die Zeitschrift ‚Geografiker‘ der Fachschaft der FU Berlin rund um ‚Kiel 1969‘“ (Werlen, 2014:298).3

In disziplingeschichtlichen Arbeiten zur kritisch-marxistischen oder radikalen Geographie steht meist die marxistische Geographie im anglophonen Raum im Vordergrund – mit David Harvey als zentralem Akteur, dessen Schriften die anglophone Geographie über Jahrzehnte geprägt haben. Diese Geschichte kann man in all ihren Facetten in den von Trevor Barnes und Eric Sheppard herausgegebenen Spatial Histories of Radical Geography (2019) nachlesen. Aber die Geschichte radikaler Geographie ist vielschichtig und nicht auf den anglophonen Raum beschränkt (vgl. Best, 2009; Minca, 2003). Während Harvey die anglophone Geographie seit den 1970er Jahren stark beeinflusst hat, sind radikale und kritisch-marxistische Strömungen in der deutschsprachigen Geographie weitgehend marginalisiert geblieben (Belina et al., 2009; Belina, 2014). Erst die Internationalisierung und Neoliberalisierung der deutschen Hochschullandschaft seit den späten 1990er Jahren habe radical geography auch im deutschsprachigen Raum satisfaktionsfähig gemacht – als Import „internationaler Geographie“ (Best, 2009, 2016).

Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie sich die studentischen Initiativen für eine radikale Geographie genau zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort ausbilden konnten, und das ausgerechnet in einem eher konservativen Institutsmilieu. Diese spezifische Konstellation, so werden wir aufzeigen, lässt sich als eine bestimmte „Stimmungslage“ beschreiben: Die sich radikalisierenden Studierenden agierten in einer antagonistischen gesellschaftlichen Stimmung und trugen diese „Stimmungslage“ an das Geographische Institut der Universität Zürich. Dies erklärt die Intensität der Auseinandersetzung, aber auch des Engagement der Studierenden, die ihre Freiräume im Studienplan ausgiebig zur Theorielektüre nutzten. Theorie wurde aber immer im Blick auf mögliche politische Aktion gelesen – und sie wurde kollektiv gelesen. „Theorie“ zeigt sich so, folgt man Ludwik Fleck, als ein materialisiertes „Denkereignis“ (Fleck, 1983).

Methodisch greifen wir auf eine Kombination von Archivmaterialien und oral history (Interviews mit Zeitzeug*innen) zurück. Institutsjahresberichte, die Ausgaben der Zeitschrift des Fachvereins Geographie („Geoscope“) und Sitzungsprotokolle des Fachvereins gaben erste Einsichten in die damalige Stimmung unter den Studierenden und am Institut, über die Forderungen der Studierenden, die Artikulation ihrer radikalen Positionen und die Themen, die ihnen am Herzen lagen. Narrative Interviews mit Studierenden der damaligen Zeit (Julia Concepcíon-Sanz, Anne-Françoise Gilbert, Hansruedi Hitz, Philipp Klaus, Christian Schmid, Gary Seitz, Dominik Siegrist, Robert Weibel), zweitens mit Dozierenden der damaligen Zeit (Harald Haefner, Klaus Itten, Herbert Wanner, Benno Werlen) und anderen Personen, die mit den kritischen Studierenden im Austausch standen (Ulrich Eisel, Huib Ernste, Wolf-Dietrich (Woody) Sahr), ermöglichen eine Rekonstruktion der damaligen Stimmung – am Institut und unter den Studierenden.4

Die Interviews wurden alle aufgenommen, transkribiert und thematisch kodiert. Eine mögliche Anonymisierung der Zitate erschien dem Forschungsteam als wenig zielführend: Die meisten Beteiligten, sowohl auf Ebene der Studierenden und der Dozierenden, können aus öffentlich zugänglichen Dokumenten (z.B. Diplomarbeiten, Institutsberichten, „Geoscope“-Artikeln) leicht identifiziert werden. Deshalb haben wir sowohl von einer systematischen Anonymisierung der Interviewten als auch von der Anonymisierung von genannten Personen in den Interviews in den meisten Fällen Abstand genommen. Lediglich in einigen wenigen Fällen wurde die Nennung der Namen beteiligter Personen vermieden, insbesondere, wenn diese nicht für eine Stellungnahme verfügbar waren. Alle Interviewaussagen wurden von den betroffenen Personen freigegeben.

2 Stimmungen lesen

In disziplingeschichtlichen Arbeiten zur Geographie besteht Einigkeit, dass „Theorie“ nicht einfach als abstrakte, Raum und Zeit transzendierende Erkenntnistheorie zu verstehen ist, sondern immer an konkrete Orte gebunden ist, an denen sie entwickelt wurde (Livingston, 2003:3; Barnes, 2004; Barnes und Sheppard, 2019:5; Schlottmann und Wintzer, 2019:9). Ananya Roy spricht von einem territory of thought (Roy, 2015:16), das von einer „Denkstimmung“ geprägt wird. Mit „Denkstimmung“ bezeichnet Ludwik Fleck (1980 [1935]) eine „besondere Stimmung“, in der ein „Denkkollektiv“ einen gemeinsamen „Denkstil“ ausbrütet (vgl. dazu Hasse, 2016:82; Korf und Verne, 2016:366; Schlottmann und Hannah, 2016). Damit bringt Fleck zum Ausdruck, dass Erkennen „ein tätiges, lebendiges Beziehungseingehen, ein Umformen und Umgeformtwerden“ (Fleck, 1983:48) ist, das von sozialen Stimmungen geprägt wird. Theorie lässt sich mit Fleck als materialisiertes „Denkereignis“ verstehen (vgl. Schlünder, 2005:60), das sich in ortsgebundenen Milieus ereignet: Dies zeigen einige der in Barnes und Sheppard (2019) aufgeführten Studien für die nordamerikanische radikale Geographie, so die Bedeutung von Baltimore für das Denken David Harveys (Sheppard und Barnes, 2019) oder des spezifischen Milieus in Berkeley, an dem sich die economic geography radikalisiert habe (Peck und Barnes, 2019).

Wie aber können solcherart „Stimmungen“ für die disziplingeschichtliche Analyse vergegenwärtigt werden? Für Martin Heidegger ist „Stimmung“ mit der existentiellen Bedingung der „Geworfenheit“ verbunden (Sein und Zeit, 1927) und als solche von präreflexivem Charakter, d. h. nicht bewusst wählbar. Zentral ist dabei der Begriff der „Befindlichkeit“ (Heidegger, 1927:136). Byung-Chul Han fasst Heideggers Gedankengang so zusammen: „Die Stimmung be-stimmt das Sehen der Möglichkeiten“ (Han, 1999:19), d. h., sie be-stimmt das Blickfeld. Diese Stimmung ist ein „Drittes“ ausserhalb des Subjektes. Stimmungen drücken damit eine geteilte atmosphärische Konstellation, eine Art geschichtsphilosophische Vergegenwärtigung einer „Epoche“ oder geschichtlichen Situation, aber eben auch ganz lokale Konfigurationen persönlichen Erlebens im Kollektiv aus. Flecks „Denkstimmung“ zeigt sich so zugleich geschichtsphilosophisch als Stimmung einer bestimmten Zeit als auch eines ganz bestimmten Kollektivs von Wissenschaftler*innen. Stimmungen können dabei etwas Ansteckendes haben – sie erzeugen „Schwingungen“ unter Gleichgesinnten, können aber auch Dissonanzen auslösen (Wellbery, 2003:705f.). Die Unmittelbarkeit solcher Stimmungen wird oft nostalgisch in Erinnerung gerufen (von denen, die „dabei waren“). Gerade deshalb warnt Hans Ulrich Gumbrecht:

Zur Empathie der Stimmungsvergegenwärtigung sollte immer auch eine Dosis von Nüchternheit und verbaler Selbstbeschränkung gehören. (Gumbrecht, 2011:28)

Bisherige disziplingeschichtliche Studien und anekdotische Kommentare zeigen lokale Konstellationen auf, ohne notwendigerweise auf den Begriff der Stimmung analytisch zurückzugreifen. Dies trifft z.B. für den Kieler Geographentag von 1969 („Kiel 1969“) und dessen Nachwirken in der deutschsprachigen Geographie zu (vgl. Korf, 2014). So beschreibt Peter Weichhart (2016:7) die „Stimmung“ am Institut für Geographie in Salzburg unmittelbar nach dem Ereignis und berichtet davon, wie einer seiner damaligen Dozenten vor dem Untergang des Faches warnte. Ulrich Eisel spricht vom „Lebensgefühl“ der damaligen linken Geographiestudierenden, das einem „Rausch“ geglichen habe:

Es gab eine Einheit von Leben …, politischer Agitation, Theoriearbeit, Teach-ins, Freundschaft, Diskussion, die atemlos machte. (Eisel, 2014:316)

Doch sprang dieser „Rausch“ nicht auf die etablierte Hochschulgeographie über:

So befreiend Kiel 1969 war, so unfrei war das Fach … noch bis in die 1990er Jahre hinein. (Helbrecht, 2014:320)

– unfrei in Bezug auf eine wissenschaftstheoretische Kritik ihrer eigenen Grundlagen ebenso wie in Bezug auf eine kritische Gesellschaftstheorie. Im Rückblick auf sein Studium an der TU München mehr als zehn Jahre nach Kiel erinnert sich Ulf Strohmayer jedoch, dass ganz bestimmte Personalkonstellationen das „Infragestellen analytischer Grenzen“ zumindest punktuell ermöglichten (Strohmayer, 2020:217).

Anekdotische Erzählungen als Teil einer oral history des Faches laufen jedoch Gefahr, dass sie „auf die gängige Mode zurechtgetrimmt und dann als Kampfmittel im Zuge der Durchsetzung neuer Ideen instrumentalisiert werden“ (Wardenga, 1996:14). So wird für die Beschreibung des Durchbruchs der „Neuen Kulturgeographie“ nach der Jahrtausendwende oft auf Stimmungsmomente Bezug genommen, die sich am Gründungsmythos „Kiel 1969“ abarbeiten. So berichtet Woody Sahr vom „total überfüllten Hörsaal mit 68er-Stimmung“ einer Fachsitzung auf dem Geographentag in Leipzig 2001, wo man sich wie bei einer „Freitagsdemo“ gefühlt habe (Sahr, 2012:442). Für Steinbrink und Aufenvenne (2016:85) kommt in solchen Schilderungen eine spezifische Denkstimmung der Neuen Kulturgeographie zum Ausdruck: „Man begriff sich als rebellisch und als intellektuelle Vorhut des geographischen Wissensfortschritts“. Darin spiegele sich eine rhetorische Wiederholung des „Gründungsmythos“: Leipzig werde zum neuen Kiel ausgerufen.

In Ergänzung zu oral histories rekonstruiert disziplinhistorische Archivarbeit die institutionellen Bedingungsmöglichkeiten bestimmter Ereignisse und Stimmungslagen. So zeigt z.B. Ute Wardenga auf, wie dem Ereignis „Kiel 1969“ – der berühmten Fachsitzung, auf der eine Gruppe kritischer Studierender ihre Fundamentalkritik an der „klassischen“ Geographie vortrug (Meckelein und Borchert 1970:191ff.) – intensive Vorabsprachen zwischen den Studierenden und den Verbänden der Geographie vorausgingen, u. a. in einer Vorbereitungssitzung in Köln (Wardenga, 2020:17ff.). Für die quantitativ-theoretische Wende spüren Boris Michel und Katharina Paulus nach, wie deren Erfolg „von persönlichen Netzwerken“ und ganz spezifischen Personalkonstellationen im Institutsgefüge abhing – im von Paulus untersuchten Fall in Erlangen (Michel und Paulus, 2018; Paulus, 2017). Diese Archivrekonstruktionen werden durch ergänzende Analysen, z.B. von Eisel (2017), Scheuplein (2017) und Wardenga et al. (2011), bereichert, die aufzeigen, wie diese lokalen Konstellationen auch der gesellschaftlichen „Stimmung“ ihrer Zeit verhaftet sind.

In unserer Studie werden Archivarbeit und oral history komplementär herangezogen, um die Stimmungslage am Geographischen Institut an der Universität Zürich in den frühen 1980er Jahren zu rekonstruieren. So lässt sich aufzeigen, wie sich bestimmte Stimmungslagen so verdichten, dass sie sich als „Denkereignisse“ (Fleck) einer radikalen Geographie materialisieren. Dadurch soll die Bedeutung bestimmter Milieus, Denkkollektive und ihrer Denkstimmungen für die Ausbildung bestimmter fachlicher und theoretischer Neuerungen in der Geographie veranschaulicht werden.

3 „Kalter Krieg“: Eine antagonistisch aufgeladene Stimmungslage

Als auslösendes Ereignis für die „Revolte“ unter den Geographiestudierenden in Zürich gilt die Demonstration gegen den damaligen Erziehungsdirektor Alfred Gilgen vom 9. Juni 1980. Damals protestierten mehr als 2000 Studierende an der Universität Zürich gegen die Entlassung von Heinz Nigg, der am Ethnologischen Seminar lehrte und ein studentisches Lehrprojekt angeleitet hatte, in dem Studierende die Jugendunruhen und auch die „Opernhauskrawalle“ filmten. Gilgen warf Nigg vor, Kameras und Material der Universität für ein politisches Statement eingesetzt zu haben, und untersagte ihm die weitere Lehrtätigkeit an der Universität und die Veröffentlichung seines Videos. Dagegen wehrten sich die Studierenden und forderten Gilgens Absetzung: „Wir verkauften tausende von Protestbuttons ‚Gilgen, hau ab!““ (R. Wolff im Interview mit H. Nigg)5.

Für viele Geographiestudierende war dies ein zentraler Auslöser, sich zusammenzutun und den Protest auch ins Institut zu tragen:

… auf einmal stellten wir fest, als wir uns auf der Strasse oder an Veranstaltungen wiedererkannten. ‚Hey, der ist im gleichen Semester, der ist im gleichen Kurs wie ich‘. (C. Schmid, 6. Mai 2019)

Dann ist es eben auch am Geographischen Institut losgegangen. […] Das war für uns der Anfang des Protests gegen diese alte etablierte Geographie, die damals noch herrschte. (D. Siegrist, 13. Mai 2019)

Der Protest am Institut richtete sich sowohl gegen veraltete Strukturen als auch gegen eine unkritische und theoretisch wenig fundierte Lehre. In diesen Auseinandersetzungen spiegelte sich die gesellschaftliche Polarisierung: Die Studierenden fanden wenig Anklang mit ihren politischen Forderungen, denn die Dozierenden verorteten sich politisch klar im bürgerlichen Lager, das die Proteste strikt ablehnte. Benno Werlen, der 1984 ans Institut kam, erinnert sich an diese angespannte Stimmung:

Die gesamte Situation am Institut war wirklich vom Kalten Krieg geprägt. (B. Werlen, 10. Juli 2020)

Ganz ähnlich hatte es schon 1979 der damalige Privatdozent Kurt Graf ausgedrückt:

Das Geographische Institut der Uni Zürich steht extrem rechts, man darf also keine linken Diplomarbeiten schreiben, kein Professor würde seinen Namen dazu hergeben […]. (PD Dr. Graf, zitiert in: Geoscope, 25:196)

Zu dieser antagonistischen Stimmungslage trug auch bei, dass einige Dozierende hohe Positionen als Reserveoffiziere im Milizsystem des Schweizer Militärs innehatten. Für viele radikal gesinnte Studierende war dies schwer zu akzeptieren:

An der Exkursion ist der [Institutsdirektor] in der Militäruniform gekommen, da er gerade irgendwo Dienst hatte. Er war Oberst, das fanden wir unmöglich. Wir waren damals natürlich alle Armeegegner. (D. Siegrist, 13. Mai 2019)

[Der damalige Institutsdirektor] hat das wirklich auch so militärisch durchgezogen. … Auf Exkursionen halt … so ein bisschen feldherrenmässig. (R. Weibel, 23. Oktober 2019)

Ein ehemaliger Dozent bestätigt diese Auseinandersetzung, die es zwischen Studierenden und Professoren aufgrund der Haltung gegenüber dem Staat und dem Militär gab.

Ich glaube, keiner von ihnen hat Militär gemacht. Ich verurteile das nicht, aber es waren einfach Unterschiede da. (K. Itten, 7. Juni 2019)

In dieser männerbündlerischen Konstellation hatten es die wenigen Frauen unter den Studierenden nicht einfach. Eine ehemalige Studentin schildert es so:

Wenn eine Frage gestellt wurde [von einer Frau] hat der Professor vorne gesagt: ‚Ah, Mädchen, eine kluge Frage, wo hast du die Matur gemacht?‘ [oder] ‚Aus welchem Dorf kommst du?‘ Es war … wenig professionell von der Haltung her. (J. Sanz, 7. August 2019)

Neben diesen atmosphärischen Spannungen waren viele Studierende auch vom Curriculum massiv enttäuscht: Dies zeigt eine Umfrage unter Studierenden, die 1979 im Geoscope besprochen wurde (Geoscope 25:18ff.). Anstatt einer länderkundlichen, beschreibenden Geographie wünschten sie sich theoretische Auseinandersetzungen mit dem Fach.

das Höchste der Gefühle bezüglich Theorie oder Modelle war das Geosphärenmodell … und das war einfach zu wenig. (A.-F. Gilbert, 18. Mai 2019)

Eine Gruppe von radikalen Studierenden fing an, aus Protest den Unterricht zu stören und die Dozierenden zu provozieren:

Es sind da Studierende gesessen, die gestrickt haben während des Unterrichts, einfach zum Provozieren. (K. Itten, Dozent, 7. Juni 2019)

Die Vorlesungen kamen teilweise überhaupt nicht mehr vom Fleck […]. Immer hat wieder jemand anders eine kritische Frage gestellt. (C. Schmid, 6. Mai 2019)

Nicht alle Studierenden teilten jedoch die radikale Haltung dieser Gruppe:

Die meisten gingen halt doch einfach studieren … und es waren meiner Meinung nach relativ wenige, die da aktiv mitgemacht haben. … Da gab's auch die Studierenden, die eher [einen] militärischen Hintergrund hatten … die aus der rechten Ecke. (R. Weibel, 23. Oktober 2019)

Insgesamt führte die Konstellation aufgrund der Aktionen einer Gruppe radikaler Studierender jedoch zu einer antagonistischen Stimmungslage:

Die Institutsleitung, wertkonservativ und hierarchisch ausgerichtet, [sah] sich konfrontiert mit einer sich mehr und mehr radikalisierenden Studentenschaft. (H. Wanner, 7. Juli 2020)

Für die Dozierenden war es keine einfache Zeit. Der damalige Dozent Klaus Itten erinnert sich:

Für die etablierten Professoren ist es ein bisschen heiss gewesen. Weil da wirklich Unruhe gewesen ist … für ihn [einen älteren Kollegen] ist das … ein Gräuel gewesen. (K. Itten, 7. Juni 2019)

Auch im Rückblick findet Itten kritische Worte zur damaligen Situation:

Provokation und Revolte gegen das ‚akademische Establishment‘ war wichtiger als sachliche Auseinandersetzung. (K. Itten, E-Mail, 10. August 2020)

Itten bringt damit die Verständigungsschwierigkeiten zwischen Dozierenden und Studierenden zum Ausdruck, die am Institut herrschten, und die die angespannte gesellschaftliche Stimmungslage widerspiegelten.

4 Materialisierte „Denkereignisse“

Die Proteste blieben aber nicht auf Störaktionen beschränkt. Vielmehr entstand aus einer Gruppe radikaler Studierender ein „Denkkollektiv“, das Theorie und radikale Kritik in konkreten „Denkereignissen“ (Fleck) materialisierte: ein Theorieseminar, ein translokales studentisches Netzwerk und eine Sonderausgabe der Fachschaftszeitschrift „Geoscope“. Alle drei Denkereignisse bildeten Knotenpunkte einer radikalen Geographie, die in Zürich ihren Ausgangspunkt nahm, aber darüber hinauswirkte.

4.1 Das Theorieseminar 1980/81

Theorie wurde zum zentralen „kollektiven Denkereignis“, in dem sich die Studierenden gegenüber ihren Dozierenden profilierten:

Viele Studierende waren über den Stand der Theoriediskussion des Faches deutlich besser informiert als die meisten Festangestellten. (B. Werlen, 10. Juli 2020)

Theorie wurde ein Instrument in der Auseinandersetzung. Hier kannten wir uns aus! Die Profs hatten keine Ahnung. (C. Schmid, 5. März 2020)

Legendär wurde eine Vorlesungsreihe mit begleitendem Theorieseminar, die im HS 1980/81 stattfand. Die Veranstaltung ging auf vielfach wiederholte Forderungen des studentischen Fachvereins zurück.7 Da im Geoscope immer wieder die Lehre kritisiert worden war (z.B. Geoscope 25:18), bot die Institutsleitung schliesslich den Studierenden an, bei der Gestaltung eines Theorieseminars mitzuwirken (H. Wanner, 7. Juli 2020).

Mitbestimmung war dabei ein zentrales Anliegen der Studierenden. Sie wollten sich nicht mehr Inhalte diktieren lassen, sondern am Entstehungsprozess einer Veranstaltung beteiligt werden. Sie wollten das Seminar nutzen, um „nicht etablierte[n] Nachwuchskräfte[n]“ eine Gelegenheit zu bieten, um „inhaltliche Alternativen zum Bisherigen zur Sprache [zu bringen]“ (P. Bünzli, 1981, Geoscope 32:16). Schliesslich wurden auf studentischen Wunsch hin Günther Beck, Ulrich Eisel und Brigitte Wormbs eingeladen. Schmid erinnert sich, wie die Studierenden ihre Ideen einzubringen verstanden:

Wir konnten sie [die Dozierenden] in theoretische Diskussionen verwickeln und sie wussten oft überhaupt nicht, über was wir sprechen. … Und dann hatten wir natürlich ziemlich rasch eine Liste zusammengestellt von wichtigen Leuten in der deutschen Geographie. … Ja was wollt ihr denn? … Wir wollen Uli Eisel, … Günther Beck, … wir wollen sie alle. (C. Schmid, 6. Mai 2019)

Klaus Itten, der die Lehrveranstaltung als Dozent betreute, wollte hingegen im Seminar die Grenzen des Faches abstecken:

Die theoretische Geographie war damals am zerfleddern. Es geisterten Theoreme herum, Geographie ist das, was man macht, und das ging dann nicht. Man musste schon definieren, welche Teile von den Geographen sinnvollerweise abzudecken sind. (K. Itten, 15. August 2019)

Als Grundlektüre für das Seminar wurde ein Text von Hans Carol „Zur Diskussion um Landschaft und Geographie“ (Carol, 1956) ausgewählt, in dem Carol eine Systematisierung des Landschaftskonzeptes entwickelt hatte. Ausserdem nominierte die Institutsleitung ebenfalls einige Vortragende, u. a. Ernst A. Brugger, Hans R. Brunner sowie Paul Hoyningen-Huene, damals Dozierender am Philosophischen Seminar der UZH (Wanner und Itten, 1981).

https://gh.copernicus.org/articles/76/177/2021/gh-76-177-2021-f01

Abb. 1Terminplan zum Theorieseminar (Geoscope 29 (1980):19).

Vor allem gegenüber Eisel hegte die Institutsleitung einiges Misstrauen: Ausschnitte aus einem Sitzungsprotokoll des Instituts im August 1980, die im Geoscope 32 (1981) abgedruckt wurden, verdeutlichen dies. Dort erklärte Hoyningen-Huene:

Eisel ist ein gutes Beispiel eines Rattenfängers, der die Leute hinters Licht führen will. … Beim Referat von Eisel werde ich kommen und versuchen ihm an die Knie zu gehen. (Hoyningen-Huene, Sitzungsprotokoll vom 26. August 1980 am Geographischen Institut, auszugsweise abgedruckt in: Geoscope 32:23)

Eisel erinnert sich an diese Situation: Nach seinem Vortrag am 21. Januar 1981, in dem er die klassische Landschaftsgeographie kritisiert und für einen Paradigmenwechsel in der Geographie plädiert hatte, habe Hoyningen-Huene die Diskussion nach seinem Vortrag vereinnahmt (dokumentiert in: Eisel et al., 1981):

Er hat dann auf einer abstrakten Ebene das in Frage gestellt, was ich gesagt habe; er hat gleich wissenschaftstheoretisch losgeschlagen. […] Das hatte mit Geographie intern überhaupt nichts mehr zu tun. (U. Eisel, 24. Januar 2020)

Aus Eisels Sicht verhinderte die Intervention von Hoyningen-Huene eine weitere Diskussion mit dem Publikum.

[B]estimmt wurde [die Diskussion] leider durch Paul Hoyningen-Huene, das spricht nicht gegen sein Engagement, aber die anderen haben sich da gar nicht mehr einzumischen getraut. (U. Eisel, 24. Januar 2020)

Auch Klaus Itten war nicht zufrieden, aber aus anderen Gründen:

Er war ziemlich schlecht, der Vortrag, aber er [Ulrich Eisel] war eben ein Exponent der radikalen, kritischen Geographie. (K. Itten, 15. August 2019)

Itten gab damit zu verstehen, Eisel sei nur deshalb eingeladen worden, weil die Studierenden dies gewünscht hatten.

Die Studierenden feierten das Theorieseminar jedoch als Erfolg, wie im Geoscope nachzulesen ist. Dort wurde es prominent besprochen:

Das dabei befolgte Konzept scheint sich sehr zu bewähren: Studenten und Dozenten erarbeiten demokratisch einen Vorschlag, der vom Institut dann organisiert wird. Damit ist stets [sic!] ein volles Haus und eine offene Diskussion garantiert, bei der alle ihre Inhalte einbringen können. (Geoscope 22:18)

https://gh.copernicus.org/articles/76/177/2021/gh-76-177-2021-f02

Abb. 2Reaktion auf das Theorieseminar im Geoscope (Geoscope 32 (1981):1).

Auch Ittens damaliger Assistent, Herbert Wanner, zieht eine positive Bilanz. Bei der Kontroverse zwischen Eisel und Hoyningen-Huene sei der Vortragssaal „zum Bersten voll“ gewesen (H. Wanner, 7. Juli 2020). Hoyningen-Huene selbst sei „diese Kontroverse noch lange [nachgegangen]“ und auch Eisel habe sie nicht vergessen:

Eisel [hat] die Kontroverse mit Paul Hoyningen-Huene 2009 in seinem Spätwerk ‚Landschaft und Gesellschaft – Räumliches Denken im Visier‘ (Eisel, 2009) noch einmal wiedergegeben. Offenbar hatte die wissenschaftliche Debatte mit Hoyningen-Huene auch bei Eisel tiefschürfende Eindrücke hinterlassen und lange nachgehallt. (H. Wanner, 7. Juli 2020)

Die meisten Beiträge des Theorieseminars sind in der Zeitschrift Geographica Helvetica dokumentiert (Eisel, 1981; Hoyningen-Huene, 1982), ebenso die transkribierten Diskussionen im Nachgang zu den Vorträgen (Eisel et al., 1981; Hoyningen et al., 1982). Die Debatte löste über Zürich hinaus Resonanz aus: Nicht nur

Eisel sah sich im Nachgang zum Seminar zu einer Replik auf Hoyningens Referat veranlasst … Auch Prof. Dr. Gerhard Hard [ein prominenter kritischer Geist in der deutschen Geographie] meldete sich in der GH 1982, N. 3 mit einer Replik zum Aufsatz von Hoyningen-Huene zu Wort. (H. Wanner, 7. Juli 2020)8

Die Debatte im Nachgang zum Theorieseminar zeigt, dass es sich nicht um ein einmaliges Ereignis gehandelt hatte, an dem kritische Studierende einen Einblick in die Theoriediskussion im Nachgang zu „Kiel 1969“ erhielten. Vielmehr materialisierte sich hier ein „Denkereignis“ zu einem Baustein der Theoriediskussion in der deutschsprachigen Geographie, der über die damalige Konstellation hinausgeht.

4.2 Der AK WissKri

Theorie war für die radikalen Studierenden ein kollektives Ereignis. Im Arbeitskreis Wissenschaftstheorie und Wissenschaftskritik (AK WissKri) tauschten sie sich intellektuell aus – auch über Zürich hinaus – und lernten Theorien kennen, die ihre spätere Arbeit beeinflussen sollten. Begonnen hatte alles auf der deutschen Bundesfachschaftstagung für Geographie in Münster vom 18. bis 21. Juni 1981, zu der vier Studierende aus Zürich reisten: Peter Bünzli, Anne-Françoise Gilbert, Christian Schmid und Dominik Siegrist. Wegen der Jugendunruhen wurden die „Züricher“ mit grossem Interesse aufgenommen: „Wir haben ein ziemliches Aufsehen erregt, auch weil wir gleich mit einer Vierer-Delegation ankamen“, so Schmid (C. Schmid, 6. Mai 2019).

In Münster entstand der AK WissKri als multi-lokales Netzwerk, an dem sich auch Michael Fahlbusch aus Münster, Karl Heinz Deventer aus Hamburg und Mechtild Rössler aus Freiburg im Breisgau beteiligten. Deventer z.B. hatte seine Magisterarbeit zu David Harvey geschrieben, der führende Kopf der radical geography im anglophonen Raum. Von diesem Wissen profitierten die anderen Studierenden:

Wir hatten plötzlich Zugang zum gesamten kritischen Wissen, das damals verfügbar war in Deutschland oder in der deutschen Geographie. (C. Schmid, 6. Mai 2019)

Um Theorie kollektiv zu lesen und zu erarbeiten, führte der AK WissKri eine Reihe von selbstorganisierten Seminaren an der Universität als auch in Berghäusern in den Alpen und im Jura durch, zu denen Ulrich Eisel und andere kritische Geographinnen und Geographen eingeladen wurden:

Mit einigen haben wir über Jahre Seminare gemacht … Wir waren ihre Diskussionspartner. … Die haben dicke Bücher geschrieben … Wir haben das aufgesogen. (D. Siegrist, 13. Mai 2019)

Ein solches „dickes Buch“ war zum Beispiel Eisels „Die Entwicklung der Anthropogeographie von einer ‚Raumwissenschaft‘ zur Gesellschaftswissenschaft“ (Eisel, 1980). „Das gelbe Monster nannten wir das dazumal“, so Anne-Françoise Gilbert. Und Dominik Siegrist und Hansruedi Hitz erinnern sich an das sogenannte „Eisel-Spiel“ (H. Hitz, 13. Mai 2019): Beim Lernen in Kleingruppen habe man zur Entspannung eine Zahl zwischen 1 und 670 aufgesagt (die Seitenzahlen von Eisels Buch) und „dann haben wir einfach so lange vorgelesen bis der andere angefangen hat zu lachen. Und dann haben wir weitergelernt“ (H. Hitz, 13. Mai 2019).

Solche Anekdoten zeigen auf, wie gerade die freundschaftliche Stimmung zwischen ihnen eine wichtige Rolle spielte – und der Spass an der Sache, aber auch am Feiern:

Neben dieser ganzen Auseinandersetzung mit den Texten und den inhaltlichen Diskussionen [gab es] auch einen sehr freundschaftlichen Zusammenhalt … (A.-F. Gilbert, 18. Mai 2019)

Einstiegsvorlesungen, Lagerfeuer, Ausflüge mit Studenten. Das war auch noch lässig, wir waren eine gute Gruppe. (D. Siegrist, 13. Mai 2019)

Für Bernd Belina sind dies wichtige Räume positiver Affekte, in denen sich radikale Geographie formierte. Als Beispiel zitiert Belina (2020:26) dazu den Bericht über ein Treffen des AK WissKri „im tiefen Schwarzwald“, in dem nach „Vier-Tage-Dauerdiskussion“ plötzlich alle zu tanzen anfingen. Es sind Schwingungen, die eine Stimmung erzeugen, in der sich Theorie als kollektives „Denkereignis“ materialisiert. Denn trotz allem Spass an der Sache arbeitete man theoretisch auf hohem Niveau, wie Eisel betont:

Die waren einfach gut. Und zwar jeder Einzelne von denen, und wie die das als Gruppe durchgezogen haben als selbstorganisierter Lehrgang, das hat mir gefallen. Mit denen zu diskutieren, lohnte sich. … das war theoretisch wie auch menschlich die intellektuell reizvollste Gruppe für mich, um über Geographie zu reden. (U. Eisel, 24. Januar 2020)

Woody Sahr, damals Geographiestudierender in Tübingen, bestätigt diesen Eindruck, den „die Züricher“ auf ihn während einer Fachschaftstagung in Tübingen machten:

Sie waren viel artikulationsfähiger als wir, denn in den Diskussionen verfielen sie untereinander ins Schwyzerdütsch, so dass wir anderen alle zu ‚ausländischen‘, aber staunenden Zuhörern/schauern wurden. … uns beeindruckte der Züricher Aktivismus … [sie waren] ein leuchtendes Vorbild: So wären wir gerne gewesen. (W. Sahr, 1. Juli 2020)

So gilt die Mitarbeit im AK WissKri für fast alle Beteiligten als Meilenstein:

Da wurde diese ganze kritische Bewegung aufgenommen, eben über Zürich hinaus. (A.-F. Gilbert, 18. Mai 2019)

Hier war ein Denkkollektiv radikaler Geographie entstanden, vornehmlich als studentisches Projekt und ausserhalb des Lehrplans der Universitäten.

4.3 Geoscope Extern

Zum zentralen inhaltlichen Manifest der Gruppe wird schliesslich das „Geoscope Extern“ (Geoscope 37), das zu Weihnachten 1982 erscheint. Die Texte in diesem Heft zeigen den „Denkstil“, den die Mitglieder des AK WissKri teilten: Erstens ist die eigene Betroffenheit ein wichtiger Topos: „Nur Betroffenheit stimuliert zu Auseinandersetzungen“ (S. 78). Diese Betroffenheit verlange, zweitens, eine politische Positionierung, auch in der Wissenschaft und in der Geographie: „Neutralität ist nur unter Selbstaufgabe möglich“ (S. 59). Damit verbunden solle sich, drittens, die Geographie auf die eigene Stadt und deren Strukturen konzentrieren, um die Vernetzungen des globalen Kapitalismus aufzudecken: „Der Geograph hat es nicht mehr nötig, exotische Peripherien zu suchen: inmitten seiner konsumell-zerbombten Städte organisiert er plötzlich neue Expeditionen“ (S. 65).9 Schliesslich wird, viertens, radikaler Aktivismus eingefordert: Wissenschaft müsse „auf eine gesellschaftliche Veränderung hinzielen“ (S. 12). Es ist von „Kampf“, „Subversion“ und „Eroberung“ die Rede: „Feministischer Kampf geschieht überall, auf der Strasse, …, konkret für uns, an der Uni …“ (S. 12).

https://gh.copernicus.org/articles/76/177/2021/gh-76-177-2021-f03

Abb. 3Titelblatt des Geoscope Extern (Geoscope 37 (1982):1).

Auch intellektuelle Angriffslust gehört zu diesem Denkstil. In verdichtetem Duktus greifen eine Reihe von Texten die damaligen Stars der deutschen Geographie an:10 Theorie gebe es in dieser Geographie nicht, sondern „bestenfalls einen attributiven Wirth'schen Selbstbehauptungspanzer ‚theoretische Geographie‘“ (S. 59). Damit wird auf ein 1980 erschienenes Buch des einflussreichen Erlanger Geographen Eugen Wirth mit dem Titel „Theoretische Geographie“ verwiesen. Wirth unternimmt dort eine Synthese zwischen quantitativer Geographie à la Dietrich Bartels und Länderkunde und marginalisiert zugleich die gesellschaftskritischen Impulse von „Kiel 1969“ (vgl. Belina et al., 2009:50f.; Paulus, 2017). Aber auch die kritische Geographie wird nicht verschont, wenn vom „Hard'schen Zitierkartell“ (S. 59) die Rede ist, oder wenn gefordert wird, die Sprache müsse „verständlicher und offener werden als die abgesicherten Satzbauten der 68-er (Leng, Beck, Eisel, …), die zu wenig basisdemokratische Konzessionen machen“ (S. 78).

Das „Geoscope Extern“ blieb in seiner Wirkung nicht auf Zürich beschränkt. Wir erinnern noch einmal an Werlens Einschätzung, dass das „Geoscope“ in dieser Zeit für die deutschsprachige Geographie „eine ähnliche Stellung [einnahm] wie die Zeitschrift ‚Geografiker‘ der Fachschaft der FU Berlin rund um ‚Kiel 1969‘“ (Werlen, 2014:298). Dies bestätigt auch Woody Sahr:

Legendär war für alle Fachschaftler in Deutschland die Nummer 37 von Geoscope. Das Heft … schliesst in gewisser Weise die erste Phase des linken Bewusstseins in der deutschsprachigen Geographie ab, die noch studentisch dominiert war (trotz einiger Altmeister im Umfeld). (W. Sahr, 1. Juli 2020)

So verdichtete das „Geoscope Extern“ einige der „Denkereignisse“ radikaler Geographie erstmals in schriftlicher Form.

4.4 Kritische Diplomarbeiten

Mit AK WissKri, Lektüreseminaren und Geoscope hatte radikale Geographie ausserhalb oder am Rande der Universität ihren Ort gefunden. Irgendwann kam aber für die Studierenden die Frage nach der Abschlussarbeit auf. Bei der Themenwahl, der Suche nach Betreuungspersonen und der konkreten Ausgestaltung der Arbeiten trafen sie schnell auf grundlegende Vorbehalte aus der Professorenschaft, die die Bruchlinien zwischen Studierenden und Dozierenden nochmals offen zutage brachten, da die Studierenden nun ihre kritischen Impulse in institutionalisierter Form (der Abschlussarbeit) vorlegen mussten. Hier mussten sie sich in der antagonistischen Stimmungslage am Institut behaupten und Kompromisse eingehen.

Zuerst zeigte sich dies bei Peter Bünzli. Bünzli genoss grosse Achtung unter den radikalen Studierenden:

Peter hatte einfach ein unglaubliches Wissen, … er hat mir eigentlich die ganze Geschichte der Geographie eröffnet. (C. Schmid, 6. Mai 2019)

Peter Bünzli war jener, der am meisten las, er hatte alle diese Texte gelesen. (A.-F. Gilbert, 18. Mai 2019)

In den Vorlesungen hat er … diese Dozenten auseinandergenommen. (J. Sanz, 7. August 2019)

Kein Wunder, war Bünzli unter den Dozierenden umstritten und gefürchtet:

Für mich war Peter Bünzli eigentlich der stärkste Agitator, den ich so kennen gelernt habe. (H. Haefner, 4. Februar 2020)

Zugleich aber gab es auch anerkennende Worte:

Als er in die Schlussprüfungen kam … Der hat eine Prüfung hingelegt! 6! Punkt! (H. Haefner, 4. Februar 2020)11

Bei der Diplomarbeit gab es aber Spannungen: „Mit Bünzli ist es schwierig gewesen“, schildert es Klaus Itten (7. Juni 2019), der dessen Diplomarbeit mitbetreute. Er habe offen zur Revolte aufgerufen: „Es ging ziemlich heftig zu und her“, so Itten (7. Juni 2019). Man habe seine Arbeit „zurechtstutzen“ müssen, „denn da waren sehr üble Passagen drin. … Man solle die Hirne der Akademiker an den Mauern schleifen … das ging nicht“ (K. Itten, 15. August 2019).

Als dann zwei Jahre später Anne-Françoise Gilbert eine Diplomarbeit zur Feministischen Geographie schreiben wollte, hatte sie Schwierigkeiten, überhaupt eine Betreuungsperson zu finden:

Im Bereich der Anthropogeographie musste ich bei Herrn Leemann abschliessen, er war der einzige Professor. Und er hatte natürlich gar nichts am Hut mit alle dem. (A.-F. Gilbert, 18. Mai 2019)

Gilbert interessierte sich für feministische Ansätze der Wissenschaftstheorie. Zusammen mit ihrer Freundin Mechtild Rössler aus dem AK WissKri holte sie sich Impulse aus der anglophonen Feministischen Geographie:

Alles, was wir auftreiben konnten, haben wir kopiert. Wir haben auch mit einzelnen Frauen Kontakt aufgenommen […]. Zum Beispiel […] mit Bowlby oder auch Risa Palm … und die haben uns zum Teil dann zurückgeschrieben und waren auch interessiert. (A.-F. Gilbert, 18. Mai 2019)

Gilbert wollte ursprünglich eine rein theoretische Arbeit zur Feministischen Geographie schreiben, musste dann aber ihre Arbeit umstrukturieren, damit sie ihre Diplomarbeit überhaupt am Institut durchführen konnte.

In diesem Sinne war das nicht wirklich eine freie Entscheidung, die Arbeit so auszurichten. Die Bedingung war, dass ich mit konkreten Ansätzen aus der Geographie arbeite. Das war die Voraussetzung, dass ich an diesem Institut überhaupt eine solche Arbeit schreiben konnte. (A.-F. Gilbert, 18. Mai 2019)

Benno Werlen, der ihre Arbeit schliesslich betreute, fühlte sich von der Institutsleitung unter Druck und versuchte, die Skepsis der anderen Dozierenden gegenüber der Feministischen Geographie und Gilberts Themenwahl auszuräumen. Die Umstrukturierung der Arbeit empfahl er, damit sie ihre Diplomarbeit erfolgreich abschliessen konnte:

Ich habe ihr ein strenges Arbeitsprogramm auferlegt, so dass sie auch unter diesen schwierigen Rahmenbedingungen zeigen konnte, was ihr Ansatz leisten kann. (B. Werlen, 10. Juli 2020)

Tatsächlich schloss Gilbert 1985 ihre Diplomarbeit mit dem Titel „Frauenforschung am Beispiel der Time-Geography: Textanalysen und Kritik“ erfolgreich ab.

Nach Gilbert folgten mit Regula Bachmann und Julia Sanz weitere Studierende, die Diplomarbeiten zur Feministischen Geographie schrieben. Anders als Gilbert stiessen sie aber nicht mehr auf offene Ablehnung:

Leemann hat uns nicht Steine in den Weg gelegt. … Geistige Nahrung haben wir aber nicht wirklich dazubekommen. (J. Sanz, 7. August 2019)

Sie mussten sich ihre Betreuung aber ausserhalb des Institutes organisieren (in der Ethnologie). Bei der Vorstellung ihrer Diplomarbeiten trafen sie jedoch weiter auf Skepsis und Unverständnis:

Da kommt der [damalige Dozent] und sagt: ‚Jetzt muss ich doch fragen: Ist das noch Geographie?‘ (Ph. Klaus, 12. November 2019)

[Ein damaliger Dozent] hat nur gesagt ‚Ich komme nicht draus‘. [Ein anderer Dozent] hat sich in Schweigen gehüllt. (J. Sanz, 7. August 2019)

Doch auch Bachmann und Sanz schlossen ihre Arbeiten erfolgreich ab.

Dominik Siegrist hatte sich ein politisch heikles Terrain ausgesucht. In seiner Diplomarbeit zu „Faschismus und Geographie“ arbeitete er eng mit Michael Fahlbusch aus Münster und Mechtild Rössler aus Freiburg im Breisgau zusammen, die alle über das Zusammenspiel von Geographie und Faschismus während der 1930er und 1940er Jahre an ihren jeweiligen Instituten forschten. Für seine ideologiekritische Untersuchung analysierte Siegrist repräsentative Texte aus der Schweizer Anthropogeographie von 1930–45, u. a. auch solche des ehemaligen Institutsleiters an der Universität Zürich, Hans Boesch. Dieser hatte 36 Jahre lang (1942–1978) das Geographische Institut geleitet und war 1978 (kurz vor Siegrists Studienbeginn) sehr unerwartet gestorben.

In seiner Arbeit dokumentierte Siegrist Aussagen von Boesch, die dessen positive Haltung gegenüber dem (deutschen) Nationalsozialismus erkennbar machten. Für den damaligen Institutsdirektor, der viele Jahre unter Boesch gearbeitet hatte, war das nicht akzeptabel, denn Boesch, der erst vor Kurzem verstorben war, stand bei ihm in hohem Ansehen. Der Vorwurf der Nestbeschmutzung stand im Raum:

Und dann kommt so ein kleiner Student, der in dem Sinne an dieser Biographie herumkitzelte. Das ging natürlich gar nicht … Hans Boesch durfte man nicht kritisch erwähnen. Das war der grosse Übervater der Zürcher Geographie. (D. Siegrist, 13. Mai 2019)

Siegrist wurde zum Institutsdirektor vorgeladen:

Der sagte, ich müsse gewisse Sachen herausstreichen, meine Arbeit wurde richtiggehend zensuriert. (D. Siegrist, 13. Mai 2019)

Der Institutsdirektor konnte sich auf Nachfrage an eine derartige Besprechung nicht mehr erinnern, hält aber fest:

… wenn es etwas Derartiges gab in seiner Arbeit und ich hab' ihm das rausgestrichen, dann sag ich nach wie vor: Dann ist das in Ordnung. (H. Haefner, 4. Februar 2020)

Siegrist sah sich gezwungen, die entsprechenden Passagen zu streichen:

Ich wollte doch meine Arbeit abgeben. Erstaunlicherweise wurde die Arbeit dennoch mit ‚sehr gut‘ bewertet. (D. Siegrist, 13. Mai 2019)

Auf Schwierigkeiten stiess auch eine Gruppe von vier Studenten: Roger Hartmann, Hansruedi Hitz, Christian Schmid und Richard Wolff. Diese wollten ihre Diplomarbeit zur Stadtgeschichte Zürichs als Gruppenarbeit schreiben. Das Thema hatten sie gewählt, um zu verstehen, wieso es zur urbanen Revolte gekommen war:

Wir wollten wissen, wieso eigentlich … sind wir auf die Strasse gegangen? (C. Schmid, 6. Mai 2019)

Zugleich wollten sie die Theorien anwenden, die sie im AK WissKri diskutiert hatten: „Wir wollten die Entwicklung der Stadt Zürich aufgrund unserer Theorie … testen“, erinnert sich Hansruedi Hitz (13. Mai 2019). Mit grossem Elan erarbeiteten sie sich dazu gemeinsam die Theorie:

Dann haben wir einfach zu viert, im Enthusiasmus … ein dreihundertseitiges Buch geschrieben. … es war eigentlich ein unmögliches Unterfangen, und das Verrückte war, dass wir das auch noch geschafft haben. (C. Schmid, 6. Mai 2019)

Das Buch wurde in einer angesehenen Buchreihe publiziert:

Das war unvorstellbar … du publizierst das als Buch, also der Traum jedes Doktoranden oder jeder Doktorandin, die kriegt ihr Buch publiziert, wow! (C. Schmid, 6. Mai 2019)

Doch wurde ihnen dieser Erfolg später zum Stolperstein:

[Das] wurde uns im Nachgang noch als Nachteil ausgelegt, es hiess dann, ah ja, [der theoretische Teil] ist ja schon publiziert … und darum wird er nicht mehr in die Beurteilung einbezogen. (C. Schmid, 6. Mai 2019)

Ausserdem habe ihr Betreuer auf der Einhaltung des ursprünglich vereinbarten Konzepts bestanden. Dieses hatte einen Theorieteil und vier historische Teile vorgesehen:

Wir haben mit vollem Enthusiasmus gearbeitet und dann sagte [unser Betreuer]: ‚Das war euer Konzept, und das müsst ihr jetzt einlösen‘. (C. Schmid, 6. Mai 2019)

Der Betreuer, Klaus Itten, betonte hingegen, es sei vor allem ein formales Problem gewesen, und er habe Ärger in der Fakultät bekommen:

Die Fakultät verlangte, dass vier Arbeiten abgegeben werden, … die auch beurteilt werden konnten und für welche es Diplome geben konnte. (K. Itten, 15. August 2019)

Itten sieht es so:

Es war eine etwas langwierige Geschichte. Ich hatte mit den Vieren sehr viele Diskussionen geführt. … Ich habe ihnen nicht gross dazwischen gelangt, habe einfach geschaut, dass sie die Normen nicht sprengen. (K. Itten, 7. Juni 2019)

Hartmann, Hitz, Schmid und Wolff mussten die vier historischen Teile als individuelle Arbeiten ausarbeiten, um ihren Abschluss zu erhalten. Richard Wolff schloss seine Arbeit bereits anfangs 1985 ab, Hartmann, Hitz und Schmid jedoch erst 1989. Es sei eine schwierige Zeit gewesen: „Wir waren jetzt plötzlich in einer Falle“, so Schmid (C. Schmid, 6. Mai 2019). Hitz erinnert sich, dass sie unter der Situation „gelitten“ hätten (H. Hitz, 13. Mai 2019). Bereits 1982 hatten die vier eine eigene Organisation, das „Senter for Applied Urbanism“ (SAU) gegründet, Veranstaltungen organisiert, Artikel publiziert, und ein Buch zu Zürich herausgegeben. „Und dann immer noch dieses Diplom am Hals“ (C. Schmid, 6. Mai 2019). Schlussendlich schlossen aber alle vier ihre Arbeit ab.

5 Spuren radikaler Geographie

Fassen wir zusammen: Um 1980 entstand in Zürich eine spezifische Konstellation, in der radikale Geographie sich als „Denkereignis“ in studentischen Zirkeln materialisiert und einen spezifischen Ort gefunden hat: Die sich radikalisierenden Studierenden trugen die antagonistische gesellschaftliche „Stimmungslage“, in die sie sich „geworfen“ sahen, an das Geographische Institut der Universität Zürich. Unterschiedliche Denkereignisse (Theorieseminar, AK WissKri, Geoscope) schufen einen Ort, an dem sich eine radikale Geographie materialisierte. Die Schwierigkeiten rund um die Betreuung der Diplomarbeiten verdeutlichen noch einmal die angespannte Stimmung, die in den frühen 1980er Jahren am Geographischen Institut zwischen Institutsleitung und Professorenschaft auf der einen und dieser Gruppe radikaler Studierender auf der anderen Seite herrschte. In dieser antagonistischen Grundstimmung, die die gesellschaftliche Stimmungslage in der Stadt Zürich widerspiegelte und die sich auch am Institut zeigte, entwickelte sich eine ganz spezifische „Befindlichkeit“ (Heidegger), in dem sich die kritischen und radikalen Denkstile dieser Studierenden formierten und die deren spezifischen Stil be-stimmte. Vier Stimmungsdispositionen trugen diese „Befindlichkeit“:

  • Erstens: Die Studierenden wurden zu Beginn ihres Studiums in eine antagonistische gesellschaftliche Stimmungslage „geworfen“, die bei ihnen eine bestimmte „Befindlichkeit“ auslöste, die sie zeitlebens prägen sollte. Für diese Gruppe von Studierenden bedeutete relevant sein, sich kritisch mit ihrer Stadt und Gesellschaft aus einer dezidiert „linken“ Perspektive auseinanderzusetzen. Die Dozierenden am Institut wiederum sahen in dieser gesellschaftlichen Positionierung gerade die Gefahr einer „Politisierung“ der Geographie, die sie verhindern wollten.

  • Zweitens: Theorie wurde zu einem Ort der Auseinandersetzung, auf dem die Studierenden den Lehrenden eine überlegene Kompetenz entgegenhalten konnten. Es wurde viel gelesen – Klassiker kritischer Theorie ebenso wie die „jungen Wilden“ der kritischen Geographie der damaligen Zeit. „Theorie als höchstes Gut“, so beschreibt Ulrich Raulff (2014, 150) diese Denkstimmung, die damals in linken Kreisen weit verbreitet war: „Heute zieht man verwunderte Blicke auf sich, wenn man zu schildern versucht, mit welch heiligem Ernst, aber auch welcher Lust man sich damals auf alles stürzte, was nach Theorie aussah …“. Für die Studierenden wurde Theorie aber nie zu einem Selbstzweck, sondern blieb eng mit ihrem Aktionismus verbunden.

  • Drittens wurde Theorie als Denkkollektiv vollzogen: Theorie war Ereignis, auch Ausdruck von Freundschaft und Gemeinsamkeit. So bezogen die Studierenden ihre theoretischen Inspirationen vor allem aus eigenen Arbeits- und Lesegruppen untereinander. Solche Theorie-Lesezirkel florierten damals auch in vielen deutschen Universitätsstädten (vgl. Felsch, 2015).

  • Viertens verhärtete sich die Stimmung am Institut bei der Betreuungsfrage der Diplomarbeiten. Von den Dozierenden aus dem Geographischen Institut konnten sie keine inhaltlichen Impulse erwarten: „Es gab keine inhaltliche Betreuung; es ging um die Frage, ob jemand bereit ist, die Arbeit abzunehmen“ (A.-F. Gilbert, 5. März 2020). Genau hier spielten dann die institutionellen Hierarchien: Die Studierenden mussten Kompromisse eingehen, um ihre Arbeiten abschliessen zu können.

In vielerlei Hinsicht sind diese Arbeiten dennoch einschlägige „materialisierte Denkereignisse“ (Fleck) einer radikalen Geographie geworden. So betrat Bünzlis „Autonome Regionalgeographie“ (1982) theoretisches Neuland. In ihr finden sich schon Spuren der wichtigen Arbeiten von Michel Foucault und von anderen französischen Poststrukturalisten, deren Rezeption zu diesem Zeitpunkt in den Geisteswissenschaften erst am Anfang stand (Birnstiel, 2016) und in der deutschsprachigen Geographie sogar erst in den späten 1990er Jahren Fahrt aufnahm (vgl. Glasze und Mattissek, 2009; Füller und Michel, 2012). Gilbert wiederum galt als Pionierin feministischer Geographie in der Schweiz. Noch heute spricht Benno Werlen voller Respekt:

Anne war wirklich die erste Schweizer Geographin, die über Gender-Forschung gesprochen hat. (B. Werlen, 10. Juli 2020)

Ihr zusammen mit Mechtild Rössler im „Geoscope Extern“ veröffentlichter Text gilt als einer der ersten Beiträge zur Feministischen Geographie im deutschsprachigen Raum.

Wichtige Bücher entstanden: Dominik Siegrist publizierte 1989 gemeinsam mit Michael Fahlbusch und Mechtild Rössler drei Fallstudien zur Geographie im Nationalsozialismus in Band 51 der Reihe „Urbs et Regio“, die als einschlägige Buchreihe kritischer Geographie galt. Der Band ist bis heute ein wichtiger Meilenstein in der kritischen Aufarbeitung der Fachgeschichte der deutschsprachigen Geographie. Auch das 1986 in der Reihe „Geographische Hochschulmanuskripte (GHM, Band 12)“ unter dem Titel „Theorien zur Stadtentwicklung“ veröffentlichte Gemeinschaftswerk von Hartmann, Hitz, Schmid und Wolf wurde ein grosser Erfolg und diente über Jahre als Standardwerk der deutschsprachigen kritischen Stadtgeographie.

Aber der Preis dafür war hoch: Karrieretechnisch bedeutete dieser intellektuelle Mut das Ende jeglicher Möglichkeiten, damals in der Hochschulgeographie Karriere zu machen, sei es in Zürich oder andernorts im deutschsprachigen Raum. Zu radikal schienen ihre Positionen, zu angriffig ihre Haltung, zu unorthodox ihre Themen:

Normalerweise wird man ja in ein Fach sozialisiert und nimmt den Habitus und die Inhalte des Faches auf. Wir haben uns sozusagen im Widerspruch zum Fach sozialisiert. (A.-F. Gilbert, 18. Mai 2019, unsere Hervorhebung)

Schlussendlich blieb nur der Ausstieg:

Man konnte nur über einen Wechsel … in das internationale Feld … [oder] ein anderes Fach entkommen. Und das galt im Wesentlichen für die gesamte deutschsprachige Geographie. (C. Schmid, 6. Mai 2019)

Die radikalen Studierenden promovierten im Ausland (z.B. Christian Schmid bei Benno Werlen in Jena) und in anderen Fächern (Anne-Françoise Gilbert in Soziologie in Frankfurt am Main) oder machten ausserhalb der Akademie Karriere (z.B. Richard Wolff, der heute Stadtrat in Zürich ist). Und doch liegt darin eine Tragik, so Benno Werlen, denn „so ging dem Fach damit eine ganze Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verloren“ (Werlen, 2014:297).

Mit der Internationalisierung der deutschsprachigen Geographie sind die Theorien der radical geography, die damals auf so grossen Widerstand stiessen, in der deutschsprachigen Geographie satisfaktionsfähig geworden (vgl. Belina et al., 2009; Best, 2016). So betont Schmid heute (C.  Schmid, 5. März 2020): die anglophone kritische Stadtgeographie – „das sind meine Leute“. Und Anne-Françoise Gilbert hält fest:

Im angelsächsischen Raum wäre ich bei der Geographie geblieben. (A.-F. Gilbert, 5. März 2020)

Zugleich erinnern Theodore et al. (2019:6) jedoch daran, dass die radical geography auch in der anglophonen Geographie bis in die frühen 1980er Jahre „subtle oppressions“ erfahren habe. Es sei damals auch in der anglophonen Geographie nicht einfach gewesen. Aber: „Die Frontstellung von damals gibt es heute nicht mehr“, hält Schmid fest (C. Schmid, 5. März 2020) – weder international noch im deutschsprachigen Raum. Erst kürzlich betonte Uli Eisel deshalb auf einem Podiumsgespräch in Zürich gegenüber heutigen Geographiestudierenden:

Für Euch ist es leichter: Ihr könnt kritische Geographie machen – ihr müsst es einfach nur wollen. (U. Eisel, 5. März 2020)

Ute Wardenga formuliert es, für einen anderen Kontext, ähnlich:

Heute braucht man nicht mehr viel Mut, um ‚kritisch‘ zu sein – das war [damals] ganz anders. (Wardenga, 2020:20, Hervorhebung im Original)

Datenverfügbarkeit

Die in diesem Projekt erhobenen Daten sind vertraulich und können aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht öffentlich zugängig gemacht werden. Alle zitierten Passagen wurden von den interviewten Personen explizit freigegeben. Die Daten der Interviewtranskripte sind auf einem geschützten Server archiviert.

Autorenmitwirkung

Alle Autor*innen beteiligten sich am Design der Untersuchung und an der Durchführung und Auswertung der Interviews und der Archivdaten. GS bereitete wichtige Archivdaten auf. Alle Autor*innen beteiligten sich an der Abfassung des Projektabschlussberichtes, der die Basis für diesen Text bildet. BK entwickelte und verfasste den konzeptionellen Rahmen sowie Einleitung und Schlussfolgerungen.

Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Danksagung

Wir danken allen Personen, die sich für ein Interview Zeit genommen haben oder uns auf andere Weise ihre Sicht auf die Dinge zur Verfügung gestellt haben. Durch all diese Gespräche und Materialien haben wir einen guten Einblick in eine bewegte Zeit erhalten. Im ersten Teil dieses Projektes haben sich noch folgende Personen an der Datenerhebung und Archivauswertung beteiligt: Daria Alessi, Yasmine Bastug, Vladimir Kojovic, Livia Murdzinski und Sanne Schnyder. Phulba Doma Lama hat in ihrer unveröffentlichten Masterarbeit „Studentische Kritische Geographie an der Universität Zürich der 1970er und 1980er Jahre“ (2019) erste wichtige Ergebnisse dieses Projektes dokumentiert. Magdalena Seebauer und Franziska Schmid haben uns bei der Erstellung der Webseite des Projektes, beim Korrekturlesen des Projektabschlussberichtes und bei der Organisation eines Podiums zur Diskussion der Projektergebnisse unterstützt.

Begutachtung

This paper was edited by Nadine Marquardt and reviewed by two anonymous referees.

Literatur

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2

Da zur damaligen Zeit am Geographischen Institut an der Universität Zürich nur männliche Professoren arbeiteten (die erste Professorin am Institut wurde erst 1996 berufen), wird hier an der männlichen Form festgehalten.

3

Die Zeitschrift „Geografiker“ wurde vom Berliner Geographenkreis, einer Vereinigung kritischer Studierender, herausgegeben und erreichte im Nachgang zu „Kiel 1969“ einige Bekanntheit als zentrales Organ kritischer Geogaphie. Diese Hefte, ebenso wie einige Ausgaben von „Geoscope“, sind hier archiviert: http://kritische-geographie.de/textarchiv-kritische-geographie/ (letzter Zugriff: 9. April 2021).

4

Wichtige Vorarbeiten, insbesondere in der Archivrecherche, wurden von Phulba Doma Lama in ihrer unveröffentlichten Masterarbeit „Studentische Kritische Geographie an der Universität Zürich der 1970er und 1980er Jahre“ (2019) vorgenommen. Sie beteiligte sich auch an verschiedenen Interviews. Ebenso beteiligten sich folgende Studierende an Interviews und ihrer Auswertung, die hier verwendet werden: Daria Alessi, Yasmine Bastug, Vladimir Kojovic, Livia Murdzinski und Sanne Schnyder. Der ausführliche Abschlussbericht mit Details zur Methodik, zu den Interviews und zum Archivmaterial kann auf der Webseite https://www.geo.uzh.ch/de/department/geografe-nueme-schlafe.html (letzter Zugriff: 9. April 2021) eingesehen werden. Das Interview mit Huib Ernste wurde von Benedikt Korf am 5. Februar 2021, nach Abschluss des Projektes durchgeführt.

6

„Geoscope“ ist die Zeitschrift der Fachschaft Geographie an der Universität Zürich. Die Ausgaben wurden durchnumeriert: Geoscope 25 bezieht sich z.B. auf die 25. Ausgabe, die 1979 erschienen ist. Ausgaben können auf der Projektwebseite eingesehen werden: https://www.geo.uzh.ch/de/department/geografe-nueme-schlafe.html (letzter Zugriff: 14. April 2021).

7

Dabei konnten sie an frühere Initiativen von Studierenden am Institut anknüpfen. So organisierten z.B. schon 1974 Zürcher Studierende das Seminar „Zur Theorie in der Geographie“, zu dem u. a. Dietrich Bartels eingeladen worden war.

8

Nachzulesen in: Hard 1982. Auch Eisel schrieb eine Replik auf Hoyningen-Huene (Eisel, 1982). Beide blieben jedoch unbeantwortet, denn Hoyningen-Huene äusserte sich darauf nicht mehr.

9

Dies kann als Seitenhieb auf einen Professor am Institut in Zürich verstanden werden, der langjährige Feldforschungen in Bali durchgeführt hatte, aber ohne kritische oder theoretische Reflexion.

10

Diese Texte wurden unter dem Pseudonym „fantasma del luvre“ verfasst. Hinter diesem Pseudonym versteckt sich vermutlich Peter Bünzli, eine zentrale Figur der radikalen Studierenden.

11

„6“ ist im Schweizer Notensystem die Höchstnote.

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Short summary
This paper studies a student movement that opened up spaces for radical geography at the geography department of the University of Zurich in the early 1980s, where these students demanded a new curriculum. Building on archival material and narrative interviews, this paper documents the "thought style" of these student initiatives and illustrates the antagonistic political mood, in which these initiatives operated. This case thereby shows the precariousness of radical theory in geography.