Book Review: Energiegeographie
Becker, S., Klagge, B., und Naumann, M. (Hrsg.): Energiegeographie, Stuttgart, UTB, 416 ff., ISBN 978-3-8252-5320-2, EUR 40,00, 2021.
Der Sammelband Energiegeographie ist vornehmlich als Lehrbuch konzipiert, bietet darüber hinaus aber auch Leser:innen anderer disziplinärer Hintergründe einen umfassenden Einblick in die Vielfalt geographischer Energieforschung. Dieser Sammelband ist das erste deutschsprachige Lehrbuch zum Themenfeld.
Der Band ist in eine Einleitung und drei thematische Blöcke gegliedert:
- I.
Konzepte und Perspektiven der geographischen Energieforschung,
- II.
Herausforderungen der Energiewende im deutschsprachigen Raum und
- III.
Umbrüche der Energieversorgung – internationale Erfahrungen.
Neben den insgesamt 35 inhaltlichen Beiträgen (davon vier Praxisbeiträge) enthält der Sammelband 24 Informationskästen mit komprimierten und gut verständlichen Erläuterungen einschlägiger Begriffe und Konzepte. Für einen schnellen Überblick ist den einzelnen Beiträgen ein kurzer Abstract vorangestellt. Ergänzend werden zentrale Aspekte der Beiträge anhand von 137 Abbildungen veranschaulicht. Diese gelungene Formatgestaltung ermöglicht eine übersichtliche und schnelle Orientierung in den einzelnen Themenfeldern. Ein umfangreiches Sachregister vervollständigt den Sammelband und macht ihn damit zum fundierten Nachschlagewerk energiegeographischer Forschung.
Die komprimierte Einleitung der Herausgeber:innen richtet den Blick auf die multiplen Herausforderungen und Konfliktpotenziale in der Transformation von Energiesystemen und verweist auf drei Gestaltungsprinzipien des Buches:
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Erstens, eine konzeptionelle Rahmung von Energieversorgung als soziotechnisches System (diese Perspektive wird in dem Beitrag von Moss unter Bezug auf Ansätze der sozialwissenschaftlichen Technikforschung vertiefend erläutert);
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Zweitens, eine integrative Ausrichtung, die sich in Verknüpfungen sowohl von geographischen Teildisziplinen wie auch interdisziplinär zeigt;
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und drittens, die Forderung nach einer transformativen Energiegeographie, die den „ Wandel der Energieversorgung als Triebkraft gesellschaftlicher Veränderung begreift“ (Becker et al., 2021:24).
Dabei fokussieren sich die Beiträge keineswegs ausschließlich auf Energieversorgung, sondern thematisieren darüber hinaus auch weiterführende Fragestellungen zu Themenfeldern wie Energiearmut (Großmann), Elektromobilität (Ryhjaug und Skølsvold), den Nexus von Wasser-, Energie- und Nahrungssicherheit (Bruns) oder Land Grabbing und Extraktivismus (Hafner).
Der Block I Konzepte und Perspektiven der geographischen Energieforschung bietet in acht Beiträgen einen Einblick in unterschiedliche konzeptionelle Herangehensweisen energiegeographischer sowie interdisziplinärer Forschungsansätze und -perspektiven, beispielsweise aus der sozialwissenschaftlichen Technikforschung (Moss), der Transitionsforschung und Multi-Level-Perspektive (Rohracher), der Politischen Ökologie (Bauriedl), aus einer poststrukturalistischen diskurstheoretischen Perspektive (Leibenath), der Praxistheorie (Boamah und Rothfuß) sowie aus finanzgeographischer Perspektive (Klagge).
Block II Herausforderungen der Energiewende im deutschsprachigen Raum stellt in neun wissenschaftlichen und drei Praxisbeiträgen verschiedene Aspekte im Kontext von Energietransformationen vor, unter anderem Rahmenbedingungen und Akteure im Kontext der deutschen Energiewende (Beiträge von Walker, Becker und Klagge sowie Meister) und die räumliche Steuerung von Erneuerbaren-Energie-Anlagen (Bosch). Ebenso werden verschiedene Konfliktfelder beleuchtet, beispielsweise Energiearmut (Großmann) oder Übertragungsnetzausbau (Weber und Kühne).
Block III Umbrüche der Energieversorgung – internationale Erfahrungen umfasst vierzehn Beiträge (inklusive einem Praxisbeitrag). Zwei der Beiträge widmen sich der Entwicklung von Energietechnologien am Beispiel der globalen Windturbinenindustrie (Menzel) und der Photovoltaik (Dewald). Weitere Beiträge dieses Abschnittes befassen sich vor allem mit den Herausforderungen, globalen Verflechtungen und (Un-)Gerechtigkeiten von Energietransformationen in Ländern und Regionen des Globalen Südens. Hierbei richtet sich der Fokus sowohl auf Transformationsprozesse im Kontext des Ausbaus erneuerbarer Energie, beispielsweise die Beiträge zur verzögerten Energietransition in Nordafrika (Schmitt) und zu Energiegroßprojekten in Kenia (Greiner und Klagge), als auch auf Entwicklungspfade im Kontext fossiler Energieträger, wie Indiens neuer Kohlegeographie (Nielsen, Oskarsson und Becker) oder Land Grabbing und Extraktivismus in Südamerika (Hafner).
Auf eine Zusammenfassung oder Kommentierung des gesamten Bandes haben die Herausgeber:innen verzichtet, was allerdings angesichts der großen Spannbreite der Beiträge leicht nachvollziehbar ist. Insgesamt gelingt den Beiträgen die Herausforderung zwischen komprimierter, fundierter, differenzierter und verständlicher Darstellung.
Kleinere Schwachpunkte zeigen sich in den Themenbereichen Partizipation und Akzeptanz, die für Energietransformationen von zentraler Bedeutung sind, allerdings in den Beiträgen aus einer stark praxisorientierten Perspektive dargestellt werden. Hier wäre eine stärkere Berücksichtigung von wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der kritischen Partizipationsforschung wünschenswert gewesen, zum Beispiel im Hinblick auf die Notwendigkeit von zielgruppenspezifischen Partizipationsverfahren und weiteren äußerst komplexen methodisch-konzeptionellen Herausforderungen (unter anderem Few et al., 2007; Walk et al., 2015; Thorpe, 2017; Baasch und Blöbaum, 2017).
Wünschenswert wäre darüber hinaus auch ein Verweis auf die Vielschichtigkeit von Gründen für die Ablehnung von Energieinfrastrukturausbau, beispielsweise der Einfluss multipler Ortsbindungen (multiple place attachments) und die Sorge um den Klimawandel auf die soziale Akzeptanz der Energieinfrastruktur (Devine-Wright und Batel, 2017). Als ein weiteres Beispiel aus dem deutschen Energiewendekontext lassen sich die Widerstände gegen den Ausbau von Übertragungsnetzen nennen, hier insbesondere in Kommunen und Regionen, die bereits auf eine dezentrale erneuerbare Energieerzeugung setzen und damit einen beziehungsweise „ihren“ Beitrag zu einer nachhaltigen Energiewende leisten (Krack et al., 2017).
In diesem Kontext hätte auch eine vertiefende Betrachtung emotionaler Aspekte, die im Zusammenhang mit Transformationsprozessen immer eine wesentliche Rolle spielen, zu einem fundierteren Verständnis von Konflikten und Herausforderungen in der Umsetzung von Energiewendeprozessen beitragen können. Hier wäre zumindest ein Verweis auf Forschungsergebnisse aus dem Kontext der Emotional Geographies zu Fragen der (Nicht-)Akzeptanz von Maßnahmen sowie den Zusammenhängen von Klimawandelwahrnehmung und -leugnung, Emotionen und Ortsbindungen bedeutsam gewesen (beispielsweise Phillips und Dickie, 2015; Rohse et al., 2020).
Fazit: Das Buch Energiegeographie stellt für die geographische Lehre eine große Bereicherung dar und bietet gerade auch im Hinblick auf die aktuelle Dynamik von gesellschaftlich brisanten Debatten um Energietransformationen wichtige und fundierte Grundlagen – nicht nur zum Verständnis und zur Analyse, sondern auch zum Mitdiskutieren.