Articles | Volume 77, issue 3
https://doi.org/10.5194/gh-77-289-2022
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04 Jul 2022
Interface |  | 04 Jul 2022

Abolitionistische Impulse für eine Sozialgeographie institutioneller Räume

Nadine Marquardt
Kurzfassung

This intervention argues for a German carceral geography that takes the framework of abolition seriously to develop a deeper understanding and critique of the exercise of power in institutional space. My claim is that we need to adapt abolition as a theoretical perspective and form of knowledge that allows us to expand the analysis of carceral practices and rationalities beyond imprisonment to include other institutional spaces of racializing, classing and disabling marginalisation.

Dates
1 Abolitionistische Perspektiven

Defund the police. Seit den Black Lives Matter-Protesten infolge der Ermordung des Schwarzen US-Amerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten im Mai 2020 finden abolitionistische Forderungen weltweit verstärkt Gehör. Auch in Deutschland kam es im Sommer 2020 zu Demonstrationen gegen strukturellen Rassismus und Debatten über den gewaltvollen staatlichen Zugriff auf marginalisierte Gruppen. Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich dabei vor allem auf Polizeigewalt. In Nordamerika ist die Kritik der Polizei für soziale Bewegungen wie Black Lives Matter gleichwohl nur ein, wenn auch zentraler, Bestandteil einer umfangreicheren abolitionistischen Agenda, die eine Reihe staatlicher Institutionen adressiert. Zusammen mit der Polizei ist das Gefängnis dort bereits seit Jahrzehnten zentrale Zielscheibe abolitionistischer Forderungen, die im Schnittfeld von sozialen Emanzipationsbewegungen und kritischen Sozialwissenschaften erarbeitet werden. Kämpfe für die Abschaffung (abolition)1 strafender Institutionen wie Polizei und Gefängnis, für die Deinstitutionalisierung und „Entknastung“ (decarceration) marginalisierter Gruppen sind in den Traditionen Schwarzer und indigener Bürgerrechts- und Befreiungsbewegungen fest verankert.

Auch für die sozialwissenschaftliche Gefängnisforschung nordamerikanischer Prägung ist der carceral abolitionism ein zentraler Bezugspunkt. Im Sinne einer abolitionistischen Agenda betont die Forschung historische Kontinuitäten des Freiheitsentzugs von der Zeit der Sklaverei über die Diskriminierung Schwarzer US-Amerikaner*innen während der Jim-Crow-Jahre bis zur heutigen Masseninhaftierung (Alexander, 2016; Gilmore, 2000). Sie nimmt die Rolle des Strafvollzugs für die Reproduktion sozialer Ungleichheit in den Blick (Davis, 2011; Harcourt, 2010) und fragt nach dem Zusammenhang zwischen einer rassistischen Selektivität der Strafjustiz und der politischen Ökonomie des Gefängnisses (Gilmore, 2007; Herivel und Wright, 2007). Queere und feministische Analysen betonen die Erzeugung von Vulnerabilität durch den Strafvollzug und rücken das Gefängnis als Raum der gewaltvollen Reproduktion von Heteronormativität in den Mittelpunkt (Critical Resistance and Incite!, 2003; Stanley and Smith, 2015; Rodriguez et al., 2020). Die Schwarze feministische Gefängniskritik sowie Forschung zu Institutionalisierung in den Disability Studies diskutiert zudem die Wirkzusammenhänge zwischen dem Gefängnis und weiteren institutionellen Räumen, in denen Straflogiken soziale Beziehungen prägen und in denen es zu Disziplinierung oder Einschließung kommt, etwa in den Schulen marginalisierter Stadtteile (Meiners, 2010; Wun, 2016), in Obdachloseneinrichtungen, Psychiatrien oder Wohnheimen für Menschen mit Behinderungen (Ben-Moshe, 2020; Steele, 2017). Gemeinsam ist abolitionistischen Autor*innen eine skeptische Einschätzung von Gefängnisreformen und das Interesse an gesellschaftlichen Alternativen zu Strafe und Einsperrung. Sie betonen darüber hinaus, dass die Abschaffung einer Institution allein nicht ausreicht, um Emanzipation zu gewährleisten, da Polizei und Strafvollzug in ein Geflecht weiterer institutioneller Machtformen integriert sind. Die Geographie nimmt in den lebendigen abolitionistischen Debatten seit Jahren eine herausgehobene Rolle ein, vielleicht kann sie – mit Verweis auf prominente Autorinnen wie Ruth Wilson Gilmore – sogar als „Leitdisziplin“ gelten.

In der deutschsprachigen Geographie gibt es demgegenüber keine nennenswerte Tradition der Gefängnisforschung oder der Auseinandersetzung mit institutionellen Räumen. Zugleich sind das aktuelle Themenheft zu Geographien des Einschlusses und auch das Diskussionsforum zu Black Geographies in der Geographica Helvetica Indizien dafür, dass es derzeit zumindest zu einem partiellen Transfer von Themen und Perspektiven in die deutschsprachige Geographie kommt, die im nordamerikanischen Kontext der skizzierten abolitionistischen Forschungsagenda zugerechnet werden können. Diesen Moment der Aufmerksamkeit möchte ich zum Anlass nehmen, um für eine Rezeption von Forschungsfragen rund um das Gefängnis in der deutschsprachigen Geographie zu werben, die abolitionistische Ansprüche nicht marginalisiert und den Horizont der decarceration offenhält2. Abolitionistische Debatten ermöglichen Perspektivierungen, mit deren Hilfe vertrackten gesellschaftlichen Problemen nachgespürt werden kann, insbesondere den Zusammenhängen von sozialer Ungleichheit, Rassismus und institutionellen Räumen3. Gerade eine weite abolitionistische Perspektive, die nicht ausschließlich auf Justizvollzug und Polizei fokussiert, hält wichtige Impulse für das bereit, was ich als eine kritische Sozialgeographie institutioneller Räume bezeichne. Ich möchte im Folgenden einige dieser analytischen Einsätze skizzieren.

2 Gefängnisforschung als Teil einer Sozialgeographie institutioneller Räume

Wer macht welche Art alltäglicher Begegnung mit dem Staat? Wer wird am Bahnhof oder im „Gefahrengebiet“ von der Polizei angesprochen? Wer muss regelmäßig selbst vorsprechen – beim Jobcenter, in der Ausländerbehörde, bei der Straffälligenhilfe? Wer wird „aktiviert“ – im Stadtteilprojekt, beim Bewerbertraining oder im betreuten Wohnen? Wer macht die Erfahrung von Einsperrung – im Polizeigewahrsam, Strafvollzug oder in Abschiebehaft? Begegnungen mit dem Staat sind gesellschaftlich ungleich verteilt. Für Mitglieder der bürgerlich-weißen Mehrheitsgesellschaft beschränkt sich ein alltägliches Zusammentreffen mit den „street-level bureaucrats“ (Lipsky, 2010) des Staates in der Regel auf die Schulzeit. Für marginalisierte soziale Gruppen hingegen ist die Begegnung mit den Repräsentant*innen von Ämtern und Behörden, Gerichten, der Sozialen Arbeit, der Polizei oder des Strafvollzugs ein weitaus selbstverständlicherer Teil der eigenen Lebenswelt. Insbesondere für arme Bevölkerungsteile ist die Interaktion mit den Bediensteten des „strafenden Staats“ wie auch von Wohlfahrtseinrichtungen und der regelmäßige, mitunter dauerhafte Aufenthalt in den entsprechenden institutionellen Räumen oft Routine.

Dieser „Alltag der Anderen“ (Belina, 2016) steht bislang nur sporadisch im Fokus der deutschsprachigen Geographie. Empirische Annährungen finden sich vor allem in der kritischen Stadtgeographie, die auf Konflikte im öffentlichen Raum fokussiert, etwa zwischen der Polizei und rassifizierten jungen Menschen (Belina und Keitzel, 2018). Studien, die den routinierten Begegnungen zwischen staatlichen Institutionen und marginalisierten Gruppen und der Produktion sozialer Differenzordnungen in diesen Begegnungen Beachtung schenken, finden sich für den deutschsprachigen Raum ansonsten eher in Soziologie und Erziehungswissenschaft. Das gilt insbesondere für solche Arbeiten, die nicht „draußen“, im öffentlichen Raum der Stadt, angesiedelt sind, sondern sich ins Innere institutioneller Räume begeben, um dort die Erzeugung sozialer Wirklichkeit zu untersuchen, sei es in Schulen, Behörden, Jobcentern, Heimen, betreuten Wohnkontexten oder Vollzugsanstalten4.

Ich argumentiere, dass die Bedeutung dieser Räume für die Herstellung sozialer Differenzordnungen und Hierarchien entlang von race und class in der deutschsprachigen Geographie bislang zu wenig Beachtung findet. Von der abolitionistischen Forschung lässt sich deshalb einiges lernen, denn sie vermittelt nach meinem Dafürhalten wichtige Ansatzpunkte für eine Sozialgeographie institutioneller Räume, die es sich zum Ziel macht, die routinierten Begegnungen zwischen Staat und marginalisierten Bevölkerungsgruppen in den Mittelpunkt zu rücken und die Schauplätze der Produktion und institutionellen Prozessierung sozialer Ungleichheit zu kartieren. Das Gefängnis ist dabei letztlich nur ein, wenn auch zentraler, Raum einer Reihe von Schauplätzen, an denen ungleiche Sozialordnungen nicht nur symbolisch aufgerufen, sondern auch reproduziert und vertieft werden. Die Forschung zeigt, welche Modi der Sichtbarmachung durch diese Räume installiert werden, welche Klassifikationen von Personengruppen – als problematisch, delinquent, (re-)sozialisierungsbedürftig usw. – darauf aufbauend wirksam werden, welche herrschaftsförmigen Strukturierungen sozialer Interaktion auf diese Weise entstehen, in welchen Rollenerwartungen und Verhaltensanforderungen sich diese äußern und wie sie mit Systemen aus Belohnungen und Sanktionen abgesichert werden.

Mit diesem weiten Fokus kann die abolitionistische Forschung nicht zuletzt das häufig bereits hochgradig institutionell durchdrungene „Vor“ und „Nach“ der Haft und das Zusammenwirken verschiedener institutioneller Räume sichtbar machen, durch die marginalisierte Gruppen im Alltag zirkulieren (carceral continuum). Ein einschlägiges Beispiel hierfür ist die sogenannte school-to-prison pipeline, durch die Jugendliche of color in US-amerikanischen Städten aus der Schule in den Strafvollzug geschleust werden – „a complex network of relations that naturalize the movement of youth of color from our schools and communities into under- or unemployment and permanent detention (Meiners, 2011:550). Abolitionistische Autor*innen betonen, dass es sich hierbei nicht um ein neues Phänomen handelt, sondern um eine Form der Reproduktion von Ungleichheit, die von den Internatsschulen für Kinder der First Nations über die lange Zeit rassistischer Segregation im Bildungswesen bis zu den neoliberalen Reformen der letzten Jahrzehnte reicht (Meiners, 2010; Simmons, 2009; Winn, 2019). Inzwischen liegt eine Reihe intersektionaler Analysen vor, die detailliert aufzeigen, wie in der Einstufung von Kindern und Jugendlichen of color als „schwer erziehbar“ Problematisierungen von race, class, gender und Sexualität zusammenwirken und spätere Aufenthalte im Strafvollzug begünstigen. Während sich die Forschung zunächst auf den Nachvollzug der Kriminalisierung von Schwarzen und Latino-Jungen konzentriert hatte (Ferguson, 2000), zeichnen neuere Arbeiten nach, wie intensiv Schwarze Mädchen im Raum der Schule Disziplinierung ausgesetzt sind (Winn, 2019; Wun, 2016), oder wie schulische Einrichtungen jugendliche Sexualität überwachen und sanktionieren (Himmelstein und Brückner, 2011).

Ein weiteres Beispiel für das Zusammenwirken institutioneller Räume stellt das carceral continuum dar, in dem sich obdachlose Menschen befinden, in deren Alltag sich Gefängnisaufenthalte mit Aufenthalten in Unterkünften der Haftentlassenen- und Wohnungslosenhilfe oder Einrichtungen der Suchthilfe abwechseln (Gowan, 2002). Die Forschung zeigt, dass die Masseninhaftierung in den USA zuletzt auch zu einem Ausbau von wohlfahrtsstaatlichen Programmen der Wiedereingliederung für diese Gruppe geführt hat, argumentiert jedoch, dass re-entry-Programme hybride institutionelle Räume erzeugen, in denen fürsorgliche und strafende Rationalitäten immer enger miteinander verbunden werden (Byrd, 2016). Anke Allspach spricht im Hinblick auf Wohnungslosenunterkünfte und Programme für ehemalige Häftlinge von „transcarceral spaces“ (Allspach, 2010:705), die Erfahrungen der Infantilisierung und Fremdbestimmung fortschreiben, nachdem die Haftstrafe längst abgesessen ist. Ergebnis ist aus Perspektive abolitionistischer Analysen ein urbanes Armutsmanagement, das die Sphäre der Einsperrung ausweitet, indem es ehemalige Häftlinge in Sonderräumen zirkulieren lässt und sie dort etlichen weiteren Anforderungen und Prüfungen unterwirft, ohne an ihrer Prekarität etwas zu ändern (De Giorgi, 2017; Miller, 2014). Wie die Forschung zeigt, ist das „Nach der Haft“ in vielen Biographien obdachloser Menschen daher ein weiteres „Vor der Haft“. Jessie Speer (2018) macht zudem darauf aufmerksam, dass es sich auch bei vermeintlich informellen Räumen der Obdachlosigkeit wie Zeltlagern in der stadtpolitischen Praxis oft um Schauplätze eines intensiven Zugriffs ordnungspolitischer und wohlfahrtsstaatlicher Akteure auf marginalisierte Gruppen handelt. Speer schlägt den Begriff „tent ward“ vor, um den institutionellen Charakter dieser Räume einer abolitionistischen Kritik zugänglich zu machen:

Tent wards shed light on a larger nexus between welfare and incarceration. In cities that prioritize the goal of spatial management and discipline, quasi-carceral spaces have become a tool through which to provide homeless services. (Speer, 2018:168)

3Troubling care – Koalitionen von Sorgen und Strafen

Neben der Kritik der Gewalt des „strafenden Staates“ richtet sich das Augenmerk der Forschung also auch auf die Ambivalenzen des Wohlfahrtsstaates und die widersprüchlichen Koalitionen von Sorgen und Strafen in Räumen „sorgender Sicherheit“ (Folkers und Langenohl, 2020). Insbesondere feministische und von den Disability Studies inspirierte Analysen der Produktion von Marginalität erweitern Analysen der „punitiven Wende“, indem sie die vielfältigen Verstrickungen und Dynamiken zwischen sorgenden und strafenden Rationalitäten aufzeigen und neben Polizei und Gefängnis auch wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen der Bildung, Sozial-, Kinder- und Jugendhilfe oder der Gesundheitsfürsorge auf deren Komplizenschaft bei der Aufrechterhaltung „karzeraler“ Gesellschaftsstrukturen hin beleuchten (Kim, 2013; Lash, 2017; McKim, 2008; Richie und Martensen, 2020; Roberts, 2009). Auch sozialstaatliche Hilfe kann eine Reproduktion sozialer Ungleichheit bewirken, wenn sie fürsorgliche Degradierungen hervorbringt, die Notlagen als „Schwächen“ der Person deuten. So zeigen Studien zur school-to-prison pipeline auf bedrückende Weise, dass Kinder und Jugendliche of color nicht nur unter der Unterfinanzierung und Versicherheitlichung von Schulen in armen Stadtteilen leiden. Bei ihnen werden auch überproportional häufig Lernschwächen und Entwicklungsstörungen (sogenannte soft disabilities) diagnostiziert (Harry und Klingner, 2014; Annamma, 2017). Solche Diagnosen naturalisieren die Vertiefung sozialräumlicher Segregation, denn sie führen in der Regel zu einer Versetzung der Kinder aus öffentlichen Schulen in Sonderräume: Förderschulen mit geringen Bildungsmöglichkeiten und anschließende Ausbildungen zu geringqualifizierten und -bezahlten Tätigkeiten. Wie die Forschung zeigt, erhöht diese special education nicht nur die Wahrscheinlichkeit späterer Gefängnisaufenthalte, die pädagogische Gestaltung der Sonderräume für Kinder und Jugendliche of color ist ebenfalls weitaus stärker von Logiken der Disziplinierung und Kontrolle durchdrungen als vergleichbare Einrichtungen in bürgerlich-weißen Stadtteilen (Reid and Knight, 2006).

Logiken der Disziplinierung und (reproduktiven) Kontrolle prägen auch den Umgang von Gesundheitseinrichtungen und Jugendämtern mit Schwarzen Müttern, wie Dorothy Roberts in ihren beeindruckenden Analysen der Organisation der US-amerikanischen Pflegekinderhilfe gezeigt hat, die Kinder und Jugendliche in Pflegeverhältnissen außerhalb der Herkunftsfamilie in Heimen, Wohngruppen oder Pflegefamilien platziert (Roberts, 2009; siehe auch Lash, 2017). Für Roberts ist die Kinder- und Jugendhilfe eine zentrale staatliche Instanz der Regulation Schwarzer Familien – „a critical institution of social supervision, on a par with workfare and prisonfare“ (Roberts, 2014:1778) –, die insbesondere in armen Schwarzen Nachbarschaften im Namen des Kindeswohls ein dichtes Netz der Kontrolle entfaltet und damit den ohnehin starken Einfluss von Polizei und Strafjustiz auf diese Räume komplementiert.

Residents of black neighborhoods live in fear of state agents entering their homes, interrogating them, and taking their children as much as they fear police harassing them in the streets. (Roberts, 2020)

Abolitionistische Analysen des Zusammenspiels von Sorgen und Strafen unterstreichen die Aktualität disziplinarischer Kontrolle und vermitteln einen Eindruck von der intimen Präsenz des Staates im Alltag bestimmter Bevölkerungsgruppen – sei es in der Nachbarschaft, der Schule, im Zuhause oder im Gefängnis, sei es in Gestalt von Vollzugspersonal, Polizei oder Sozialer Arbeit. Als Kritik, die auf diesen Einsichten aufbaut, begnügt sich der carceral abolitionism entsprechend nicht damit, lediglich ein Weniger an Strafen und ein Mehr an Wohlfahrt einzufordern, eine Humanisierung von Haftbedingungen anzustreben oder Polizisten durch Sozialarbeiterinnen „auszutauschen“ (Rasmussen und James, 2020). Jugendbewegungen wie Schools not Jails geht es bei genauerem Hinsehen nicht nur darum, die Masseninhaftierung junger Menschen zu kritisieren, sondern um eine weitreichende Kritik des bestehenden Schulsystems. Abolitionistische Bewegungen behinderter Menschen kritisieren nicht nur ihre überproportionale Einsperrung im Strafvollzug und die Gewalt, die sie dort erleben, sondern die gesamte Breite von Sonderräumen, die die Gesellschaft für behinderte Menschen eingerichtet hat. Die abolitionistische Kritik Schwarzer feministischer Aktivistinnen nimmt neben Polizei und Gefängnis auch die vielfältigen sozial- und gesundheitspolitischen Zugriffe auf marginalisierte Gruppen ins Visier und zeigt, wie diese den Lebensalltag im eigenen Stadtteil und Zuhause prägen.

Eine Frage, die dabei für die Forschung wie auch den Aktivismus immer wieder virulent wird, ist die nach dem Verhältnis von Abolitionismus und Reform. Gelegentlich wird in öffentlichen Debatten suggeriert, der carceral abolitionism habe nur radikale Kritik zu bieten, aber keine „praktischen“ Lösungsansätze. Diese Einschätzung ist erstaunlich uninformiert. Tatsächlich ist der Grad der Reflexion und die Differenzierung zwischen wünschenswerten, transformativen Reformen und solchen, die letztlich doch nur den Status quo aufrechterhalten und daher abzulehnen sind, in der abolitionistischen Theoriebildung und aktivistischen Praxis enorm hoch. Dabei werden konkrete, gegenstandsbezogene Antworten darauf entwickelt, welche Maßnahmen im Hier und Jetzt das Potenzial haben, zu einer Überwindung von Ungleichheit, Rassismus und der Reproduktion von Vulnerabilität, zu einer Abschaffung von Einsperrung und Strafe und zu neuen Formen der Teilhabe beizutragen – und welche eben nicht (siehe u. a. Ben-Moshe, 2018; Braz, 2006; Jacobs et al., 2021; Kaba, 2014).

4 Anschlüsse

Masseninhaftierung, privatisierter Strafvollzug, Prison Industrial Complex … all das wirkt weit entfernt von westeuropäischen, deutschen Realitäten. Schnell mag sich daher angesichts des ausufernden Gefängnissystems der USA der Eindruck einstellen, im Vergleich mit der Situation dort sei hier alles „halb so wild“ – und entsprechend auch eine Übertragung der Forschungsfragen und Analyseperspektiven der nordamerikanischen Debatten auf deutschsprachige Kontexte kaum möglich oder sinnvoll. Sicher ist es wichtig, die gewaltigen Unterschiede der Strafjustizsysteme und Grenzen der Übertragbarkeit einer darauf bezogenen Forschung im Blick zu behalten. Zugleich lassen sich gerade mithilfe der Debatten um carceral abolition aber auch erhebliche Leerstellen in der deutschsprachigen geographischen Forschung zu sozialer Ungleichheit, Rassismus und den institutionell durchdrungenen Lebenswelten marginalisierter Gruppen identifizieren.

Empirische Ansatzpunkte für geographische Analysen der (Re-)Produktion von Marginalität in institutionellen Räumen gäbe es viele. Abschließend einige Beispiele: Auch in Deutschland hängen Armut, Haftstrafen und Wohnungslosigkeit eng zusammen. Gerade im Bereich der kurzen Haftstrafen fungieren deutsche Gefängnisse zunehmend als „Armenhäuser“ (Wilde, 2017). Von kurzen Haftstrafen und Ersatzfreiheitsstrafen für Armutsdelikte sind vor allem obdachlose Menschen betroffen. Diese zirkulieren auch in Deutschland mitunter zwischen Gefängnissen, Unterkünften der Obdach- und Wohnungslosenhilfe, medizinischen Einrichtungen und der Straße hin und her. Ebenfalls mehr Aufmerksamkeit verdient die Ausschließung behinderter Menschen in Sonderräumen, deren Analyse ein wichtiger Bestandteil der abolitionistischen Forschung und Praxis in Nordamerika ist. Erst dieses Jahr hat der Aktivist Raúl Krauthausen in Folge eines Tötungsdelikts durch eine Pflegerin in einem Potsdamer Wohnheim für Menschen mit Behinderungen darauf aufmerksam gemacht, dass Gewalt als strukturelles Merkmal solcher mitunter ausgesprochen geschlossenen institutionellen Lebenswelten begriffen werden muss:

Menschen mit Behinderung bekommen oft von Geburt an kaum eine Option, aus diesem System herauszukommen: Vom Internat zur Förderschule, dann Wechsel in ein anderes Wohnheim und von dort zur Werkstatt; später dann ins Altenheim, nicht selten finden sich all diese Adressen auf einem einzigen Gelände (Krauthausen, 2021).

Und nicht zuletzt gibt es auch im deutschen Kontext deutliche Hinweise darauf, dass der Strafvollzug in Bezug auf die Faktoren race und Staatszugehörigkeit eine stratifizierende Funktion einnimmt und eine erweiterte Form der Segregation ohnehin marginalisierter Gruppen bewirkt. Insbesondere die Sanktionshärte gegenüber rassifizierten Jugendlichen ist nachweislich hoch (Dübgen, 2017:148 f.). Es wäre daher angezeigt, dem Zusammenspiel von sozialer Ungleichheit, Ausschlüssen im Schulsystem, racial profiling in marginalisierten Stadtquartieren und Strafjustiz auch hier empirisch genauer nachzugehen. Dies sind nur einige denkbare Anschlüsse an die Debatten um carceral abolition, die kontextsensibel aufgegriffen werden können. Diese Inspirationen aufzunehmen ist wichtig, mit ihrer Hilfe kann die Auseinandersetzung mit dem Strafvollzug mehr sein als eine thematisch geschlossene Gefängnisgeographie, sondern Bestandteil einer größeren Sozialgeographie institutioneller Räume.

Datenverfügbarkeit

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Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Haftungsausschluss

Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.

Begutachtung

This paper was edited by Hanna Hilbrandt and reviewed by one anonymous referee.

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Thompson, V. E.: Policing Difference, Feminist Oblivions and the (Im-) Possibilities of Intersectional Abolition, in: Transitioning to Gender Equality, edited by: Binswanger, C. and Zimmermann, A., MDPI Books, Basel, 27–42, ISBN 978-3-03897-866-4, 2021a. 

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Winn, M. T.: Girl time: Literacy, justice, and the school-to-prison pipeline, Teachers College Press, ISBN 978-0807752005, 2019. 

Wun, C.: Unaccounted foundations: Black girls, anti-Black racism, and punishment in schools, Crit. Sociol., 42, 737–750, 2016. 

1

Historisch verweist der Begriff der Abolition (Abschaffung, Aufhebung) vor allem auf die Versklavung und Ausbeutung Schwarzer Menschen sowie die koloniale Extraktion und Landnahme im Kontext von Plantagenökonomien, für deren Überwindung Schwarze Widerstandsbewegungen eine zentrale Rolle spielten (Du Bois, 2012 [1935]). Aktuell richtet sich abolitionistische Kritik vor allem gegen die Institutionen des strafenden Staates. In einem weiter gefassten Sinn steht Abolitionismus dabei begrifflich für die Arbeit an einem größeren, nach wie vor unvollendeten emanzipatorischen Projekt – „‚Abolition‘ is a word we use when we want to activate scholarship with a sense of urgency, relevance, or potential for the future“ (Fanuzzi, 2014). Für Ruth Wilson Gilmore (2017:231) bildet eine „abolitionistische Geographie“ den intellektuellen und aktivistischen Antagonismus zu den sozialräumlichen Regimen des Racial Capitalism.

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Für eine vergleichbare Intervention in der Kriminologie siehe Brown und Schept (2017). In der deutschsprachigen Soziologie erhalten abolitionistische Perspektiven seit einiger Zeit bereits mehr Aufmerksamkeit (siehe v. a. die Arbeiten von Thompson, z. B. 2021a, b). Für eine abolitionistische Analyse des Zusammenhangs von Gefängnis und Armut in Deutschland auch aus geographischer Perspektive siehe Lim et al. (2017).

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Eine solche Rezeption aktueller abolitionistischer Debatten ist mehr als ein Theorietransfer aus nordamerikanischen Kontexten in die deutschsprachige Geographie. Es ist auch eine Möglichkeit, den Faden vergangener Debatten im deutschsprachigen Raum wieder aufzunehmen. Schließlich kann etwa Angela Davis selbst als Vertreterin der Kritischen Theorie verstanden werden, deren abolitionistische Gefängniskritik u. a. von Georg Rusches Studie Sozialstruktur und Strafvollzug (Rusche und Kirchheimer, 1981 [1933]) informiert wurde.

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Viele dieser Studien enthalten Analysen der Bedeutung räumlicher Arrangements für die Herstellung sozialer Differenzen und Hierarchien und produzieren damit sozialgeographisch relevante Einsichten. Für die Analyse der Raumpraxen in Jobcentern siehe etwa Bettina Grimmers (2018) detaillierte soziologische Studie Folgsamkeit herstellen, für betreute Wohnprojekte der Jugendhilfe siehe die Arbeiten der Erziehungswissenschaftlerin Miriam Meuth (2013), für Mutter-Kind-Abteilungen im Strafvollzug siehe die ebenfalls erziehungswissenschaftlichen Beiträge von Marion Ott (2015). Zu betreuten Wohnprojekten der Wohnungslosenhilfe siehe Marquardt (2015, 2016).

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Short summary
This intervention argues for a German carceral geography that takes the framework of abolition seriously to develop a deeper understanding and critique of the exercise of power in institutional spaces. My claim is that we need to adapt abolition as a theoretical perspective and form of knowledge that allows us to expand the analysis of carceral practices and rationalities beyond imprisonment to include other institutional spaces of racialising, classing and disabling marginalisation.