Articles | Volume 77, issue 3
https://doi.org/10.5194/gh-77-313-2022
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Book review
 | 
11 Aug 2022
Book review |  | 11 Aug 2022

Book review: Öffentliche Bibliotheken zwischen Digitalisierung und Austerität: Kommunale Strategien und ihre Implikationen für die Bildungsgerechtigkeit

Melike Peterson
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Thiele, K.: Öffentliche Bibliotheken zwischen Digitalisierung und Austerität: Kommunale Strategien und ihre Implikationen für die Bildungsgerechtigkeit, Bielefeld, transcript, 388 S., ISBN 978-3-8376-6174-3, EUR 50,00, 2022.

Öffentliche Bibliotheken galten lange als staubige und veraltete Orte, die zum alltäglichen Stadtbild einfach dazugehören. Jedoch erfüllen Bibliotheken diverse Aufgaben im urbanen Raum, die für die Stadtgesellschaft und ihre Entwicklung von essenzieller Bedeutung sind. Sie sollten keineswegs als selbstverständlich betrachtet werden, zeigen aktuelle Krisen doch ihre Unverzichtbarkeit auf: Nicht nur die Corona-Krise, sondern auch Prozesse der Digitalisierung und Austerität stellen Bibliotheken vielerorts vor Herausforderungen. Da verwundert es, dass diese besonderen Stadtorte als Gegenstand der deutschsprachigen Humangeographie weitgehend unterbeleuchtet sind.

In Öffentliche Bibliotheken zwischen Digitalisierung und Austerität: Kommunale Strategien und ihre Implikationen für die Bildungsgerechtigkeit nähert sich Katja Thiele der Entwicklung öffentlicher Bibliotheken aus einer humangeographischen Perspektive und untersucht die Auswirkungen von Prozessen der Digitalisierung und der Austerität auf Bibliotheken und ihre Bedeutung als soziale Infrastrukturen, öffentliche Daseinsvorsorge und Orte der Bildungsgerechtigkeit. Anhand der Bibliothekslandschaften in den Städten Bonn (DE), Leicester (GB) und Malmö (SE) vergleicht sie den Wandel öffentlicher Bibliotheksarbeit mittels der urbanen Regimes auf lokaler Ebene sowie ihrer politischen Traditionen innerhalb wohlfahrtsstaatlich geprägter Staaten im nord- und westeuropäischen Raum. So positioniert die Autorin öffentliche Bibliotheken als zentralen Gegenstand humangeographischer Forschung und diskutiert ihre Bedeutung für eine bildungsgerechtere Stadt.

Im ersten der beiden theoretischen Kapitel wendet sich Katja Thiele dem Zusammenhang zwischen öffentlichen Bibliotheken und Bildungsgerechtigkeit und -ungleichheit zu. Sie schildert Bildung als lebenslangen Prozess, welcher in „spezifischen räumlichen und sozialen Kontexten und unter ungleichen individuellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen statt[findet]“ (37). So geht sie der Frage nach, inwiefern es gerade in öffentlichen Bibliotheken möglich ist, die in einer Gesellschaft (re-)produzierten sozialökonomischen Ungleichheiten gezielt abzuschwächen bzw. zu überwinden. Hier hebt die Autorin auch den Einfluss der kommunalen Ebene hervor. Angelehnt an Harvey (1973), der Bildungsprozesse „als Teil städtischer (Un-)Gleichheiten in den Blick nimmt“ (38), betont Katja Thiele öffentliche Bibliotheken als signifikanten Baustein einer sozial gerechteren Stadtplanung. Solch eine Perspektive auf städtische Bildungslandschaften sei ein noch kaum erforschtes Feld der Humangeographie. Diese Überlegungen verbindet sie mit Diskussionen zur Bedeutung von dritten Orten für das Erreichen von Bildungsgerechtigkeit. Bibliotheken seien wichtige „dritte Orte“ (vgl. Oldenburg, 1989) – Orte der Öffentlichkeit, die Stadtbewohner:innen einen niedrigschwelligen Zugang zu Ressourcen ermöglichen, Räume des kollektiven Wissens bereitstellen und Möglichkeiten der Begegnung und Interaktion eröffnen. Auf der kommunalen Ebene bleibend, diskutiert Katja Thiele öffentliche Bibliotheken anschließend als soziale Infrastruktur (vgl. Klinenberg, 2018) und erforscht ihre Potenziale und Grenzen zur Erhaltung und Gewährleistung von Bildungsgerechtigkeit. Sie kritisiert die Folgen eines Rückzugs des Staates aus der sozialen Verantwortung und analysiert die Entwicklung der öffentlichen Daseinsvorsorge mittels der sozialen Infrastrukturen in den untersuchten Städten und Wohlfahrtsstaaten.

Im zweiten theoretischen Kapitel taucht Katja Thiele in das Spannungsfeld von Digitalisierung und Austerität ein und beschreibt den Wandel öffentlicher Bibliotheksarbeit. Anhand aktueller Debatten der Smart City fokussiert sie sich auf die digitalen Neuordnungen der Bibliothek als Raum und hebt die zunehmende Multifunktionalität öffentlicher Bibliotheken hervor. Diese ermögliche es Bibliotheken als dritte Orte der non-formalen Bildung digitale Spaltungen, sogenannte Digital Divides, abzubauen und Bildungsgerechtigkeit und soziale Nachhaltigkeit im Stadtteil zu stärken. Soziale Nachhaltigkeit wird hier als „die Schaffung inklusiver und widerstandsfähiger sozialer und kultureller Infrastrukturen in Städten“ (48) verstanden, zu der öffentliche Bibliotheken als dauerhafte Strukturen, die auf lebenslanges Lernen, soziales Wohlergehen und Gemeinwohl ausgerichtet sind, einen bedeutsamen Beitrag leisten können. Im Folgenden geht das Buch auf die Rolle urbaner Regimes im Umgang mit Austeritätsprozessen ein. Zunächst wird die Nützlichkeit des Urban-Regime-Begriffs für geographische Annäherungen an die Bildung unterschiedlicher Regimetypen und ihrer Strategien auf lokaler Ebene erörtert. Die Autorin positioniert kommunale Austerität als ein strategisches Instrument der neoliberalen Stadtentwicklung im nord- und westeuropäischen (Stadt-)Raum und bespricht die sozial-räumlichen Konsequenzen eines angestrebten „Austerity Urbanism“ (104). Abschließend wird die Corona-Krise als verschärfende Rahmenbedingung für die im Buch behandelten Konflikte und Ungleichheiten angeschnitten.

Nach dem methodischen Kapitel, das die qualitative Herangehensweise der Arbeit darlegt, bespricht Katja Thiele in zwei empirischen Kapiteln die Entwicklung der urbanen Regimes und öffentlichen Bibliotheken in den Fallstudienstädten. Schnell wird deutlich, dass die lokalen Regimes sehr unterschiedlich sind: Bonn erscheint als „prosperierende Stadt mit hoher Verschuldung“ (173), Leicester geprägt durch sozio-kulturelle Diversität und alltägliche Austerität und Malmö als „sozial-ökologische Transitstadt mit industrieller Historie“ (207). Doch es bestünden auch Ähnlichkeiten, so die Autorin, da die öffentlichen Bibliotheken in allen drei Städten mit einer zunehmenden neoliberalen Ausrichtung und wirtschaftlichem Denken über Stadtentwicklung zu kämpfen haben. Diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten werden detailliert beschrieben, wie auch die Ausprägungen und Folgen der Digitalisierung und Austerität in den untersuchten Städten und ihre jeweilige Bibliothekspolitik.

Im abschließenden Kapitel werden die Auswirkungen der zuvor besprochenen lokalen Regimes auf die Handlungsspielräume der Kommunen erörtert sowie drei Implikationen der Empirie vorgestellt: (1) Bibliotheken als Möglichkeitsräume einer sozial-ökologischen Stadtentwicklung und hierdurch entstehende Chancen für die Bildungsgerechtigkeit, (2) die durch Digitalisierungs- und Austeritätsprozesse entstehende Beförderung von Strategien, die Bildungsungerechtigkeiten in bereits benachteiligten Stadtquartieren verschärfen, und (3) die Gefährdung öffentlicher Bibliotheken als dritter Raum durch die fortwährende Corona-Krise.

Besonders gelungen ist die Diskussion öffentlicher Bibliotheken als soziale Infrastruktur. Hier schließt das Buch an die Erforschung städtischer Infrastrukturen und ihrer Bedeutung für das gesellschaftliche Leben an (vgl. Flitner et al., 2017). Die Autorin bezieht sich auf ein sozialpolitisches Verständnis von Infrastruktur als „the different kinds of facilities necessary for cities to function as social spaces“ (Latham und Layton, 2019: 4). Soziale Infrastrukturen sind somit für eine Stadt kritikal und ihr Funktionieren langfristig maßgeblich für eine sozial gerechte und demokratische Gesellschaft (63). Dieses Verständnis verbindet Katja Thiele mit einem feministischen Blick auf Infrastrukturen, um der Frage nachzugehen, „wer wie am Machen von Infrastrukturen beteiligt ist“ (65). Denn Infrastrukturen sind sozial geschaffen, (re-)produzieren gesellschaftliche Verhältnisse und können diese Beziehungen (de-)stabilisieren. Eine feministische Perspektive versteht „people as infrastructure“ (113), da Menschen an der sozialen Reproduktion von Infrastrukturen beteiligt sind. Das Buch verknüpft diese Überlegungen mit aktuellen Diskussionen um dritte Orte und inszeniert öffentliche Bibliotheken als Orte sozialer Praktiken, Begegnungen und Beziehungen, die festgefahrene Vorstellungen von öffentlichem (Stadt-)Leben hinterfragen und neu aushandeln können.

Der Frage nach einer gerechteren Stadt wendet sich die Autorin auch anhand der Digitalisierung und der Überbrückung von Digital Divides zu. Diese beschreiben die Diskrepanz im Zugang, der Nutzung und dem Verstehen digitaler Technologien, die das Leben und die Teilhabe in der modernen Stadt zunehmend beherrschen. Einige Menschen sind hiervon stärker betroffen als andere. Katja Thiele schließt hier an aktuelle Smart-City-Debatten an, welche die smarte Stadt „weniger [als] den aktuellen Zustand einer Stadt als vielmehr das Versprechen einer zunehmenden Digitalisierung oder eines smarten Urbanismus“ (83) diskutieren. Sie erkundet diese Diskussionen differenziert und gut verständlich und zeigt auf, dass öffentliche Bibliotheken ein zentraler Forschungsgegenstand und -ort sind, an denen Stadtforscher:innen die Urbanisierung digitaler Technologien und städtischer Problemlagen in den Fokus nehmen können bzw. müssen. Hier liefert das Buch einen wichtigen Beitrag zum „digital turn“ in der kritischen Stadtgeographie sowie zu Fragen, die sich mit der Zukunft öffentlicher Räume in westlichen Städten beschäftigen.

Das Buch weist nur wenige Schwächen auf. Katja Thiele vertieft sich in nord- und westeuropäische Stadträume. Um den angeführten Argumenten noch mehr Gültigkeit zu geben, wäre es interessant gewesen, an einigen Stellen auch einen Blick auf regionale Unterschiede innerhalb der untersuchten Nationalstaaten zu werfen und die jeweiligen Antworten und Strategien öffentlicher Bibliotheken auf die zunehmende Austerität und Digitalisierung der (Stadt-)Gesellschaft zu untersuchen. Ebenso wäre ein Blick auf öffentliche Bibliotheken in reicheren und ärmeren Stadtteilen innerhalb der gleichen Stadt von Interesse. Auch fehlen mir in Teilen die Stimmen von Bibliotheksnutzer:innen, vor allem da sich die Autorin im konzeptionellen Teil mit Literatur beschäftigt, die die gefühlten und alltäglichen Welten von Digitalisierung und Austerität in öffentlichen Bibliotheken beschreibt. Obwohl im Buch die Perspektiven der Bibliotheksleitungen und des Personals im Vordergrund stehen, könnten die Meinungen und Erfahrungen von Alltagsmenschen dazu beitragen, die Brisanz schwindender sozialer Infrastrukturen und steigender Ungleichheiten der (digitalen) Teilhabe und Bildung in der austeritären Stadt noch stärker hervorzuheben. Hier hätte es geholfen, die im theoretischen Teil angesprochene feministische Perspektive auf Infrastrukturen und Austerität (vgl. Hall, 2022) deutlicher in die abschließende Diskussion einfließen zu lassen. Letztlich vereint die Autorin den empirisch wertvollen Beitrag, dass öffentliche Bibliotheken Bildungsungerechtigkeiten auch verschärfen können, nur teils mit der Annahme, dass Bibliotheken grundsätzlich förderlich für Bildungsgerechtigkeit sind: Einerseits analysiert sie die Handlungsspielräume der jeweiligen lokalen Regimes als größeren Rahmen, den Bibliotheken notgezwungen navigieren müssen, anderseits sieht sie die Bibliotheken in der Verantwortung, eine Bibliothekspolitik umzusetzen, die ihre Bedeutung als Stätten kultureller Bildung(sgerechtigkeit) betont. Jedoch wird nur angedeutet, wie genau sich öffentliche Bibliotheken den Zielen und Strategien ihrer lokalen Regimes stärker widersetzen könnten.

Von diesen Punkten abgesehen, ist Öffentliche Bibliotheken zwischen Digitalisierung und Austerität ein gelungenes Buch, das einen wichtigen Beitrag zum wissenschaftlichen Verständnis um öffentliche Bibliotheken in der heutigen Stadtgesellschaft leistet; einem Thema, das in der deutschsprachigen Humangeographie (noch) zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. So führt Katja Thiele eine interessierte Leser:innenschaft gekonnt an aktuelle Entwicklungen öffentlicher Bibliotheken in Nord- und Westeuropa heran sowie an relevante Diskussionen um öffentliche Stadträume, Digitalisierung und Austerität. Das Buch ist jedoch keinesfalls nur für das akademische Milieu bestimmt, sondern bietet einem breiten Publikum die Chance, sich mit der Rolle und Bedeutung von öffentlichen Bibliotheken für eine bildungsgerechte Stadt(-entwicklung) auseinanderzusetzen.

Haftungsausschluss

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Literatur

Flitner, M., Lossau, J. und Müller, A. L. (Hrsg.): Infrastrukturen der Stadt, Springer VS, Wiesbaden, ISBN 978-3-658-10423-8, 2017. 

Hall, S. M.: For feminist geographies of austerity, Prog. Hum. Geog., 46, 299–318, 2022. 

Harvey, D. (Hrsg.): Social Justice and the City, Edward Arnold, London, ISBN 0713157666, 1973. 

Klinenberg, E. (Hrsg.): Palaces for the people: how social infrastructure can help fight inequality, polarization, and the decline of civic life, Penguin, London, ISBN 978-1-5247-6117-2, 2018. 

Latham, A. und Layton, J.: Social infrastructure and the public life of cities: Studying urban sociality and public spaces, Geography Compass, 13, 1–15, 2019. 

Oldenburg, R. (Hrsg.): The great good place. Cafes, coffee shops, bookstores, bars, hairsalons, and other hangouts at the heart community, Paragon House, New York, ISBN 9781569246818, 1989.