Articles | Volume 77, issue 4
https://doi.org/10.5194/gh-77-505-2022
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28 Nov 2022
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Mortalität aus kritischer Perspektive sehen – Plädoyer für eine kritische Diskussion struktureller Einflüsse auf die Sterblichkeit

Mathias Siedhoff
Kurzfassung

With this contribution (which is designed as a positioning), the author pleads for a more consistent consideration of structural influences in the discussion of mortality in (textbook) population geography, and for a critical discussion of these influences. He refers to various conceptions that already have fixed places in human geography – but not in population geography – and that offer starting points for corresponding discussions.

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1 Ein Plädoyer

Die bevölkerungswissenschaftliche Beschäftigung mit Mortalität ist letztlich auch eine Beschäftigung mit „Leben“: Von zentraler Bedeutung sind Sterbealter und Sterbeursachen, also Lebensdauer und Ursachen der Beendigung von Leben. Betrachtet man „Leben“ als einen überaus bedeutenden Wert an sich, dann kommt der Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld, das auch in der Bevölkerungsgeographie verankert ist, ein kaum zu überschätzendes Gewicht zu.

Dieser Beitrag zum Special Issue der GH zu einer „neuen Bevölkerungsgeographie“ ist ein Plädoyer dafür, bei der Auseinandersetzung mit Lebensdauer und Sterbeursachen strukturelle Einflüsse (i. S. v. überindividuellen Einflüssen, die aus gesellschaftlichen und politischen Bedingungen erwachsen; vgl. Blau, 1960) konsequenter in den Blick zu nehmen und ihre Logiken zu diskutieren. Es ist ein Plädoyer dafür, soziale Unterschiede der Sterblichkeit nicht nur als Ausdruck sozialer Ungleichheit, sondern als Ausdruck sozialer Ungerechtigkeit zu thematisieren – und entsprechend räumliche Differenzierungen als möglichen Ausdruck räumlicher Ungerechtigkeit. Es ist ein Plädoyer für die Einbringung kritischer Perspektiven, die vorherrschende Logiken der (zum Teil nachteiligen) strukturellen Einflüsse auf Gesundheit und Lebensdauer nicht nur identifizieren, sondern in Frage stellen. Es ist ein Plädoyer für eine – notwendigerweise – enge Verknüpfung mit Geographien der Gesundheit, da (Un-)Gesundheit und Lebensdauer vielfach eng verbunden sind. Es ist ein Plädoyer dafür, den Blick auch auf solche Sterblichkeitsphänomene zu richten, die nicht mit großen Fallzahlen auftreten und entsprechend die Ausprägung zentraler Sterblichkeitsindikatoren (z.B. Lebenserwartung) nicht maßgeblich beeinflussen, die aber von gesellschaftlicher Brisanz sein können. Und es ist ein Plädoyer für eine Erweiterung des Methodenspektrums über das dominierende quantitative Paradigma hinaus, die kaum umgangen werden kann, wenn es um das Erklären von „Mortalität“ aus sozialwissenschaftlichen Perspektiven geht.

Dieses Plädoyer wird für notwendig erachtet, weil die (deutschsprachige) Bevölkerungsgeographie – hier ist insbesondere der über Lehrbücher vermittelte Wissenskanon angesprochen – solche Aspekte im Umgang mit Mortalität weitgehend vermissen lässt. Sie präsentiert sich nach wie vor in recht klassischer Form als eine Art „erweiterter Demographie“, die Sterblichkeit in erster Linie hinsichtlich ihrer Messbarkeit, ihrer Entwicklung im Kontext von Modernisierung sowie maßgeblicher (unmittelbarer) Todesursachen behandelt. Dabei gibt es konzeptionelle Zugänge, die es für weitergehende Auseinandersetzungen mit dem Thema ermöglichen, Mortalität als strukturell gerahmtes Phänomen kritisch zu diskutieren. Die Bevölkerungsgeographie braucht sich in entsprechende Debatten, die z. T. in anderen geographischen Themenfeldern längst intensiv geführt werden, nur einzubringen.

2 Pandemie als Aufmerksamkeitsgenerator

Wohl selten sind strukturelle Einflüsse auf die Sterblichkeit für jede:n so unmittelbar erfahrbar wie in der Covid-19-Pandemie. Seit über zwei Jahren sind Corona-Infektionen, -Erkrankungen und -Todesfälle Gegenstand täglicher medialer Berichterstattung, ebenso die politischen Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie. Unterschiedliche Betroffenheiten der Bevölkerungen verschiedener Länder und ihrer Teilgruppen durch Covid-19 weisen auf die bekannte Tatsache hin, dass Infektions-, Erkrankungs- und Sterberisiken auch von politisch und gesellschaftlich geformten Bedingungen des Lebens abhängen. So zeigen sich im internationalen Vergleich z.B. die unterschiedlichen Risikobewertungen, Durchgriffsmöglichkeiten und Regelungsweisen auf politischer Seite sowie die Bedeutung der unterschiedlich ausgestalteten Gesundheitssysteme (vgl. z.B. Cepaluni et al., 2021; Sorci et al., 2020; Greer et al., 2020). Des Weiteren zeigen sich höhere Gefährdungen sozial benachteiligter Bevölkerungsteile: Für Personen mit niedrigem sozioökonomischen Status sowie für Angehörige ethnischer Minderheiten wurden wiederholt im Durchschnitt höhere Infektions-, Erkrankungs- und Sterbewahrscheinlichkeiten festgestellt (vgl. z.B. Heisig, 2021; Rossen et al., 2021). Zur Erklärung wird u. a. auf Unterschiede in Expositionen zu Krankheitserregern, in gesundheitsstatusbedingten Vulnerabilitäten, in Versicherungsschutz und in medizinischer Versorgung verwiesen (Heisig, 2021:333f), die mit Wohn- und Beschäftigungsbedingungen, Bildung, Einkommen und strukturellen Diskriminierungen eng verknüpft sind (CDC, 2022).

Gleichzeitig kontrastiert die Vehemenz staatlicher Anordnungen zur Corona-Infektionseindämmung mit der Inkaufnahme keinesfalls unbedeutender Todesfallzahlen bei anderen Infektionserkrankungen: In Deutschland betrug z.B. die Zahl Influenza-bedingter Todesfälle im Zeitraum von 2008/09 bis 2017/18 nach konservativen Schätzungen rund 110 000 (RKI, 2019:47), ohne dass auch nur annähernd vergleichbare Sicherheitsmaßnahmen diskutiert worden wären.

3 Sterblichkeit als strukturell geformtes Phänomen

Strukturelle Einflüsse auf Gesundheit und Sterblichkeit zeigen sich in vielfältiger Weise, z.B. in Wohn- und Arbeitsbedingungen und Ernährungsangeboten, in der Gestaltung des Gesundheitswesens, in staatlicher Billigung von Angeboten potenziell gesundheitsschädigender Genussmittel, Suchtstoffe und Waffen, im politischen Umgang mit außergewöhnlichen gesundheitsrelevanten Risiken wie Epidemien/Pandemien, in der (Billigung von) Ausübung physischer Gewalt durch staatlich legitimierte Organisationen (Polizei, Militär) und/oder in (bürger-)kriegerischen Handlungen, in strukturellen Diskriminierungen von Bevölkerungsteilen, die sich auch in erhöhter Betroffenheit von physischer Gewalt niederschlagen können.

Von hoher Bedeutung sind jene Gegebenheiten, die zu Produktion und Reproduktion von sozialer Ungleichheit führen, denn letztere korreliert regelmäßig mit der Sterblichkeit. Soziale Differenzierungen der Sterblichkeit – vermittelt über soziale Unterschiede von Gesundheitsstatus – sind als weltweites Phänomen bekannt (CSDH, 2008); räumliche Unterschiede von Gesundheitsstatus und Sterblichkeit auf verschiedenen Maßstabsebenen pausen dabei auch verräumlichte, strukturell bedingte politische, soziale und ökonomische Benachteiligungen durch (s. z.B. Rau und Schmertmann, 2020; Galea und Vlahov, 2005; Borrell und Hatch, 2005). Sozial und ökonomisch benachteiligte Menschen haben nicht nur im Durchschnitt schlechtere Lebens-, Arbeits- und Wohnbedingungen, ihr Leben ist auch kürzer als das von anderen. Scheinbar offensichtliche Erklärungszugänge über individuelle Verhaltensweisen vernachlässigen die Bedeutung eingeschränkter Möglichkeiten der Lebensgestaltung, höherer Vulnerabilitäten, geringerer Resilienzen und höherer psychischer Belastungen durch die Lebensbedingungen bei sozial Benachteiligten (vgl. Helmert und Schorb, 2009; Giesecke und Müters, 2009).

4 Erweiterung der Diskussion

Die Tatsache, dass sich gesellschaftliche und politische Verhältnisse auch auf die Länge des Lebens niederschlagen, kann zum Anlass genommen werden, Sterblichkeitsunterschiede nicht nur als Ausdruck sozialer Ungleichheit zu thematisieren, sondern als Ausdruck von (sozialer) Ungerechtigkeit, von „inequalities that are not to the benefit of all“ (Rawls, 1999:54). Die enge Verknüpfung von Sterblichkeit mit Gesundheit lässt eine Auseinandersetzung mit Gesundheits(un)gerechtigkeit, mit „differences in health which are not only unnecessary and avoidable but, in addition, are considered unfair and unjust“ (Whitehead, 1991:220), sinnvoll erscheinen. Die Beziehungen zwischen verräumlichter sozialer Benachteiligung, Gesundheitsungerechtigkeit und Unterschieden in der Lebensdauer fordern aus einer engagierten Position dazu heraus, Mortalität auch unter Rückgriff auf Konzepte von räumlicher (Un-)Gerechtigkeit zu diskutieren, die z.B. nach Israel und Frenkel (2018:648) durch räumliche (Ungleich-)Verteilung der Möglichkeiten der Lebensgestaltung charakterisiert ist: „This metric [of justice; d. Verf.] is defined (…) as a person's capabilities and his liberties to be and to do (opportunities or life chances) (…). The extent to which these capabilities are equally distributed in space will define whether a given spatial arrangement is (un)just.“

5 Bietet die Bevölkerungsgeographie Platz für eine solche Auseinandersetzung mit Mortalität?

Der hier skizzierte Anspruch an die Auseinandersetzung mit Mortalität ist zur „klassischen“ (Lehrbuch-)Bevölkerungsgeographie kaum kompatibel. Letztere abstrahiert meist von Kontexten (und damit von strukturellen Einflüssen), ist weitgehend unpolitisch (im Sinne von: nicht kritisch) und präferiert quantitative Methoden. Ist die in diesem Beitrag vorgeschlagene Ausrichtung der Mortalitätsanalyse Bevölkerungsgeographie-tauglich? Das Plädoyer für eine solche Ausrichtung gründet auf folgenden Argumenten:

  • Als grundlegendes Interesse der Bevölkerungsgeographie sieht der Autor die Auseinandersetzung mit Beziehungen zwischen Bevölkerung, Raum und Gesellschaft (womit keinesfalls ein „Volk und sein Raum“-Verhältnis gemeint ist), die nicht a priori bestimmte wissenschaftliche Fokusse als forschungsleitend vorschreibt. Dieser Rahmen bietet Platz für wissenschaftliche Perspektiven jenseits einer „klassischen“, oft positivistisch geprägten Beschäftigung mit Bevölkerungsverteilungen und räumlichen Differenzierungen von demographischen Parametern.

  • Die Möglichkeit der Koexistenz verschiedener Paradigmen in ein und derselben wissenschaftlichen Disziplin ist bekannt (s. Schurz, 1998). Sie ist in der Geographie seit langer Zeit gelebte Realität und kann angesichts der damit verbundenen Multiperspektivität durchaus als Stärke begriffen werden (s. Weichhart, 2000).

  • Bevölkerungsgeographie ist nicht auf bestimmte methodische Zugänge festgelegt. Sie ist nicht a priori einem quantitativen Paradigma und der Anwendung statistischer Methoden verpflichtet (s. Finney, 2021). Selbst in der Demographie haben qualitative Methoden längst Einzug gehalten, wenn auch teilweise kritisch beäugt (s. Obermeyer, 1997; Coast, 2003; Randall und Koppenhaver 2004).

  • Bevölkerungswissenschaftliche Analysen erfolgen klassischerweise häufig anhand großer (Bevölkerungs-)Aggregate unter der impliziten (fragwürdigen) Annahme derer relativen Homogenität. Gesellschaftliche und räumliche Kontexte Demographie-relevanten menschlichen Handelns und Verhaltens werden dabei vielfach ausgeblendet, was den Erklärungswert entsprechender Analysen mindert. Allerdings wird auch in der Demographie der wissenschaftliche Mehrwert der expliziten Berücksichtigung von Kontexten bereits seit geraumer Zeit diskutiert: „In point of fact, this context certainly does have an influence on individual behaviours and it seems fallacious to consider individuals in isolation from the constraints imposed by the society and milieu in which they live.“ (Courgeau und Baccaini, 1998:41; s. auch Petit und Charbit, 2012; Courgeau, 2016; Klüsener, 2016).

  • Bevölkerung ist ein Objekt politischer Interessen. Ihre Messung, ihre räumliche Zuordnung zu Territorien, Versuche der Einflussnahme auf Entwicklung und Verteilung der Bevölkerung (nicht nur im „eigenen Land“, sondern auch in anderen Teilen der Welt) sind von politischen Absichten eingefasst. Bevölkerungswissenschaften haben sich diesen Absichten vielfach angedient und ihr Instrumentarium und ihre Untersuchungskategorien entsprechend konzipiert (s. Greenhalgh, 1996; Szreter et al., 2004). Eine explizite und kritische Auseinandersetzung mit politischen Interessen, die hinter „Bevölkerung“ stehen, erfolgt in den Bevölkerungswissenschaften wenig. Das darf mit Blick auf das übergeordnete Interesse dieses Wissenschaftsbereiches, nämlich: Bevölkerung zu erklären, verwundern. Aber auch hier sei auf bereits bestehende Ansätze kritisch positionierter Bevölkerungswissenschaft verwiesen, die Beziehungen zwischen Bevölkerung einerseits und Machtverhältnissen andererseits thematisieren: „Specifically, critical demography elucidates how power both affects and is impacted by demographic processes and events.“ (Horton, 1999:364; s. auch Szreter et al., 2004). Bezüglich einer kritisch diskutierenden Bevölkerungsgeographie sei exemplarisch auf Tyner (2009, 2013, 2015) verwiesen, der sich mit der politischen Rahmung von Sterblichkeit befasst.

Zusammengefasst bedeuten diese Argumente, dass (a) in der deutschsprachigen (Lehrbuch-)Bevölkerungsgeographie selbstverständlich Platz für eine Auseinandersetzung mit strukturellen Einflüssen auf die Mortalität ist, dass (b) eine solche Auseinandersetzung einen wissenschaftlichen Mehrwert bringen kann, da sie den Blick für wichtige, häufig ausgeblendete Einflussfaktoren öffnet und diese kritisch hinterfragen hilft, und dass (c) in diesem Bereich der Geographie blinde Flecken bestehen insofern, als entsprechende Diskussionen, die bereits geführt werden, nicht konsequent aufgegriffen werden.

6 Die offenen Türen

Die Rezeption verschiedener Ansätze und Perspektiven, die in anderen Bereichen der Geographie mittlerweile einen festen Platz haben, in der (deutschsprachigen Lehrbuch-)Bevölkerungsgeographie aber bislang wenig Beachtung fanden, kann der bevölkerungsgeographischen Mortalitätsdiskussion einen Mehrwert bieten, da sie – mit jeweils unterschiedlichen Fokussen – strukturelle Bedingungen der Mortalität thematisieren helfen können:

  • Das Konzept von Biomacht/Biopolitik (s. z.B. Lemke, 2013) ermöglicht die Diskussion politischer Gestaltung von Rahmenbedingungen des Lebens, die Sterblichkeit reduzieren helfen. Es bietet gleichzeitig Platz für die Auseinandersetzung mit Regierungsweisen, die sich in der Preisgabe von Gesundheit und Leben zugunsten anderer, als höherwertig erachteter Ziele manifestieren.

  • Aus kapitalismuskritischer Perspektive (s. z.B. Harvey, 2014) können mortalitätsrelevante Lebens- und Gesundheitsbedingungen (auch in räumlicher Differenzierung) hinsichtlich ihrer Prägung durch kapitalistische Logiken diskutiert werden.

  • Postkoloniale Ansätze (s. z.B. Castro Varela und Dhawan, 2020) ermöglichen eine Erweiterung von Diskussionen um Ungleichheiten mortalitätsrelevanter Lebensverhältnisse auf unterschiedlichen Maßstabsebenen: zum einen mit Blick auf strukturelle Benachteiligungen von Ländern des Globalen Südens gegenüber denen des Nordens; zum anderen innerhalb von Ländern mit Blick auf Bevölkerungsgruppen, die durch strukturellen Rassismus benachteiligt werden.

  • Feministische, intersektionale, Gender- und Queer-Perspektiven (s. z.B. Degele, 2008) können dazu beitragen, Sterblichkeit aus Perspektiven zu beleuchten, die Geschlecht als bedeutende Determinante gesellschaftlicher Ungleichheit und als nicht zwangsläufiges Ergebnis sozialer Zuschreibungsprozesse thematisieren.

  • Poststrukturalistische diskurstheoretische Ansätze (s. z.B. Moebius und Reckwitz, 2008) können das Argumentieren mit vermeintlichen Wahrheiten kritisch beleuchten, die z.B. in politischen Aushandlungsprozessen im Kontext von Gesundheit und Sterblichkeit wirksam werden.

  • Sozialepidemiologische Ansätze sind aus Sicht des Autors wegen ihrer Verknüpfung verschiedener Perspektiven besonders interessant. Sie rücken Verschränkungen von Gesellschaft und Gesundheit in den Mittelpunkt. Sozialepidemiologie (social epidemiology) ist charakterisiert durch „its insistence on explicitly investigating social determinants of population distributions of health, disease, and wellbeing, rather than treating such determinants as mere background to biomedical phenomena“ (Krieger, 2001a:693). Ökosoziale Epidemiologie richtet den Blick auf den gesellschaftlichen Kontext, in dessen Rahmen Umwelteinflüsse (nachteilig) auf die Gesundheit wirksam werden; sie befasst sich mit der Frage, „inwiefern sozialräumlich ungerechte Strukturen unterschiedliche biophysiologische Effekte für einzelne Menschen hervorbringen“ (Dzudzek und Strüver, 2020:257) und interpretiert „population patterns of health, disease and well-being as biological expressions of social relations“ (Krieger, 2001b:672). Kritische Sozialepidemiologie lenkt den Fokus stärker auf Aspekte der strukturellen Determination (statt sozialer Determinanten) von Gesundheit und auf Prozesse, die soziale Ungleichheiten und damit solche Determinationen hervorbringen (Spiegel et al., 2015:102). Da diese bezüglich der Merkmale Ethnie, Klasse und Geschlecht wirksam werden (Breilh, 2008:748), verbindet dieser aus Lateinamerika stammende Ansatz postkoloniale, kapitalismuskritische und feministische Perspektiven und positioniert sich kritisch gegenüber Gesundheitsepistemen des Globalen Nordens und des Neoliberalismus (s. Breilh, 2008:747).

7 Fazit

Die deutschsprachige Bevölkerungsgeographie, insbesondere der über Lehrbücher vermittelte Wissenskanon, lässt eine kritische Auseinandersetzung mit strukturellen Einflüssen auf die Sterblichkeit bislang weitgehend vermissen. Während die konsequente Auseinandersetzung mit Aspekten sozialer und räumlicher (Un-)Gerechtigkeiten in anderen Bereichen der Humangeographie mittlerweile fest verankert ist, steht sie ausgerechnet in dem Themenfeld, das sich mit der Länge des Lebens und den Ursachen des Sterbens befasst, noch aus. Konzeptionelle Zugänge gibt es hinreichend.

Datenverfügbarkeit

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Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Haftungsausschluss

Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.

Begutachtung

This paper was edited by Nadine Marquardt and reviewed by one anonymous referee.

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Short summary
With this contribution (which is designed as a positioning), the author pleads for a more consistent consideration of structural influences in the discussion of mortality in (textbook) population geography, and for a critical discussion of these influences. He refers to various conceptions that already have fixed places in human geography – but not in population geography – and that offer starting points for corresponding discussions.