Articles | Volume 78, issue 3
https://doi.org/10.5194/gh-78-479-2023
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26 Sep 2023
Standard article |  | 26 Sep 2023

Methodologische Reflexionen zur reflexiven Fotografie aus den Perspektiven postkolonialer Kritik

Andreas Eberth
Kurzfassung

This paper examines whether and to what extent the application of the method of hermeneutic photography can contribute to reducing epistemic relations of violence and thus to decolonizing empirical social research. To this end, an empirical study by the author is subjected to a re-reading and methodological reflection from postcolonial perspectives. On the basis of this, it will then be worked out which potentials and limits the work with the method of hermeneutic photography offers for research projects that are carried out in countries of the so-called Global South.

1 Einleitung

Die Verwicklungen zwischen Geographie und Kolonialpolitik kommen […] nicht nur im Werk prominenter FachvertreterInnen zum Ausdruck. Vielmehr trug das geographische Wissen auf sehr vielfältige Weise dazu bei, koloniales Land zu ‚entdecken‘ und zu unterwerfen. Dazu trugen die Praktiken des Kartierens und Kartographierens ebenso bei wie territoriale Restrukturierungen durch die koloniale Raum- und Stadtplanung; mehr oder weniger willkürliche Grenzziehungen ebenso wie Um- und Neubenennungen geographischer Gegebenheiten, die damit der Deutungsmacht der Kolonialherren unterworfen wurden. (Lossau, 2012a:358; im Detail siehe Gräbel, 2015; weitere Beispiele siehe Wardenga, 2019 bzgl. Geographischer Gesellschaften; Michel, 2019 bzgl. kolonialgeographischer Expeditionen; Escher, 2021 bzgl. der Kulturgeographie)

Julia Lossau macht deutlich, dass die Geographie als wissenschaftliche Disziplin in vielfältiger Weise in kolonialer Tradition steht. Trotz einer disziplingeschichtlichen Aufarbeitung dessen wird zugleich konstatiert, „that, despite good intentions, efforts at decolonizing geography are inherently limited because colonization continues to structure the field of geography and the academy more broadly“ (de Leeuw und Hunt, 2018). Vor dem Hintergrund dieses Erbes erscheint eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Disziplingeschichte und ein Aufspüren möglicher Kolonialitäten bzw. Persistenzen kolonial geprägter Denkmuster und Forschungspraxen sowie eine Stärkung Postkolonialer Geographien notwendig (siehe dazu Schlottmann und Wintzer, 2019:298ff.). Bedeutsam ist dabei „eine erkenntnistheoretische Reflexion der normativen Vorannahmen und Setzungen, die auch der eigenen Forschungsarbeit zugrunde liegen. Dass auch diese Vorannahmen vielfach auf (neo-)kolonialen und eurozentrischen Wissenssystemen basieren, ist in jüngerer Zeit […] hervorgehoben worden“ (Lossau, 2012b:130). Gerade visuelle Medien haben eine nicht zu unterschätzende Bedeutung bezüglich der Darstellung von ‚Welt-Bildern‘, wodurch sich imaginative Geographien teilweise langfristig in den Vorstellungen der Menschen verankern. So trugen Fotografien zur Kolonialzeit dazu bei, das Fremde zu definieren. Ähnlich wie auch in Teilen der Medizin wurde so Anderes konstruiert. Mittels Fotografie als kolonialer Praxis wurde durch Typisierung und Abgrenzung visuelle Gewalt ausgeübt (siehe auch Sontag, 2013; Regener, 2016). Es kann konstatiert werden, dass „jede Fachdisziplin aufgrund ihrer tradierten Identität Verantwortung […; trägt], also aufgrund dessen, was sie im Unterschied zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen ausmacht, und wie sie sich von dort her an der gesellschaftlichen Wissensbildung beteiligt“ (Dickel, 2021:8). Daher bedarf es einer reflektierten Haltung „im Hinblick auf die Geschichte der Geographie sowie auf das eigene Forscherinnen- und Forscherleben [, was] eine wesentliche Voraussetzung ist, um auf verantwortungsvolle Weise Geographin oder Geograph zu sein“ (Dickel, 2021:17).

Im Folgenden wird reflektiert, ob und inwiefern auch durch die Arbeit mit reflexiver Fotografie im Rahmen qualitativer Forschung ein Beitrag zu einer Dekolonisierung erfolgen kann. Dazu werden zunächst Aspekte epistemischer Gewalt sowie post- bzw. dekolonialer Perspektiven skizziert (Kapitel 2), bevor die Thematik anhand eines exemplarischen Beispiels aus der geographiedidaktischen Forschung überprüft (Kapitel 3) und ein Fazit gezogen wird (Kapitel 4). Damit ist der Beitrag an der Schnittstelle zwischen fachlich-theoretischen Debatten und fachdidaktischen Implikationen zu verorten.

2 Ausgewählte Schwerpunkte postkolonialer Kritik

Mit dem Begriff epistemische Gewalt wird aus verschiedenen Perspektiven Kritik an den Bedingungen der Wissensproduktion und der Dominanz des Wissenschaftsverständnisses von Ländern des sog. Westens bzw. Globalen Nordens geübt. Die Bedeutung des Begriffs epistemische Gewalt wird aus der Perspektive postkolonial-feministischer Theorietraditionen wie folgt illustriert:

Das klarste Beispiel für eine solche epistemische Gewalt ist das aus der Distanz orchestrierte, weitläufige und heterogene Projekt, das koloniale Subjekt als Anderes zu konstituieren. Dieses Projekt bedeutet auch die asymmetrische Auslöschung der Spuren dieses Anderen in seiner prekären Subjektivität bzw. Unterworfenheit. (Spivak, 2008:42)

Epistemische Gewalt ist also nicht nur durch ein Othering zu charakterisieren, sondern zudem durch ein Unsichtbarmachen der veranderten Gruppe im Diskurs. An die modernen Wissenschaften wird die Kritik gerichtet, andro- und eurozentrisch sowie heteronormativ ausgerichtet zu sein. Aufgrund ihrer Dominanz werden andere Epistemologien überblendet und es entsteht gleichsam eine „Monokultur des Wissens“ (Santos et al., 2007:xxxii). Epistemische Gewalt als Gewalt, die durch Wissen ausgeübt wird, ist somit eines der Schlüsselelemente in jedem Herrschaftsprozess. Herrschaft wird durch den Aufbau von epistemischen Rahmen, die die Praktiken der Herrschaft legitimieren, festgeschrieben (Galván-Álvarez, 2010:12). Im Zusammenhang mit globalen Ungleichheiten muss konstatiert werden, dass dies eine weiße Hegemonie ist, dass es gleichsam der ‚weiße Mann‘ ist, der die Deutungsmacht auch über Aspekte andernorts für sich beansprucht (Hall, 1981:159; Habermann, 2012:91). Als Beispiel dafür können die Konzepte von Entwicklung und Unterentwicklung genannt werden, als

neue Versionen der Rhetorik der Moderne, da beide geschaffen wurden, um die koloniale spatial/temporale Differenz neu zu organisieren. Durch die Kategorisierung der unterentwickelten Welt als zurückliegend in der Zeit und entfernt im Raum wurden Unterentwicklung und Dritte Welt ununterscheidbar. Auch wenn auf der Idee von Entwicklung/Unterentwicklung (d. h. Moderne/Kolonialität) das Gewicht der Ökonomie lastet, sind ihr doch auch die anderen Bereiche der menschlichen Erfahrung eingeschrieben, die die koloniale Matrix der Macht ausmachen: In der industrialisierten Welt impliziert ‚Unterentwicklung‘ sowohl geistig als auch epistemisch im ‚Rückstand‘ zu sein. (Mignolo, 2012:125).

Entsprechende Weltbilder haben sich unterdessen vielfach tief in den Köpfen verankert. Eine Persistenz dieser wird dadurch befördert, dass etwa im Geographieunterricht die begründete Einordnung von Staaten als Industrie-, Schwellen- oder Entwicklungsland nach wie vor etabliert ist. Dabei wird notwendige Kritik an entsprechenden Begriffen und Konzepten (siehe dazu u. a. Korf und Rothfuß, 2016; Ziai, 2012; Lossau, 2012b:128f.) häufig nicht bzw. nicht in hinreichender Weise zur Kenntnis genommen und es bedarf einer mühevollen Dekonstruktion im Unterricht (Eberth und Hoffmann, 2023; Eberth und Röll, 2021a). Es ist diese westliche Weltsicht, „die den magischen Effekt produziert, glauben zu machen, die Welt entspräche dem, was in dieser Weltsicht von ihr ausgesagt wird“ (Mignolo, 2012:57). So konnten nicht nur in ökonomischer Hinsicht, sondern auch im Bereich der Erkenntnis Zentren und Peripherien entstehen (Mignolo, 2012:48). Walter Mignolo fordert daher eine Entkopplung und „einen dekolonialen epistemischen Umsturz“ (Mignolo, 2012:57). Doch wie kann dies gelingen? Welches sind notwendige Bedingungen, die es ermöglichen, „den Blick auf die Welt zu verändern, die vorherrschenden Wahrnehmungsmuster zu verändern“ (Eribon, 2018:65)?

2.1 Potenziale post-/dekolonialer Theorien und Perspektiven

Post- und dekoloniale Theorien bzw. Perspektiven können hilfreich sein, die Beschränkungen der eigenen Wahrnehmungsmuster und das eigene Eingebundensein in bestehende Kolonialitäten aufzudecken.

Sie verweisen darauf, dass die heute globale Durchsetzung des Kapitalismus eng verwoben ist mit dem europäischen Projekt von Kolonialismus und fordern, jegliche Form von Macht, Herrschaft und Gewalt in diesem Kontext der Kolonialität zu analysieren. (Brunner, 2020:39)

Denn auch nach dem formalen Ende des Kolonialismus sind alte und neue Formen von Imperialismus persistent (Dhawan, 2011; Harvey, 2005). So bleiben „Ideen von ‚der Welt‘ oder ‚dem Globalen‘ […] zutiefst mit dem Neokolonialismus verstrickt“ (Castro Varela und Dhawan, 2015:78). Insofern werden postkoloniale Perspektiven sowohl rückblickend auf die Zeit des Kolonialismus, als auch auf neokoloniale Strukturen in der Gegenwart gerichtet. Postkolonialismus wird dabei verstanden „als eine Widerstandsform gegen die koloniale Herrschaft und ihre Konsequenzen“ (Castro Varela und Dhawan, 2015:16). So ist es die Intention postkolonialer Perspektiven, in eurozentrische Narrative zu intervenieren und hegemoniale Strukturen zu transformieren (Castro Varela und Dhawan, 2015:17). Dies erweist sich als notwendig, da einige fragwürdige Bedeutungen normalisiert wurden und bisweilen nicht mehr hinterfragt werden, was den Blick vor Alternativen versperrt (Wullweber, 2012:37).

Für diejenigen, die in einer gegebenen Interaktion die beherrschende Position einnehmen, ist es immer recht einfach, die unscheinbaren und doch massiven Wirkungen der Herrschaft und die Art, wie diese sich langsam und unerbittlich in den Körper und den Geist der anderen einprägt, zu übersehen oder übersehen zu wollen. Für die Herrschenden ist es sogar sehr wichtig, diese Wirkungen zu bestreiten oder zu unterschätzen, denn andernfalls müssten sie sich fragen, warum sie in ihrem Alltagsleben an dieser Herrschaft und ihrer Verstetigung teilnehmen. (Eribon, 2017:173)

Didier Eribon macht deutlich, wie wichtig, zugleich aber auch wie schwierig das Verändern von Denkmustern, das Aufbrechen hegemonialer Praktiken ist, gerade wenn man selbst in der Position der ‚Herrschenden‘ ist. So ist es kein einfaches Unterfangen, in den sog. ‚Industrieländern‘ Impulse zu etablieren, um anders – im Sinne einer weniger abwertenden Semantik – über Länder und mit Gesellschaften dieser Welt zu kommunizieren, denn es sind epistemische und materielle Bedingungen, die nach wie vor von Kolonialitäten geprägt sind (Dhawan, 2011:12; Brunner, 2020).

2.2 Das Verlernen lernen

Problematisch ist die Dissemination entsprechender Begrifflichkeiten, Konzepte und Visualisierungen, die ein postkoloniales Othering reproduzieren (wie u. a. Länderklassifikationen im Geographieunterricht) und Menschen im sog. Globalen Süden viktimisieren und auf eine weniger machtvolle Position im Diskurs verweisen. Daher bedarf es der „Analyse und Kritik der subtilen Techniken, mittels derer bestimmte Wissensformen […] überhaupt zu gesamtgesellschaftlichen ‚Wahrheiten‘ werden können, die als naturgegeben Schulbücher […] prägen und so gesellschaftliche Ausschlüsse, Hierarchisierungen und Ungleichheiten ermöglichen und legitimieren“ (Ludwig, 2012:123). Zu solchen ‚subtilen Techniken‘ können insbesondere Fotografien (u. a. in ihrer Verwendung in Schulbüchern) gezählt werden, die nicht unreflektiert als vermeintliches Abbild verstanden werden dürfen, sondern besonderer didaktischer Begleitung bedürfen (Rose, 1996, 2008; Schwartz und Ryan, 2006; Schröder und Carstensen-Egwuom, 2020). Ins Zentrum des Interesses sollten daher zunächst koloniale Denkmuster bzw. Weltbilder rücken sowie die Frage, welcher Einfluss einer kolonialen Prägung zur Entwicklung unserer Denk- und Weltbilder zukommt (Schröder, 2019:35). Daran kann dann dekolonisierend angeknüpft werden durch „interrogating ways that knowledge-making practices marginalize or discount specific people and places, especially by privileging what might be generalized as „western“ (often Euro-white) knowledges over „southern“ (often racialized) ways of seeing and knowing the world“ (von de Leeuw und Hunt, 2018). Hinsichtlich der konkreten Problematik des Eurozentrismus kann dies als „praxisorientierte Haltung gegenüber dem als europäisch ausgemachten Denken“ (Schröder, 2019:31) verstanden werden. Damit verfolgt dekoloniales Denken als Ziel eine Form des Lernens, mit der das koloniale Wissen gleichsam verlernt und ‚anderes‘ Wissen zur Veränderung der Welt kennengelernt, sinnlich erfahren, reflexiv diskutiert und handlungswirksam werden kann (Schröder, 2019:41). ‚Verlernen‘ kann so als aktive kritisch-kollektive Intervention verstanden werden, mit dem Ziel, hegemoniale Wissensproduktionen zu hinterfragen und Demokratisierung zu fördern (Castro Varela und Heinemann, 2016; siehe auch Capan et al., 2020).

2.3 Positionalität im Forschungsprozess

Für Forschende kommt dabei die Bedeutung einer reflexiven Auseinandersetzung mit der eigenen Positionalität zum Ausdruck (vgl. Rose, 1997; Faria und Mollett, 2014; Caretta, 2015; Vorbrugg et al., 2021). Dies gilt persönlich ebenso wie institutionell bzw. in Bezug auf das Eingebundensein in ein Wissenschaftssystem. Zudem sollten subalterne Perspektiven (Spivak, 2008) stärker berücksichtigt werden und im Zusammenhang mit der eigenen Positionalität zum Ausgangspunkt reflexiver Überlegungen werden. Nikita Dhawan betont die Bedeutung der „anhaltende(n) Hinterfragung der eigenen Komplizenschaft im fortwährenden zum Schweigen bringen marginalisierter Perspektiven“ (Dhawan, 2011:31). Dies zeigt, dass vereinzelte gut gemeinte Initiativen oder Interventionen nicht ausreichend sind. Auch subalterne Perspektiven lediglich zu ergänzen, ist insofern unzureichend, denn

decolonisation involves both the coloniser and the colonised. It is not simply about finding ways of giving ‚voice‘ to the hitherto silenced and marginalised, but about challenging the epistemological basis of hegemonic thought. (Mercer et al., 2003:428)

So bedarf es des Eröffnens eines Dialogs unterschiedlichster erkenntnistheoretischer Traditionen (Mbembe, 2017; Khoo et al., 2020:62f.).

Auf der Grundlage dieser gemeinsamen Erfahrung lassen sich die Pluriversalitäten aller Lokalgeschichten und ihre Dekolonisierungserzählungen verbinden und im Grenzdenken1 als einer neuen gemeinsamen Logik der ‚Erkenntnis‘ in den Dienst nehmen, um sich eine andere Zukunft vorzustellen, als jene, die der Weltbevölkerung von Washington, London, Paris oder Berlin aus zugemutet wird. (Mignolo, 2012:201)

Am Horizont des Dekolonisierungsprozesses wird „eine transmoderne, globale und vielfältige Welt“ (Mignolo, 2012:67f.) ausgemacht.

3 Visuelle Geographien im Kontext von Kolonialität – das Beispiel der reflexiven Fotografie

Im Folgenden wird diskutiert, ob und inwiefern es im Rahmen raumbezogener visueller Forschung gelingen kann, einen Beitrag zu in dieser Weise verstandenen Dekolonisierungsprozessen zu leisten. Visuelle Geographien als Forschungsrichtung haben u. a. zum Ziel, Produktion, Gebrauch und Rezeption visueller Medien kritisch hinsichtlich der Konstruktion von Wirklichkeiten bzw. Orts- und Weltbezügen zu reflektieren (vgl. Schlottmann und Miggelbrink, 2015:17f.). In Bezug auf Fotografien als visuelle Medien wird hier nicht davon ausgegangen, „dass sie nur Symbole sind und deshalb als visueller Text im Sinne von Ernst Cassirer zu lesen, oder ikonographisch als Zeichensystem im Sinne von Erwin Panofsky zu deuten seien“ (Dirksmeier, 2015:198ff.). So sind etwa Kameratechnik und der Akt des Fotografierens nicht Gegenstand der folgenden Reflexion, vielmehr steht die „subjektive überformung“ durch die Fotografierenden im Fokus (Baur und Budenz, 2017). Raumwahrnehmungen/-konstruktionen können so sichtbar werden. Gerade in von Postkolonialer Theorie inspirierten Forschungsprojekten wird die Arbeit mit Fotos im Allgemeinen und die reflexive Fotografie (Dirksmeier, 2007, 2013; Eberth, 2018a) im Konkreten inzwischen häufig angewendet, neben vielen anderen mehr seien exemplarisch genannt McLees (2013) zur Bedeutung von urban farms in Dar es Salaam in Tansania, Ofosu-Kusi (2017) zu Kindern in Accra, Ghana, im Kontext von Informalität, Schmidt (2020) zum Abbilden der Perspektiven von obdach- bzw. wohnungslosen Menschen in Hamburg und Rio de Janeiro, Boonzaier und Kessi (2008) zur Herausforderung der Repräsentation südafrikanischer Jugendlicher im Diskurs und zu Verwundbarkeit und Klimaextremen in Accra, Ghana (Adams und Nyantakyi-Frimpong, 2021).

Als Vorteil der Methode wird benannt, dass sie

[is] designed to give a voice to people marginalized by narrow definitions of the city that exclude the ways that people actually live in the cities. This approach sees people not as victims of urbanization but examines how they construct their own lives. (McLees, 2013:284)

Zugleich nehmen aber auch kritische Reflexionen zur Methode zu, wie Liebenberg (2018) in einem Überblick zeigt. Besonders relevant sind Fragen zu Machtungleichgewichten im Forschungskontext (Castleden et al., 2008), zur Beschränktheit des Forschungsdesigns (Nykiforuk et al., 2011), zur Teilhabe der Teilnehmenden (Carlson et al., 2006) sowie zur Verbreitung der Ergebnisse und der Art und Weise, wie sie Veränderungen bewirken (Latz, 2017; Mitchell et al., 2017).

3.1 Fotografie in Ostafrika

Auch hinsichtlich des räumlichen Kontexts ist das Medium Fotografie in (post-)kolonialen Kontexten differenziert zu diskutieren. So ist Fotografie zutiefst mit dem kolonialen Projekt verstrickt. Gerade in den kolonisierten Gesellschaften des afrikanischen Kontinents wurde Fotografie mit Unglück assoziiert.

As a ‚devils engine‘, a machine ‚to capture a person's spirit‘ or subtract bodily substance, photography was associated with death, theft, and sorcery and strongly rejected. (Behrend, 2013:200)

Vor dem Hintergrund entsprechender visueller Gewalt (Behrend, 2013:63) müsste das Fotografieren als Erhebungsmethode im Rahmen eines postkolonial reflektierten Forschungsprojekts demnach per se ausgeschlossen werden. Parallel muss aber auch konstatiert werden, dass sich bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts eigene visuelle Praktiken und Traditionen in Ostafrika herausgebildet haben (Behrend, 2013:11).

Local forms of media engagement contested the superiority of technical visual media as claimed by the colonizing project of the West. (Behrend, 2013:18)

So liegt die Bedeutung gerade in Kenia weniger auf der Fotografie als Produkt, als vielmehr im Akt des Fotografierens, „because the act as such marks it as an important event and gives it an added value“ (Behrend, 2013:53f.). Es dauerte allerdings Jahrzehnte, „to transform the new medium from a wondrous, dangerous, and deadly machine into a part of everyday life“ (Behrend, 2013:18). Spätestens seit Einführung der Digitalfotografie und Integration von Kameras in Smartphones (in Kenia zunehmend verbreitet seit 2006) kann daher auch von einer „democratication of photography“ (Behrend, 2013:242) gesprochen werden. Gleichwohl wird nach wie vor eine „optical skepticism“ (Behrend, 2013:45) in Teilen der kenianischen Gesellschaft ausgemacht.

3.2 Zur Anwendung reflexiver Fotografie in postkolonialen Kontexten – ein konkretes Beispiel

Im Folgenden wird der These nachgegangen, dass gerade in qualitativer Forschung mittels Visualisierungen ein Einblick in die Bedingungen der Datenerhebung gegeben werden kann und dadurch besser analysierbar wird, ob und inwiefern Ansprüche epistemischer Dekolonisierung berücksichtigt werden, oder postkoloniale Perspektiven doch nur scheinbar eingenommen werden und sogar eher zur Persistenz bestehender Ungleichheiten und Hierarchien beigetragen wird. Drei Aspekte bilden den Rahmen für die kritische Reflexion: Es wird (a) eine empirische Erhebung gewählt, die von einem deutschen, weiß gelesenen Forscher in Kenia als einem Land des sog. Globalen Südens durchgeführt wurde. Die Bedingungen der Möglichkeiten seiner Forschungspraxis wurden insbesondere im Globalen Norden strukturiert und entfalten primär dort Bedeutung. Dabei wird (b) Bezug zu Aspekten partizipativer Forschung genommen, da Partizipation bzw. Kollaboration der am Forschungsprojekt Teilnehmenden neben anderen Aspekten als eine wichtige Voraussetzung zur Dekolonisierung empirischen Forschens verstanden wird (Vorbrugg et al., 2021). Um (c) die Bedeutung von Visualisierungen in Forschungsprozessen in postkolonialen Kontexten berücksichtigen zu können, wird exemplarisch die Methode der reflexiven Fotografie diskutiert. Die reflexive Fotografie wird verschiedentlich als Methode bezeichnet, die einen hohen Grad an Partizipation der Teilnehmenden am Forschungsprozess ermögliche (von Unger, 2014:69ff.; Rose, 2016:316f.). Derartigen visuellen Forschungsmethoden wird mitunter zugesprochen, „grundsätzlich kollaborativ“ zu sein (Rose, 2021). In einem Beitrag in Kogler und Wintzer (2021) arbeiten Eberth und Röll (2021b:26ff.) modellhaft fünf Formen des Partizipativen bei der Anwendung der reflexiven Fotografie heraus. Dabei differenzieren sie, ob und inwiefern in verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses Partizipation möglich ist (keine direkte Partizipation; Forschungsinteresse; Datenerhebung; Datenauswertung; Wissenstransfer). Auch in der von mir durchgeführten Studie zum Thema Alltagskulturen von Jugendlichen in den Slums von Nairobi – eine geographiedidaktische Studie zum kritisch-reflexiven Umgang mit Raumbildern, wird die Anwendung der reflexiven Fotografie mit ihrem Charakter als partizipative Forschungsmethode legitimiert und die Wahl der Methode in einer ausführlichen methodologischen Reflexion begründet (Eberth, 2019a:77ff.). Nach einer kurzen Skizze des Erkenntnisinteresses und Vorgehens wird im Folgenden überprüft, ob dieses Forschungsdesign ein geeignetes Beispiel für eine dekoloniale Praxis ist bzw. welcher Veränderungen es womöglich bedarf bzw. bedurft hätte, um den Ansprüchen dekolonialer Konturierungen besser gerecht zu werden.

3.2.1 Alltagskulturen in den Slums von Nairobi, Kenia – Visualisierung von Raumkonstruktionen mittels reflexiver Fotografie

In der von mir publizierten Studie (Eberth, 2019a) werden Ergebnisse und Erkenntnisse eines Forschungsprojekts dargestellt, das mit Jugendlichen durchgeführt wurde, die in Korogocho, einem Slumgebiet in Nairobi, Kenia, leben, dort aufgewachsen sind und dort geboren wurden. Diese Gruppe der Bewohnenden Nairobis wird als subaltern konstruiert, da über den Stadtteil mit „unkontrollierten Begriffen und Bildern“ (Bourdieu, 2016:115) kommuniziert wird, wie es auch bezüglich anderer sog. Slums der Fall ist (‚Angsträume‘, ‚Marginalviertel‘, ‚Elendsviertel‘, vgl. Wehrhahn, 2014:9). Folgende Fragestellungen waren forschungsleitend:

  • Wie konstruieren Jugendliche in Korogocho ihren Wohnort als place?

  • Inwiefern trägt ein sense of place dazu bei, dass bei den Jugendlichen eine Motivation zur Mitgestaltung des räumlichen und sozialen Umfelds entsteht?

Insgesamt 35 Jugendliche im Alter zwischen 15 und 24 Jahren, die in 15 verschiedenen Jugendgruppen engagiert sind, haben an der dreiteiligen Erhebungsphase teilgenommen. Die Zusammenarbeit mit Jugendlichen aus Korogocho mit dem Ziel der Datenerhebung fand während eines vierwöchigen Aufenthalts des Verfassers dieser Arbeit in Nairobi statt. Wenngleich sich die Erhebungsphase insgesamt also über einige Wochen hinzog, beschränkte sich die Kooperation mit den einzelnen Fällen auf jeweils etwa einen halben Tag. Auf eine ca. 30 min Phase des Kennenlernens und des Austauschens allgemeiner Informationen über das Forschungsprojekt folgte unmittelbar die 60 min Phase des eigenständigen Aufnehmens von Fotos durch die teilnehmenden Jugendlichen. Der Arbeitsauftrag für diese Phase lautete: Take up to three photos of things, places or people which or who are important in your everyday life. Die Formulierung dieses Arbeitsauftrags orientiert sich an der exemplarisch von Benno Werlen zur Erforschung des subjektiven Umweltverhaltens im Kontext wahrnehmungs- und verhaltenszentrierter Sozialgeographie formulierten Forschungsfrage

Was halten die Individuen in ihrer Umwelt für wichtig? (Werlen, 2008:240)

Im Anschluss an die Phase des Aufnehmens von Fotos wurden die gesondert zu thematisierenden Motive ausgewählt und es wurde ein geeigneter Ort aufgesucht, um im Rahmen des reflexiven Interviews über diese ins Gespräch zu kommen. Die Dauer dieser Interviewphasen variierte von Fall zu Fall; im Durchschnitt dauerten die Interviews jeweils etwa eine Stunde. Die Konzeption der Erhebungsphase ist an den Überlegungen Henri Lefebvres (1991) zur Dialektik der Raumproduktion angelehnt. Konkretisieren lassen sich diese Bezüge wie folgt (in Anlehnung an Günzel, 2017:78):

  • Räumliche Praxis

Wie empfinden Jugendliche, die in Korogocho leben, ihre Räume des Alltags, wie nehmen sie diese wahr?

Fotografieren als performativer Akt, um Routinen des Alltagslebens abzubilden

  • Repräsentationen des Raumes

Wie präsentieren Jugendliche, die in Korogocho leben, ‚ihren‘ Raum?

Auswahl und Präsentation selbst aufgenommener Fotos gegenüber dem Forscher

  • Räume der Repräsentation

Welche Bedeutung wird dem Raum beigemessen?

Darstellung der Bedeutungszuschreibung im Rahmen des reflexiven Interviews (z. B. „slum as home“)

Die Auswertung der so erhobenen Daten erfolgte nicht mehr vor Ort zusammen mit den teilnehmenden Jugendlichen, sondern mittels inhaltlich strukturierender Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2016) an der Leibniz Universität Hannover und kann in Eberth (2019a:103ff.) ausführlich nachgelesen werden.

3.2.2 Kritische Reflexion des Projekts

Ob und inwiefern dieses Forschungsprojekt eine Reaktion auf postkoloniale Kritiken sein kann, wird im Folgenden neben anderen entlang einiger von Franziska Müller (2016:240) benannter Aspekte bzw. Fragen zu dekolonialen Forschungsstrategien kritisch überprüft.

Wer darf in wessen Namen forschen und nimmt die Privilegien des Forschers2 und des Experten für sich in Anspruch? Wer wählt aus, welche Forschungsgegenstände überhaupt relevant sind? Welche Bedeutung hat dies für die Produktion von (Welt-)Bildern visueller postkolonialer Praxis?

Als weiß gelesener Forscher aus einem Land des sog. Globalen Nordens in einem Land des sog. Globalen Südens zu forschen bzw. eine empirische Erhebung durchzuführen, erfordert forschungsethische Vergewisserungen und ein hohes Maß an Reflexivität (Tuitjer, 2019). Dies gilt umso mehr, wenn zwischen dem Forscher und den am Projekt Teilnehmenden bildungsbiographische Unterschiede bestehen und der Forscher diesbezüglich je nach Perspektive eine privilegiertere Position einnimmt. Gerade diesbezüglich kann sich die reflexive Fotografie als geeignete Methode erweisen, um mögliche Hierarchien abzubauen bzw. zu verringern (Eberth und Röll, 2021b). Aufgrund der Gestaltung als „researching with, not on“ (Mizen und Ofosu-Kusi, 2006) gelten die Teilnehmenden als die unbezweifelten Expert:innen (Dirksmeier, 2007:8; Rose, 2021:70f.). Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Anwendung der reflexiven Fotografie möglichst offen gehalten ist und den Teilnehmenden vergleichsweise viel Spielraum gibt. Sie können die Auswahl der Motive im Rahmen des begrenzten Spielraums, den die Technik des Fotografierens bietet – selbst und ohne Beeinflussung durch den Forscher treffen und legen so auch die Schwerpunkte des reflexiven Interviews fest, dessen Gesprächsinhalte aus den fotografierten Motiven resultieren. Insofern handelt es sich nicht um durch den Forscher vorstrukturierte leitfadengestützte, sondern quasi-narrative Interviews, im Rahmen derer subjektive Sinnstrukturen rekonstruiert werden können.

Der Forscher nimmt in der Erhebungphase daher die Rolle des Lernenden ein, während die Teilnehmenden die Lehrenden sind (Harper, 2009:415). Die Begegnung findet so weitestgehend auf Augenhöhe statt und es wird ein Miteinander-Forschen anstelle eines Über-Jemanden-Forschen ermöglicht (vgl. Hurworth, 2012; Eberth, 2019a:81). Im Sinne des eingangs geforderten erkenntnistheoretischen Pluralismus wird so die Konstruktion einer privilegierteren, gebildeteren Position weniger relevant und kann zumindest ansatzweise „verlernt“ werden, eine partnerschaftliche Zusammenarbeit kann gemeinsam gestaltet werden (vgl. Huning, 2021:58).

Auf die Frage, in wessen Namen geforscht wird, kann geantwortet werden, dass es sich nicht um ein projektgebundenes oder drittmittelfinanziertes Vorhaben gehandelt hat. Ich wurde über Haushaltsmittel finanziert und war völlig frei in der Auswahl des thematischen Schwerpunkts und methodischen Vorgehens. Gleichwohl erweist sich hier bereits eine Schwäche: Das Erkenntnisinteresse wurde durch den Forschenden in Diskussion mit Kolleg*innen und Professor:innen aus einer rein deutschen wissenschaftlichen Community entwickelt. Jene Gruppe, auf die das Forschungsprojekt bezogen war, nämlich Jugendliche, die in den Slums von Nairobi geboren wurden, dort aufgewachsen sind und nach wie vor dort leben, wurden nicht in die Identifikation des Forschungsgegenstands und in methodologische Fragen bzw. Überlegungen zur Auswahl einer geeigneten Forschungsmethode eingebunden. Es hätte den Grad der Partizipation deutlich erhöht und wäre dem Anspruch einer Dekolonisierung von Forschung weit mehr gerecht geworden, wenn eine entsprechende Phase vorangestellt worden wäre (siehe dazu Vorbrugg et al., 2021:83). Auch zur Gestaltung dieser Phase eignet sich die reflexive Fotografie: In diesem Fall dient die Methode nicht eigentlich zur Datenerhebung, sondern als Vehikel, um z. B.  as inhaltliche Interesse der Teilnehmenden abzubilden. So können Motive gewählt werden zu einem Aspekt, den die Beteiligten als für sie interessanten inhaltlichen Fokus im Forschungsdesign erachten. Die Methode dient dann als Hilfsmittel zur individuellen Auseinandersetzung mit und Reflexion über den Raum als place (vgl. Eberth und Röll, 2021b:28).

Bezüglich des hier diskutierten Beispiels muss also konstatiert werden, dass bzgl. der Definition des Erkenntnisinteresses ein gewisses Maß an Bevormundung des weiß gelesenen Forschers und wenig Mitbestimmung und Entscheidungsmacht der Teilnehmenden gegeben war. Diese Partizipation während der Datenerhebung macht dennoch ein Abbilden subjektiver Ortsbezüge möglich, „die in der alltäglichen Praxis von individuellen Akteuren und/oder Gruppen produziert und reproduziert werden“ (Lossau, 2012a:360).

Wer profitiert von der Wissensproduktion, wer ist von einer Teilhabe weitgehend ausgeschlossen?

Die Intention des Forschungsprojekts erfolgte nicht z. B. aus den Bereichen der Angewandten Geographie bzw. Stadtplanung oder der Geographischen Entwicklungsforschung, sondern aus der Perspektive der Geographiedidaktik, da aus den Ergebnissen und Erkenntnissen eine forschungsbasierte Unterrichtssequenz für den Geographieunterricht entwickelt werden sollte bzw. schließlich entwickelt wurde. Daher wurde das Wissen gleichsam primär für Rezipient:innen im deutschsprachigen Raum generiert, konkret Lehrkräfte und Schüler:innen der Jahrgangsstufen 9–13. Da die Studie auf Deutsch publiziert wurde, wurden auch allein aufgrund sprachlicher Barrieren die an der Erhebungsphase teilnehmenden Jugendlichen von einer Auseinandersetzung mit den publizierten Ergebnissen und Erkenntnissen ausgeschlossen. Hier hätte ein konsequentes Veröffentlichen in englischer Sprache eine viel bessere und niedrigschwelligere Zugänglichkeit ermöglicht bzw. ermöglichen müssen. Zwei 2021 erschienene Kurzfassungen in englischer Sprache sind der Versuch, dieser Kritik zu begegnen (Eberth, 2021a, b), ebenso wie eine Veröffentlichung der von den Teilnehmenden aufgenommenen Fotos und kurze Auszüge aus den reflexiven Interviews auf einer Website, die sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch abrufbar ist (https://sdg-education.net/en/exhibition.html, letzter Zugriff: 25. September 2023). Um dekolonialen Konturierungen stärker Rechnung zu tragen, hätte unbedingt auch die Auswertung der erhobenen Daten gemeinsam mit den Teilnehmenden im Rahmen von Forschungswerkstätten erfolgen müssen. Die Intention, Unterrichtsmaterial für den Geographieunterricht zu konzipieren, hätte dabei durchaus beibehalten werden können, da die Kritik an der Einseitigkeit der medialen Darstellung ‚Afrikas‘ auch von den Teilnehmenden selbst in verschiedenen Interviews angesprochen wurde (Eberth, 2019a:132f.). Zugleich hätten gruppenbasierte, partizipative Auswertungsverfahren zusammen mit den Teilnehmenden auch Erkenntnisse offenlegen können bzw. zu Interpretationen führen können, aus denen Impulse für die sozialräumliche Wirklichkeit vor Ort hätten generiert werden können (z. B. Identifikation von Kooperationspartner*innen, Synergieeffekte). Ein empowerment sowie eine Beeinflussung und Veränderung der sozialen Wirklichkeit als zentraler Charakteristika partizipativer Forschung (von Unger, 2014:1) hätte dadurch wesentlich konkreter erfolgen können. So kann dem Projekt nicht der Anspruch einer Beeinflussung oder Veränderung zukommen, da keine konkreten Maßnahmen in Korogocho realisiert wurden (Eberth, 2019a:90). Wie die Rückmeldungen der Teilnehmenden deutlich machen, wurde aber bereits die Möglichkeit, an der Erhebung teilnehmen und diese mitgestalten zu können, als empowerment empfunden. Dabei wurde die Offenheit im Erhebungsprozess besonders betont. Zudem wurde benannt, dass es als Wertschätzung empfunden wurde, dass mit der Präsenz des weiß gelesenen Forschers keinerlei finanzielle Versprechen oder Absichten des Slum-Upgradings im Sinne einer Investition in die physisch-materielle Infrastruktur einhergingen (im Unterschied zu Erfahrungen mit Mitarbeitenden internationaler Nichtregierungsorganisationen). Das intensive Zuhören und Interesse an den Belangen der Teilnehmenden wurde als ermächtigend empfunden und das Wissen, dass die selbst aufgenommenen Fotos und Auszüge der Interviews Eingang in den Schulunterricht in Deutschland finden sollten, erfüllte einige mit Stolz. Gleichwohl wird die Persistenz bestehender Ungleichheiten gerade in der Verbreitung der Ergebnisse und Erkenntnisse und den mit der Veröffentlichung einher gehenden Folgen deutlich. So war es mir möglich, das Projekt auf internationalen Tagungen in Basel, Paris und Peking zu präsentieren. Aufgrund verschiedener Differenzkategorien wie etwa Zugang zu monetärem Kapital und zu Visa, wurden die an der Erhebung Teilnehmenden davon ausgeschlossen. Insofern konnten durch die Zusammenarbeit mit den Teilnehmenden zwar Forschungsperspektiven pluralisiert und subalterne Blickwinkel rekonstruiert werden (Müller, 2016:244), dies hat allerdings noch nicht zum eigentlichen Abbau von Ungleichheit im wissenschaftlichen Kontext geführt.

Postkoloniale/dekoloniale Strategien hingegen betrachten Pluralität und die Sichtbarmachung des Lokalen noch nicht als theoretischen Mehrwert, sondern verbinden dies mit einer Hegemoniekritik und Positivismuskritik und richten ihren Fokus auf politische Kämpfe, emanzipatorische und gegenhegemoniale Prozesse. (Müller, 2016: 248)

Es sollte daher auch auf inhaltlicher Ebene eine kritische Reflexion erfolgen.

https://gh.copernicus.org/articles/78/479/2023/gh-78-479-2023-f01

Abb. 1(a) Eigene Aufnahme; (b) Eberth (2019a:147).

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Gelingt eine Überwindung von Eurozentrismen?

Die Anwendung der Methode reflexive Fotografie ermöglicht es, „Formen eines dialogorientierten, reflexiven Forschens zu entwickeln“ (Müller, 2016:243). Im vorliegenden Beispiel ist dies in der Erhebungsphase zwischen den Teilnehmenden und dem Forscher und teilweise auch zwischen den Teilnehmenden untereinander gelungen. Gleichwohl können der Grad der Partizipation sowie dekoloniale Konturierungen wie oben skizziert noch deutlich erhöht werden. Auf die dem Projekt zugrundeliegende Intention geben die inzwischen entstandenen Produkte eine Antwort in Form von Unterrichtsmaterialien, mittels derer Perspektivenwechsel gelingen können, indem Stimmen von Jugendlichen aus Korogocho in visueller und textlicher Darstellungsform Eingang in den Unterricht finden (Eberth, 2018b, 2019a:221ff.). Dies wird exemplarisch in den Abbildungen 1a und b deutlich. Abbildung 1a zeigt ein Motiv, wie es in sehr ähnlicher Weise dutzendfach angezeigt wird, wenn in der Bildersuche einer Internetsuchmaschine die Begriffe ‚Slum‘ und ‚Nairobi‘ eingegeben werden und kann insofern als Reproduktion des dominanten visuellen Regimes im Schulbuch verstanden werden3. Mit den Dachlandschaften aus Wellblechhütten wird aber nur ein Blick von außen gezeigt; mit geographischen Konzepten gesprochen, wird der Raum nur als space dargestellt. Die von Teilnehmenden an der Erhebung selbst aufgenommenen Fotos zeigen hingegen allesamt sozialräumliche Aspekte, sie zeigen den Ort als place, dem Bedeutungen zugeschrieben werden. Auf diesen Fotos sind aktive Menschen mit agency zu sehen, die den mitunter verbreiteten Vorurteilen eines passiven Ausharrens in Armut widersprechen (exemplarisches Beispiel Abbildung 1b). In dieser Weise gestalteter Geographieunterricht vermag es, über Raumwahrnehmungen und (mediale) Raumkonstruktionen zu reflektieren, Vorurteile abzubauen und eurozentrische Perspektiven zu erweitern (im Detail siehe Eberth, 2019a:249ff.). Damit dies gelingt, dürfen Fotografien allerdings nicht als Abbild einer vermeintlichen Realität verstanden werden. Vielmehr müssen entsprechende didaktische Zugänge einen kritisch-reflexiven Umgang mit Raumbildern ermöglichen. Um noch konsequenter einer Dekolonisierung Rechnung zu tragen, müssen diverse Verschränkungen aber noch stärker berücksichtigt werden. Es gilt Formate zu entwickeln, „bei denen ‚der Süden‘ nicht mit aus anderen Kontexten entliehenen Kategorien gemessen, klassifiziert und objektiviert wird“ (Müller, 2016:243).

Wer war an der Datenauswertung beteiligt?

Eine Reflexion der Datenauswertung und -interpretation zeigt, dass die Potenziale der Erhebungsmethode durch die Auswertungsmethode – qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2016) – doch wieder determiniert wurden. Kritisiert werden muss diesbezüglich „die privilegierte Methodenposition der Forschenden, die die Deutungsmacht über das analysierte Material haben“ (Siouti, 2022:121). Demnach erweist sich die Anwendung der qualitativen Inhaltsanalyse und die damit einhergehende Codierung als hegemonial. Auch die Kategorienbildung per se reproduziert ein eurozentrisches Wissenschaftsverständnis. Trotz aller bis hierhin aufgezeigten Potenziale wird an dieser Stelle deutlich, dass das Vorhaben mit der Wahl dieses Auswertungsverfahrens geradezu scheitern musste.

Inwieweit kann Visualität helfen, Kommunikation und Nutzbarkeit der Projektergebnisse entsprechend dekolonisierender Forschungsprinzipien zu gestalten?

Die Projektergebnisse wurden im deutschsprachigen Raum vergleichsweise breit disseminiert. Dies gelang insbesondere durch die Konzeption von Arbeitsmaterialien für den Geographieunterricht, die nicht nur in einschlägigen unterrichtspraktischen Fachzeitschriften (Eberth, 2018b) und einem Fachdidaktik-Lehrbuch (Eberth und Lippert, 2023), sondern insbesondere auch in Schulbüchern verbreitet wurden (u. a. Eberth et al., 2022). Das gibt einen Eindruck, wie mittels eines geographiedidaktischen Forschungsprojektes unter Anwendung der Methode der reflexiven Fotografie ein Beitrag zur Dekolonisierung von Schulbüchern und einer Reduzierung eurozentrischer Perspektiven in Schulbüchern geleistet werden kann. Die Bedeutung einer Verbindung von fachwissenschaftlicher geographischer und geographiedidaktischer Forschung wird darin exemplarisch deutlich. Zugleich bildet ein solcher Ansatz bislang eher die Ausnahme.

4 Fazit

Das visuelle Sichtbarmachen qualitativer Forschung im Moment der Datenerhebung kann einen entscheidenden Beitrag leisten, um Hierarchien wenn nicht aufzubrechen, so doch aber transparenter und dadurch reflektierbar bzw. zum Gegenstand kritisch-reflexiver Auseinandersetzungen zu machen. Die reflexive Fotografie bietet vielfältige Möglichkeiten, um im Rahmen von (partizipativer) Forschung Anwendung zu finden. Dabei ist sie weitaus mehr als nur eine Erhebungsmethode. Eberth und Röll (2021b) arbeiten das Potenzial der Methode heraus, das nicht nur für die Phase der Datenerhebung, sondern auch zur Definition eines gemeinsamen Forschungsinteresses und für den Bereich des Wissenstransfers bzw. der Wissenschaftskommunikation gegeben ist. Diese Möglichkeiten wurden im hier vorgestellten Projekt in keiner Weise genutzt. Insofern erweist sich zwar die Erhebungsphase dieses Projekts als Ausdruck postkolonialer Sensibilität. Insgesamt ist es in diesem Projekt aber nicht gelungen, grundlegend epistemische Gewaltverhältnisse aufzubrechen. Die Gestaltung eines Forschungsdesigns, dem dekoloniale Konturierungen zugesprochen werden können, stellt also eine enorme Herausforderung dar.

Eine reflexive Forschungsethik, die sich der Komplexität intersektionaler Verortungen von Forschungsteilnehmern und Forschenden stellt, kann hierbei einen wichtigen Beitrag leisten. […] Eine ethische Haltung ist dabei ein kontinuierlicher Prozess, da Selbstreflexion kontinuierliche Arbeit bedeutet und nicht im Vorhinein definitiv zu erreichen ist. (Tuitjer, 2019:127)

Insofern, so soll das hier vorgestellte Beispiel zeigen, können auch und gerade abgeschlossene Studien und Forschungsprojekte zum Anlass genommen werden, um Anforderungen, Chancen, Herausforderungen, aber auch bestehende und vielleicht zumindest in dieser Zeit nicht oder aufgrund bestimmter Zwänge womöglich nur schwer zu überwindender Grenzen zu identifizieren und zu reflektieren, wie und unter welchen Voraussetzungen zukünftig Hierarchien weiter abgebaut werden können. Dass Aspekte von Partizipation und Kollaboration im Rahmen von Projekten mit dem Anspruch einer kritischen Wissensproduktion bzw. dekolonialen Praxis häufig auf die Erhebungsphase beschränkt bleiben, zeigen auch andere Beispiele (Brenssell und Lutz-Kluge, 2020; Kindon et al., 2007; Reason and Bradbury, 2012). Im Sinne der Sichtbarmachung lokaler Wahrnehmungen und des Initiierens von Dialogen vermag es die Methode der reflexiven Fotografie, in dieser Phase einen Beitrag zu leisten und dadurch zumindest epistemischen Pluralismus zu stärken. Die Arbeit mit Visualisierungen in qualitativer Forschung trägt dabei nicht per se zu Gewaltlosigkeit bei. Sie kann aber ein gewinnbringendes Instrument sein, Bedeutungszuschreibungen, Wahrnehmungsmuster und Raumkonstruktionen besser sichtbar zu machen, so dass Visualisierungen zum Gegenstand einer kritisch-reflexiven Auseinandersetzung werden können. Gerade in Geographiedidaktik und Schulgeographie wird sodann ein Potenzial entfaltet, um entlang der kritischen-reflexiven Arbeit mit visuellen Darstellungen zur Dekolonisierung des Geographieunterrichts beizutragen.

Codeverfügbarkeit

Codes sind hier verfügbar: https://doi.org/10.14361/9783839447741-011 (Eberth, 2019b).

Datenverfügbarkeit

Datensätze sind hier verfügbar: https://doi.org/10.14361/9783839447741-005 (Eberth, 2019c).

Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Haftungsausschluss

Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.

Danksagung

Herzlichen Dank an Kristine Beurskens, Lea Bauer und die zwei anonymen Gutachter:innen für die umsichtige Durchsicht der Manuskripte und sehr konstruktiven Kommentare.

Begutachtung

Dieser Artikel wurde von Nadine Marquardt redaktionell betreut und durch zwei Expert:innen in einem double-blind Review-Verfahren begutachtet.

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1

„Das Grenzdenken ist eine der Methoden, die dazu beitragen können, sich soweit zu bewegen, dass man eine pluriversale statt einer universalen Sichtweise vertritt und dass Strategien angewendet werden, um dies zu erreichen“ (Mignolo, 2012:204f.).

2

Wenn im Folgenden nicht durchgängig gegendert wird, beziehen sich die maskulinen Formen auf den Verfasser dieser Arbeit und seine Reflexionen.

3

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Short summary
In diesem Beitrag wird der Fokus primär auf post- und dekoloniale Konturierungen epistemischer Gewalt gelegt. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob und inwiefern Visualisierungen, die im Rahmen qualitativer empirischer Forschung entstehen, einen Beitrag leisten können, der Kritik zu begegnen und Gewaltverhältnisse zumindest zu reduzieren oder epistemische Gewaltverhältnisse weiter stützen.