Articles | Volume 78, issue 1
https://doi.org/10.5194/gh-78-53-2023
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Book review
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03 Feb 2023
Book review |  | 03 Feb 2023

Book review: Handbuch Kritisches Kartieren

Florian Dünckmann
Dates

Dammann, F. and Michel, B. (Hrsg.): Handbuch Kritisches Kartieren, Bielefeld, transcript, 336 pp., ISBN 978-3-8376-5958-0, 32,00 EUR, 2022.

Karten sind machtgeladene Darstellungen des Raumes. Dementsprechend sind Praktiken des Kartierens, die in diesem Sammelband im Mittelpunkt stehen, eine Form der Machtausübung. Nachdem die kritische Kartographie, d.h. die Analyse von Karten als machtgeladene Repräsentationen der Welt, schon länger einen festen Platz im Kanon der Kritischen Geographie innehat (vgl. z.B. Glasze, 2009), geht diese Publikation nun also einen Schritt weiter und wendet sich Ansätzen und Methoden zu, die diese Machtmechanismen aktiv für ihre eigenen Sichtweisen und Anliegen aneignen und anwenden. Anhand von konkreten Beispielen werden Anregungen gegeben, wie solche „alternativen und gegenhegemonialen Praktiken des Kritischen Kartierens“ (Dammmann und Michel, 14) konzipiert und durchgeführt werden können. Dabei ist die methodische Spannbreite sehr weit und reicht von Performance-Workshops, die mit theatralischen und tanztherapeutischen Elementen arbeiten, bis hin zu Methoden der kritischen Analyse von quantitativen Geodaten.

Der Sammelband ist in vier Teile gegliedert, die jeweils einen spezifischen Zugang zum Kritischen Kartieren behandeln: Die Beiträge des ersten Teils beschäftigen sich mit partizipatorischen Ansätzen des Kartierens bzw. des Umgangs mit Karten. Den Beginn machen drei Mitglieder des kollektivs orangotango, das sich bereits mit zahlreichen Kartierungsprojekten und der Veröffentlichung eines Bildbandes zum Counter-Mapping (kollektiv orangotango, 2019) einen Namen gemacht hat. Schweizer, Halder und Virchow bieten eine praxisnahe Handreichung für eine Aktionsforschung, bei der kollektives Kartieren im Mittelpunkt steht. „Ungehörte Stimmen sichtbar machen„, wie es im Titel des Artikels von Klaus, Germes und Guarascio heißt, könnte dabei auch als Motto über nahezu allen Beiträgen dieses ersten Teils stehen. Sei es das emotionale Raumerleben von Drogenkonsumierenden und Obdachlosen, die psycho-geographische Struktur von Haftanstalten oder die Gewalterfahrungen von vulnerablen Gruppen im Stadtraum: In allen diesen Beispielen geht es darum, dass marginalisierte Gruppen mit Hilfe des kollektiven Kartierens ihr eigenes Raum- und Welterleben dokumentieren, reflektieren und ausdrücken können.

Die Kapitel des zweiten Teils, in dem narratives Kartieren thematisiert wird, umfassen eine große Bandbreite von verschiedenen Themengebieten und Ansätzen. In den Beiträgen von Singer und Neuburger bzw. des AK Feministische Geographien werden Storymaps eingesetzt, um Gegennarrative zu hegemonialen, d.h. patriarchalen bzw. kolonialen, Erzählperspektiven zu entwickeln. Haferburg und Kraudzun nutzen Kritisches Kartieren von Mobilitäts(infra)strukturen als Grundlage für verkehrspolitische Interventionen. Zwei weitere Artikel (Beuer und Nöthen bzw. Pettig) beleuchten die künstlerisch-ästhetische Dimension des Kritischen Kartierens und zeigen, in welcher Weise Kartierungspraktiken nicht allein Repräsentationen von vorhandenen Raumerfahrungen sind, sondern auch neue Aufmerksamkeitsmuster und Sensibilitäten hervorrufen können.

Der Einsatz von Karten und Kartierungspraktiken im schulischen Unterricht und der universitären Lehre bildet den Schwerpunkt des dritten Teils. So präsentieren Orlowski und Geiselhart ein durchstrukturiertes Lehrkonzept mit Übungen und Lehrzielen, das als Element einer kritisch-kartographischen Methodenausbildung im Geographiestudium eingesetzt werden kann. Schweizer und Gülgonen nutzen Kartierungen, um gemeinsam mit Kindern deren Alltagsräume kritisch zu erkunden. Kollar und Laub bewegen sich mit ihrem didaktischen Konzept im Schnittbereich zwischen historischem Lernen und kritischer Kartographie, wenn sie sich kartographisch den z. T. vergessenen Biographien von Holocaust-Opfern nähern und z.B. ihre Flucht- und Deportationsrouten nachvollziehen. Schreiber wiederum rückt in ihrem Artikel den Umgang mit den unmittelbaren Lebensrealitäten der Schüler*innen in den Mittelpunkt, die mithilfe von counter-mapping ihren schulischen Alltag mit seinen institutionell besetzten, machtgeladenen Räumen reflektieren sollen.

Der letzte Teil widmet sich dem digitalen Kartieren und lotet die Möglichkeiten und Herausforderungen von verschiedenen Einsatzmöglichkeiten von Geoinformationssystemen für das Kritische Kartieren aus. Bei Boos ermöglichen place-basierte digitale Verfahren eine unmittelbare Kartierung z.B. emotionaler Befindlichkeiten, während sich die kartierenden Personen (in diesem Fall Radfahrer*innen) im Raum bewegen. So werden z.B. kollektive Mental-Maps von Unsicherheitsorten und -räumen erstellt, die dann wiederum als Planungsgrundlage verwendet werden können. Kremer und Walker erarbeiten Methoden der kritischen Analyse von großen, raumbezogenen Datensätzen. Anhand von räumlichen Daten über die COVID-19-Epidemie in Brasilien zeichnen sie nach, wie eine systematische Verknüpfung von computergestützter Datenauswertung und einer kritischen Interpretation durch die Forschenden funktionieren kann.

Der Sammelband setzt also seinen Fokus sehr stark auf das „How-to“ des Kritischen Kartierens. Dementsprechend ist auch sehr positiv hervorzuheben, dass viele Beiträge sehr nützliche Handlungsanweisungen bzw. praktische Schritte beinhalten, so dass sie tatsächlich als Inspiration und „Kochrezept“ für eigene Projekte dienen können. Angesichts der großen Bandbreite von verschiedenen Ansätzen können damit Nutzer*innen aus sehr unterschiedlichen Bereichen (Politischer Aktivismus, Schule und universitäre Lehre, Planung etc.) angesprochen werden.

Die Abgrenzung dessen, was noch zum Kritischen Kartieren gezählt wird, kann dabei Geschmacksache sein. Hier wird sie sehr weit ausgelegt und umfasst auch Praktiken, die m. E. passender als Visualisieren, Beschreiben oder Erzählen bezeichnet werden, da bei ihnen der konkrete Bezug zur Räumlichkeit der kartierten Phänomene nicht im Mittelpunkt steht. Und wie bei allen kritischen Ansätzen ist immer der spezifische Blickwinkel, d.h. die moralische Legitimität der vertretenen Position, ein unmittelbarer Bestandteil der Analyse. Denn natürlich können die hier dargestellten Ansätze auch von anderen Stimmen des politischen Diskurses genutzt werden: Auch ein Autoclub könnte z.B. eine „kritische“ Staukartierung durchführen, um zu zeigen, wie schlecht ausgebaut die Straßen sind. Selbsternannte „Patriot*innen“ könnten kartieren, in welchen Räumen sie sich kulturell nicht mehr „zu Hause“ fühlen. Kritisches Kartieren begibt sich bewusst in das politische Handgemenge, bezieht Stellung und reflektiert bzw. akzeptiert seine eigene Positionalität. Insofern kann es ein machtvolles Instrument sein, die eigene Umwelt zu erfahren und die eigene Stimme zu erheben. Was diese Stimme dann letztendlich zu sagen hat und welche Position sie im politischen Diskurs einnimmt, bleibt dabei allerdings offen.

Haftungsausschluss

Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.

Literatur

Glasze, G.: Kritische Kartographie, Geogr. Z., 97, 181–191, 2008. 

kollektiv orangotango (Hrsg.): This is not an atlas. A global collection of counter-cartographies, Transcript, Bielefeld, 2019.