Articles | Volume 78, issue 4
https://doi.org/10.5194/gh-78-531-2023
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Standard article
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22 Nov 2023
Standard article |  | 22 Nov 2023

„We are making it on ourselves“ – Infrastrukturen der (Im)Mobilität in Bosnien und Herzegowina

Philipp Themann and Benjamin Etzold
Kurzfassung

Due to tightened controls at the Croatian border and pushbacks by border guards, ‚people on the move‘ are forced to stay in Bosnia and Herzegovina for a longer time. This article explores the infrastructures that refugees and other migrants use and maintain in canton Una-Sana and how they shape their movements and everyday lives. These ‚infrastructures of (im)mobility‘ fulfil a dual function: they structure mobility locally, along the Balkan route and across the EU's external border and enable life in (forced) immobility in the border space. To better understand these infrastructures, their physical, social and digital dimensions, and their patterns of (re)production need to be scrutinized. Building on central arguments of the mobility paradigm and critical migration studies, we argue that the (re)production and (re)configuration of infrastructures of (im)mobility is largely driven by highly unequal global mobility regimes and restrictive bordering practices, but that they can also become sites of autonomy and resistance against social marginalization, spatial exclusion and enforced immobilization.

1 Einleitung

I don't know what happened with us. The other borders are closed now. […] Here is no other place to living, where we can go. That's why we are making it on ourselves. To survive the night, the weather is now very freezing. (Flüchtender aus Pakistan, 28 Jahre)

Im Winter 2020/2021 rückten Migrationsbewegungen entlang der Balkanroute und die erzwungene Immobilisierung von Flüchtenden in Bosnien und Herzegowina mit dem Brand im Camp Lipa, das Nahe der kroatischen EU-Außengrenze in einer Bergregion betrieben wird, kurzfristig in den Blick der Öffentlichkeit. Nach dem verheerenden Brand bauten sich die Bewohner:innen selbst (provisorische) Unterkünfte, demonstrierten aber auch in den Ruinen des abgebrannten Camps vor internationaler Presse gegen die menschenunwürdigen Bedingungen vor Ort. Die Zerstörung materieller Unterbringungsinfrastrukturen, die prekären Lebensbedingungen für Migrant:innen in der Region und das Ausbleiben staatlicher Unterstützung hatten damit einen Akt des Widerstands und der Autonomie initiiert.

Praktiken und Bedingungen der (Im)Mobilität, des ‚in-Bewegung-Seins‘ oder des ‚Stillstandes‘ an einem Ort, sind unmittelbar mit physischen Infrastrukturen wie Unterkünften und anderen Aufenthaltsorten, Transportnetzwerken und -mitteln, oder auch mit Grenzsicherungsanlagen verflochten. Über diese materiellen Grundlagen, Mittel und Modi des Reisens und des Transports werden zudem politische und gesellschaftliche Diskurse um grenzüberschreitende Bewegungen vermittelt und verhandelt, wie Walters (2015) in einem wegweisenden Beitrag zum Konzept der „Viapolitics“ und dem Zusammenhang von Mobilität, Transportmitteln und Migrationspolitik aufzeigt. Infrastrukturen sind dadurch unauflöslich mit „Geometrien der Macht“ (Massey, 2005) verwoben. Sie sind nicht nur Mittel und Motor der ungleichen Verteilung von (Zugangs)Rechten und der Teilhabe an Mobilität, sondern bringen auch verschiedene Kategorien von (im)mobilen Menschen hervor (Lin et al., 2017:168). Eine kritische Migrationsforschung sollte, so unser zentrales Argument, den Infrastrukturen der (Im)Mobilität mehr Aufmerksamkeit schenken. Es gilt dabei aber auch die physischen, sozialen und digitalen Dimensionen von Infrastrukturen zu unterscheiden, um so letztlich besser zu verstehen, wie Praktiken der (Im)Mobilität durch Infrastrukturen geprägt, gelenkt und kontrolliert werden.

Wie wirken sich unterschiedliche Dimensionen von Infrastrukturen der (Im)Mobilität auf die Bewegung bzw. den Stillstand von Migrant:innen nach, in und durch Europa aus? Um diese Frage zu beantworten, fokussiert unser Beitrag auf die sogenannte Balkanroute und betrachtet wie sich in Bosnien und Herzegowina unter dem Einfluss des europäischen Migrations- und Grenzregimes in den letzten zehn Jahren ganz spezifische Infrastrukturen der (Im)Mobilität entwickelt haben. Im Zuge des „langen Sommers der Migration“ im Jahr 2015 (Hess et al., 2017) wurde die Mobilität entlang der Balkanroute vielfach öffentlich diskutiert und auch wissenschaftlich untersucht (z. B. Speer, 2017). Doch was ist danach passiert? Nach der politisch deklarierten Schließung der Balkanroute durch verschärfte Grenzsicherung entlang der griechisch-mazedonischen Grenze und dem sogenannten EU-Türkei-Deal im April 2016 verringerten sich die Migrationsbewegungen von Menschen aus asiatischen und afrikanischen Ländern auf dem Westbalkan. Dies führte jedoch nicht dazu, dass die Fluchtbewegungen aufhörten. Vielmehr vervielfältigten sich die Wege durch die Region. Andere Länder, Grenzübergänge und Knotenpunkte rückten in den Fokus.

Der Kanton Una-Sana im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina wurde nun zum Ausgangspunkt für die Bewegungen von Migrant:innen, die über Kroatien weiter nach Mitteleuropa gelangen wollten. Durch verschärfte Kontrollen der kroatischen Grenze – hier die Außengrenze der Europäischen Union – und gewaltsame wie rechtswidrige Rückführungen (Pushbacks) durch kroatische Grenzschützer:innen werden Migrant:innen hier zu längeren Aufenthalten gezwungen. Una-Sana wurde so zu einem Raum der Immobilität, der maßgeblich durch das europäische Migrations- und Grenzregime strukturiert wird. Es sind vor Ort Infrastrukturen entstanden, die sowohl eine Weitermigration in die EU als auch das Überleben in der erzwungenen Immobilität gewährleisten (sollen). Zu den physischen Dimensionen der Infrastrukturen der (Im)Mobilität gehören zentrale, staatlich anerkannte Unterbringungseinrichtungen wie das Camp Lipa, dezentral verteilte Solidargemeinschaften1 in leerstehenden Häusern und Industriehallen (sog. Squats), Jungle-Camps im bewaldeten Umland der Städte und wenige private Häuser der bosnischen Zivilgesellschaft. Diese materiellen Infrastrukturen stehen miteinander in Verbindung und sind in ein translokales soziales Netzwerk eingebettet. Dabei spielen der Informationsaustausch über digitale Medien und Finanztransaktionen eine wichtige Rolle, da sie dazu genutzt werden, die informellen Unterbringungsinfrastrukturen als Transitorte aufrecht und die Balkanroute letztlich offen zu halten.

Auf Grundlage eigener empirischer Forschung in Bosnien und Herzegowina betrachten wir in unserem Beitrag das Zusammenspiel von Praktiken der (Im)Mobilität und verschiedene Dimensionen von Infrastrukturen im europäischen Grenzraum. Wir stellen zunächst zentrale Perspektiven der mobility studies auf Infrastrukturen vor. Daraufhin beschreiben wir die Infrastrukturen der (Im)Mobilität im Kanton Una-Sana und legen dar, wie sie die (Im)Mobilität von Migrant:innen strukturieren. Darüber hinaus diskutieren wir, inwiefern die Infrastrukturen der (Im)Mobilität selbst zu Zonen der (staatlichen) Regulation beziehungsweise als Ausdruck der Autonomie von Migration verstanden werden können. Denn die (informellen) Camps in Una-Sana sind nicht nur durch Aushandlungsprozesse und Widerstandsformen gekennzeichnet, sondern sind umkämpfte Räume, in denen die Logik der europäischen und nationalstaatlichen Grenz- und Migrationspolitik grundsätzlich infrage gestellt wird.

2 Infrastrukturen der (Im)Mobilität aus der Perspektive der mobility studies

Migration ist in ihren sozio-materiellen Erscheinungsformen auf engste mit Infrastrukturen verwoben. Seit dem infrastructural turn in den Sozialwissenschaften thematisieren zahlreiche Wissenschaftler:innen dieses Wechselverhältnis (Xiang und Lindquist, 2014; Lin et al., 2017; Müller und Tuitjer, 2023). Aus der Perspektive der mobility studies können Infrastrukturen als sozio-technische Grundlage gesehen werden, die Mobilität ermöglichen oder Immobilität auslösen (u. a. Hannam et al., 2006; Lin et al., 2017). Praktiken der (Im)Mobilität können Hannam et al. (2006:3) zufolge ohne das Verständnis der „räumlichen, infrastrukturellen und institutionellen Verankerungen“ nicht angemessen erklärt werden. Infrastrukturen können wir damit auch als Elemente migrantischer Handlungsmacht sowie als Momente der Regulation und Kontrolle von Migration betrachten, die kontinuierlich (re)organisiert und (ko)produziert werden (Scheel, 2017).

In den mobility studies sind Mobilität und Immobilität keine absoluten Kategorien. Vielmehr steht das wechselseitige Verhältnis zwischen Mobilität und Immobilität im Mittelpunkt (Schewel, 2019). Mobilität – sowohl von Menschen als auch von materiellen Dingen, Informationen und Kapital – ist demnach nur möglich, wenn diese auch räumlich, institutionell – oder aus der Perspektive dieses Themenhefts – infrastrukturell verankert sind (Hannam et al., 2006). Diese Verankerung (moorings) oder Knotenpunkte können unterschiedlichster Beschaffenheit sein (z. B. digitale Plattformen, Straßen, Garagen, Bahnhöfe, Flughäfen, Docks, Fabriken). Sie organisieren, formen, leiten oder verhindern Mobilität (Sheller und Urry, 2006). Lin et al. (2017:167) bemerken zutreffend, dass „moving is umbilically tied to critical moments of fixity that organise, sort and order otherwise amorphous flows, […] physical and organisational architectures [are] responsible for structuring, mobilising and giving meaning to movement […]. In fact, infrastructures can [be] understood as socio-technical platforms for mobility“. Angelehnt an die mobility studies verstehen wir unter Infrastrukturen der (Im)Mobilität im Folgenden daher insbesondere materielle Infrastrukturen, wie (informelle) Camps, Transportmittel oder Grenzsicherungsanlagen, deren Funktionsweisen sowohl physische, soziale und digitale Dimensionen inne wohnen, und die so die sozio-technische Grundlage für Mobilität einerseits oder Immobilität anderseits darstellen.

2.1 Physische, soziale und digitale Dimensionen von Infrastrukturen der (Im)Mobilität

Die Funktionsweisen und die Mehrdimensionalität von Infrastrukturen der (Im)Mobilität wurden in der (geographischen) Migrations- und Fluchtforschung noch nicht ausreichend betrachtet und verstanden (Gill et al., 2011). Und dennoch prägen die Wahrnehmung von physischen Transport-, Versorgungs-, Unterbringungs- und Grenzschutzinfrastrukturen sowie deren mediale Repräsentation den politischen und gesellschaftlichen Diskurs um Flucht und Migration maßgeblich (Etzold, 2019:40 ff.). Sowohl die genauen Migrationsverläufe, als auch unterschiedliche Transportmodi sowie das körperliche und psychische Erleben von Fluchtmobilität werden wesentlich durch Infrastrukturen beeinflusst. So machen beispielsweise die auf einer Flucht genutzten Transportmittel (z. B. lange Fußmärsche, Überfahrten mit einem Schlauchboot, versteckte Fahrten in LKWs) einen prägenden und symbolträchtigen Teil individueller Fluchterfahrung aus (vgl. z. B. BenEzer und Zetter, 2015:302; Lyytinen, 2017:502). In wissenschaftlichen Beiträgen werden Transport-, Versorgungs- und Unterbringungsinfrastrukturen zwar thematisiert, aber nur sehr selten ins Zentrum der Analyse gerückt oder umfassend konzeptualisiert (Etzold, 2019:40).

Walters' (2015) Konzept der „Viapolitics“ – einer Politik der Bewegung und zugleich der Kontrolle der Bewegung – bietet für diese Forschungslücke relevante Anknüpfungspunkte, denn der Zugang zu physischen Infrastrukturen ist – wie unser Beitrag zeigt – essenziell, um die Beziehung zwischen Mobilität und Immobilisierung durch Grenzsicherung und Migrationskontrolle nachzuvollziehen. Orte, an denen physische Infrastrukturen eingerichtet werden, erscheinen unter dieser Perspektive als hochdynamische Zonen oder Korridore, an denen um Mobilitätsgerechtigkeit gerungen wird, und bilden damit ebenfalls Ausgangspunkte für politischen Aktivismus sowie freiwillige humanitäre Arbeit.

Infrastrukturen der (Im)Mobilität bestehen jedoch nicht nur aus ihrem materiellen Kern, sondern sind ebenfalls durch soziale und digitale Dimensionen geformt. (Im)Mobilität in Grenzräumen wird nicht nur durch Grenzschutz, Transport- und Unterbringungsinfrastrukturen, sondern ganz wesentlich durch Handlungen und Austauschbeziehungen der Migrant:innen, durch die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen, ehrenamtlichen Helfer:innen und informellen Unterstützungsnetzwerken, und vielerorts auch durch „migrationsindustrielle Dienstleistungen“2 gestaltet. Die soziale Dimension von Infrastrukturen der (Im)Mobilität manifestiert sich dabei in den sozialen Praktiken und Netzwerken, die dazu genutzt werden, die Kommunikation mit freiwilligen Helfer:innen, die Einbindung in lokale Solidargemeinschaften oder die Unterstützung durch Familienmitglieder in anderen Ländern zu gewährleisten und sind oftmals die entscheidenden Ressourcen, die Mobilität oder das Überleben in der Immobilität erst ermöglichen (vgl. u. a. Simone, 2004; Sidney, 2019, Christ et al., 2021). Darüber hinaus werden dadurch die Handlungs- und Gestaltungsmacht sowie die gesellschaftliche Einbettung von Migrant:innen vor Ort und in transnationalen Netzwerken betont.

Infrastrukturen der (Im)Mobilität sind auch wesentlich durch digitale Medien ausgestaltet. In der Forschung wuchs in den letzten Jahren das Interesse an (sozialen) Medien und Informations- und Kommunikationstechnologien und welche Rolle sie für ‚Menschen in Bewegung‘ spielen (Etzold, 2019). Digitale Infrastrukturen werden genutzt, um Kontakt zu Familienangehörigen aufrechtzuerhalten, mobilitätsrelevante Informationen (z. B. zu Zielländern oder Fluchtrouten) zu recherchieren, mit Schleuser:innen zu kommunizieren, oder Notrufe auf sowie Lebenszeichen nach besonders riskanten Fluchtetappen abzusetzen. Entsprechende Apps auf Handys dienen zudem der räumlichen Orientierung und ermöglichen auch finanzielle Transaktionen (Richter, 2018). Staatliche Institutionen und Akteure der Grenzsicherung bedienen sich ebenfalls digitalen Formen der Kontrolle und Überwachung oder setzen social media zur gezielten Verbreitung von Informationen ein. Transit- und Grenzräume sind so zu „techno-borderscapes“ geworden, da sie Räume der virtuellen Begegnungen für verschiedenste Akteurskonstellationen verkörpern, die auf der Nutzung mobiler digitaler Technologien basieren (Godin und Donà, 2020).

2.2 Die Autonomie der Migration und widerständige (Re)Produktionen von Infrastrukturen der (Im)Mobilität

Infrastrukturen der (Im)Mobilität werden nicht nur durch staatliche, privatwirtschaftliche oder humanitäre Akteure gestellt und ausgestaltet. Vielmehr ist die Errichtung und Betrieb von Infrastrukturen der (Im)Mobilität durch Migrant:innen selbst ein wesentlicher Ausdruck der „Autonomie der Migration“ (Hess und Tsianos, 2010; Tsianos und Karakayali, 2010) und damit auch ein Akt des Widerstands gegen staatliche Versuche der Immobilisierung von Menschen in Bewegung. Autonomie wird in diesem Sinne nicht als reine Selbstbestimmung oder vollkommene Unabhängigkeit gedacht, sondern eher als eine „unauflösbare Konfliktbeziehung zwischen Migration und den Versuchen ihrer Kontrolle […], die durch migrantische Praktiken der Aneignung im Grenzregime initiiert wird“ (Scheel, 2017:25). Migrantische Praktiken und das europäische Grenz- und Migrationsregime – und ihre jeweiligen informellen und formellen Infrastrukturen – stehen somit in einem konstitutiven Verhältnis zueinander. Die Autonomie der Migration wird durch Grenzschutzinfrastrukturen und Kontrollpraktiken maßgeblich beeinflusst beziehungsweise erst hervorgerufen (Scheel, 2017). Insofern sind die in diesem Beitrag thematisierten Infrastrukturen, wie staatlich organisierte Camps oder von Migrant:innen im Grenzraum eigenständig errichtete Unterkünfte (Squats, Jungle-Camps) ein materialisierter Ausdruck tiefgreifender Ungleichheit in globalen Migrationsregimen (Spijkerboer, 2018), welches einigen Bevölkerungsgruppen das Recht auf Mobilität abspricht und ihre Mobilität kriminalisiert. Die Infrastrukturen der (Im)Mobilität, die wie in unserem Beispiel die migrantische (Im)Mobilität entlang der Balkanroute wesentlich strukturieren, entstehen aus der Kombination von „gewaltsamer Untätigkeit“ und „aktiver Disziplinierung“ migrantischer Praxis durch staatliche Akteure (vgl. Aradau und Tazzioli, 2019). Doch sie sind nicht statisch, sondern werden kontinuierlich durch Migrant:innen herausgefordert, umgedeutet und umgestaltet – sprich kontinuierlich reproduziert.

3 Erhebungs- und Analysemethoden

Der empirische Teil des Beitrags basiert auf zwei mehrwöchigen Forschungsaufenthalten in Bosnien und Herzegowina im Winter 2020/2021 (Dezember/Januar) und 2021/2022 (Dezember/Januar), bei dem verschiedene qualitative und (auto)ethnographische Forschungsmethoden (z. B. Beobachtungen, Interviews, Selbstdokumentation) zum Einsatz kamen sowie 23 semi-strukturierte Interviews auf Englisch geführt wurden. Gegenstand der Interviews war beispielsweise die individuelle Wahrnehmung unterschiedlicher Migrationsregime, die auf dem Weg in die Europäische Union durchlaufen wurden, Mobilitätspraktiken, individuelle Bewältigungsstrategien für (Un)Sicherheit und (Im)Mobilität vor Ort oder die Einbindung in translokale Netzwerke. Ein Großteil der Befragungen wurde mit männlichen Flüchtenden aus Pakistan, Afghanistan und Kaschmir im Alter zwischen 19 und 32 Jahren geführt. Die Forschungsergebnisse beziehen sich dementsprechend hauptsächlich auf die Sichtweise und Handlungsspielräume dieser Personengruppe. Die Auswertung der Textkorpora erfolgte anhand einer computergestützten thematischen Kodierung mit dem Programm MAXQDA.

Im Untersuchungsraum in Bosnien und Herzegowina befinden sich Flüchtende in prekären, marginalisierenden, kriminalisierenden und teilweise lebensbedrohlichen Lebensumständen. Als weiße und männliche Akademiker aus Deutschland Forschungsansprüche an diese vulnerable Personengruppe zu stellen, scheint fast vermessen zu sein, ist aber auf jeden Fall ethisch, emotional und politisch überaus heikel und diskussionswürdig. In den ersten Tagen des Aufenthaltes zeigte sich jedoch, dass ein Großteil der Befragten aufrichtig erfreut und interessiert daran war, über ihre Fluchtgeschichten und ihr individuelles Befinden sprechen zu können. Dies könnte auch daran gelegen haben, dass die herkömmlichen Geber- und Nehmerstrukturen (z. B. zwischen freiwilligen Helfer:innen und Schutzsuchenden) auf diese Weise wenigstens partiell aufgebrochen wurden. In diesem Fall war es der Forschende, dem etwas zur Verfügung gestellt wurde, der sich etwas erhofft und dem ein Einblick gewährt wurde – oder auch nicht. Die Intensität der Interaktion wurde durch die Migrant:innen bestimmt. Dies erforderte auch, die Schutzräume von Flüchtenden als solche anzuerkennen und diese niemals ungefragt zu betreten.

Neben dem Aufenthalt in den (in)formellen Schutzräumen und dem Zugang zu deren Bewohner:innen stellte die Auswahl der Interviewpartner:innen eine weitere Herausforderung dar. Zumeist gab es eine Person, die eine Art „Vorsprecherfunktion“ für die restlichen Mitglieder der besuchten Solidargemeinschaften einnahm. In einigen Fällen kamen diese Personen beim Erstkontakt auch direkt auf den Forschenden zu und suchten das Gespräch. In den formellen Unterbringungsinfrastrukturen wirkten die Aussagen dieser Personen sehr ähnlich und zum Teil auswendig gelernt. Aufgrund der prominenten Rolle dieser Personen war es in manchen Fällen schwierig, mit anderen Mitgliedern der Solidargemeinschaften ins Gespräch zu kommen, da sich diese zunächst im Hintergrund hielten und den „Gruppenvorsteher“ in ihrem Namen sprechen ließen. Um einen möglichst umfassenden Eindruck der Solidargemeinschaften zu erhalten und Vertrauen aufzubauen, wurden einzelne Solidargemeinschaften über mehrere Tage hinweg immer wieder besucht.

Dennoch bleiben viele Informationen bruchstückhaft und sind schwer verifizierbar. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass manche Antworten auf unsere Fragen auch ‚sozial erwünschte Aussagen‘, Halbwahrheiten oder absichtlich falsche Informationen waren (vgl. Minca, 2022:4) – ein Umstand, der die Entscheidungsfreiheit und agency der Interviewteilnehmenden betont und unseres Erachtens ein wichtiger sowie legitimer und anzuerkennender Bestandteil von qualitativen Forschungsmethoden in den beschriebenen prekären Kontexten darstellt.

4 Una-Sana – ein umkämpfter Fluchtraum der (Im)Mobilität entlang der Balkanroute

Im Folgenden werden zunächst die Formalisierung und sukzessive Schließung der Balkanroute im Jahr 2016 zusammengefasst. Darauffolgend werden staatlich organisierte (Ketten)Pushbacks thematisiert und gezeigt, wie diese von Flüchtenden wahrgenommen werden. Wir stellen die internen Strukturen der Transitorte im Fluchtraum Una-Sana vor und diskutieren, welche (Im)Mobilitätspraktiken dort umgesetzt werden.

4.1 Die Formalisierung der Balkanroute und Bosnien und Herzegowina als neuer Knotenpunkt

Obwohl grenzüberschreitende Mobilität in Südosteuropa kein neues Phänomen darstellt, rückte sie erst während des sogenannten „langen Sommers der Migration“ im Jahr 2015 (Hess et al., 2017) in den Blick der Öffentlichkeit. In diesem Jahr wurde die sogenannte Balkanroute von mehreren Hunderttausend Flüchtenden frequentiert, die auf dem Weg in die Europäische Union waren.

Bei den Dynamiken der Flucht entlang der Balkanroute ab 2015 spielte die Infrastruktur eine zentrale Rolle. So betont Speer (2017) in seiner Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der Balkanroute, dass diese Dynamik wesentlich durch die Verknüpfung unterschiedlichster Transport- und Versorgungsinfrastrukturen in den Staaten des Westbalkan gekennzeichnet war, welche eingerichtet wurden, um mehrere Hunderttausend Flüchtende in kürzester Zeit in die EU zu transportieren (Etzold, 2019:42).

Die Entscheidung der EU-Mitgliedstaaten ihre Grenzen im Winter 2015/2016 wieder systematisch zu kontrollieren und einzelne Grenzübergänge sukzessive zu schließen, hatte große Auswirkungen auf die Transport- und Versorgungsinfrastruktur entlang der Balkanroute. Transitorte, die Flüchtende zuvor in wenigen Tagen oder Stunden durchreisten, wurden zu Zonen, an denen Flüchtende längere Aufenthalte verbringen mussten und immobilisiert wurden. Auf der Suche nach neuen Wegen in die EU verschob sich die Balkanroute immer wieder, was sich auch an der ab 2018 stark gestiegenen Anzahl der ankommenden Migrant:innen in Bosnien und Herzegowina zeigte (BVMN, 2020).

Wurden 2017 noch 755 einreisende Migrant:innen in dem Land registriert, so waren es 2018 knapp 24 000, und 2019 dann über 29 000 Personen. Daraufhin sank die Zahl der Ankommenden wieder und lag 2020 und 2021 um die 16 000 Migrant:innen im Jahr (siehe Abb. 1). Zum Zeitpunkt unserer Forschung wurde die Anzahl der in Bosnien und Herzegowina registrierten Migrant:innen mit 10 700 (Dezember 2020) beziehungsweise 2300 Personen (Dezember 2021) angegeben.3 Bosnien und Herzegowina war nie das Ziel dieser Migrant:innen, doch die verstärkten Kontrollen an der Grenze zu Kroatien und die Pushbacks durch Grenzschützer:innen führten unweigerlich dazu, dass sie im Land, und insbesondere im Kanton Una-Sana, zu lang andauernder und unfreiwilliger Immobilität gezwungen wurden. Dementsprechend nutzten und veränderten sie die bestehende materielle Infrastruktur; es entstanden aber auch neue formelle und informelle Infrastrukturen, um sowohl eine weitere Mobilität zu ermöglichen als auch die immobilisierten Migrant:innen zu versorgen. Abbildung 1 verdeutlicht zudem die hohe Dynamik des Grenzraums zwischen Kroatien, Bosnien und Serbien. Die Anzahl der ankommenden Migrant:innen ist dabei maßgeblich durch Grenzschutzinfrastrukturen, Pushbacks und auch durch jahreszeitliche Schwankungen beeinflusst (s. Kap. 4.2).

https://gh.copernicus.org/articles/78/531/2023/gh-78-531-2023-f01

Abb. 1Anzahl Flüchtende in Bosnien und Herzegowina, Serbien und Kroatien im Zeitraum zwischen 2017 und 2021 (Quelle: IOM, 2021a).

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4.2 Grenzüberschreitende Mobilität und Pushbacks nach Bosnien und Herzegowina

In Bosnien und Herzegowinas westlichem Kanton Una-Sana entstanden seit 2018 verschiedene Formationen von formellen und informellen Unterbringungsinfrastrukturen, die sowohl eine Weitermigration in die EU als auch das Überleben in der erzwungenen Immobilität gewährleisten (sollen). Diese sind in ein Netzwerk aus weiteren miteinander verbundenen Knotenpunkten eingebettet. Hierzu zählt innerhalb des Landes insbesondere das zentral gelegene Sarajevo und Tuzla im Nordosten. Beides sind zentrale Transitorte für Migrant:innen, die aus Serbien oder aus Montenegro weiter in die EU gelangen möchten. Im Kanton Una-Sana sind das (1) formelle Camp Lipa sowie die Städte (2) Bihać und (3) Velika Kladuša die wichtigsten Knotenpunkte der (Im)Mobilität (s. Abb. 2). Die genannten Knotenpunkte sind dabei in ein transnationales Netzwerk aus komplexen Korridoren der Mobilität eingebunden, die sich für Migrant:innen aus Afghanistan und Pakistan vom Iran über die Türkei und Griechenland bis auf die Westbalkanstaaten und darüber hinaus weit in Zielstaaten wie Italien und Deutschland erstrecken (Minca et al., 2018:56).

https://gh.copernicus.org/articles/78/531/2023/gh-78-531-2023-f02

Abb. 2Knotenpunkte und Transiträume grenzüberschreitender Mobilität (eigene Darstellung).

Die Weiterreise zwischen verschiedenen Knotenpunkten innerhalb der entsprechenden Ländergrenzen erfolgt mit Bussen, Zügen oder privaten PKWs, die als ‚informelle Taxen‘ genutzt werden. Diese Transportinfrastrukturen können aber nur dann benutzt werden, wenn ausreichend finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen und das Angebot auch vorliegt. Ist dies nicht der Fall, sind die Migrant:innen zu Fuß unterwegs.

Grenzüberschreitende Bewegung findet jedoch nicht nur in Richtung der EU statt, sondern ebenfalls in die entgegengesetzte südliche Richtung. So berichteten einige Befragte beispielsweise davon, dass einige Schutzsuchende aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Bosnien und Herzegowina zurück nach Serbien reisen, um dort in formalisierten Camps den Winter zu überbrücken. Zudem nahmen Flüchtende, zum Zeitpunkt unsere Forschung, Serbiens Migrationspolitik als weniger repressiv wahr (dazu beispielsweise auch Bobic und Santic, 2019; Umek et al., 2019).

Während Migrant:innen innerhalb und zwischen den Balkanstaaten zumeist (informelle) Transportinfrastrukturen nutzen, erfolgt die klandestine Migration innerhalb der EU (hier ab Kroatien durch Slowenien nach Italien oder Österreich) nach der Grenzüberschreitung größtenteils zu Fuß durch abgelegene Wald- und Bergregionen (Hameršak und Pleše, 2021). Für den Grenzübertritt nach Kroatien bezahlen die meisten Migrant:innen Schmuggler:innen, lokale Anwohner:innen oder ortskundige Migrant:innen. In der Regel nehmen Flüchtende solche migrationsindustriellen Dienstleistungen immer wieder in Anspruch, bis sie erfolgreich oder ihre finanziellen Ressourcen aufgebraucht sind. Viele Flüchtende organisieren ihren Grenzübertritt in die EU daher auch eigenverantwortlich und nutzen ihre mitgeführten Smartphones, um durch den Grenzraum zu navigieren:

I tried to cross the border but was deported. I went again and was deported again. And again. Now I have no money for smugglers anymore. […] That's why I go by myself. So many tries, but I have bad luck. (Flüchtender aus Afghanistan, 20 Jahre)

Most people go by tracking (the path) with their cell phone. If a person has money, he takes an agent. (Flüchtender aus Pakistan, 26 Jahre)

An der EU-Außengrenze in Kroatien werden die meisten Migrant:innen allerdings aufgriffen und festgenommen. Die hohe ‚Erfolgsquote‘ der Grenzbeamt:innen lässt sich insbesondere durch neueste Grenzschutztechnologie erklären, die in den letzten Jahren installiert und weitestgehend durch EU-Gelder finanziert wurde (Molnar, 2019). Die Installation dieser Grenzschutzinfrastruktur wird dabei durch Fortbildungsmaßnahmen von Frontex für kroatische Grenzbeamt:innen begleitet, die unter anderem auch von der deutschen Bundespolizei durchgeführt werden (Deutscher Bundestag, 2020:2 ff.). Bei der Verhaftung an der EU-Außengrenze sind Flüchtende – sowie in vielen vorherigen und nachfolgenden Etappen ihrer Flucht – Gewalt und schwerwiegenden körperlichen Misshandlungen ausgesetzt (Lorenz und Etzold, 2022). Darüber hinaus wird ihr persönliches Eigentum wie Kleidungstücke oder Smartphones konfisziert und vor Ort sowie im Beisein der Betroffenen verbrannt:

Two times I go to Croatia and they catch everything. They are push back us. The Croatian police beat us rudely. (…). They snatch cellphone and money, they remove your cloth and shoes and even your socks. My friend walked 75 Kilometer by foot without shoes and without socks. He came from Croatia. They brought him illegal to Velica Kladusa [Grenzstadt in Bosnien und Herzegowina] und he came here (Camp Lipa) 75 Kilometers without shoes and socks on the road. (Flüchtender aus Pakistan, 26 Jahre)

Three or four policemen fight with one refugee, they beat, kick, use sticks, […]. When I see, that they going to beat me, I close the face [Hände vor das Gesicht halten] and then they come with punches and kicks, and sticks. They hit everywhere. […] My friend has broken his arm. Another broke his nose. My cousin […], maybe one month ago, he was so much punched, his nose is broken. After that he was not able to open his eyes for maybe ten hours. (Flüchtender aus Pakistan, 19 Jahre)

[…] they take everything, bag, etc. They have a hole and they put everything in it and lit a fire. Shoes, etc. I saw it. The hole is near the deportation area. (Flüchtender aus Afghanistan, 28 Jahre)

Diese gewaltsamen Rückführungen (sogenannte Pushbacks) sind staatlich organisiert und widersprechen damit der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der internationalen Anti-Folter-Konvention (CAT), der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und den rechtlich bindenden Aufnahme- und Verfahrensrichtlinien der EU (RL 2013/33/EU, 2013, RL/2013/32EU, 2013). Grundlage ist das Rückführungsverbot (Prinzip des non-refoulement), nach dem es Staaten nicht gestattet ist, Schutzsuchende ohne die Prüfung eines Asylgesuchs zurückzuführen. Insbesondere auch deshalb, weil zunächst sichergestellt werden muss, dass betroffene Personen nach ihrer Rückführung in ein anderes Land nicht weiterhin durch Verfolgung oder die Einschränkung ihrer Freiheitsrechte bedroht sind. Dennoch sind diese Pushbacks an den europäischen Außengrenzen an der Tagesordnung und somit ein zentrales strategisches Element des europäischen Grenzregimes (Aulsebrook et al., 2021).

Migrant:innen sind allerdings nicht nur im unmittelbaren kroatischen Grenzgebiet von diesen gewalttätigen und illegalen Pushbacks betroffen. Befragte berichteten davon, aus dem kroatischen Inland, aus Slowenien und sogar aus Italien nach Bosnien und Herzegowina abgeschoben worden zu sein. Italienische und slowenische Grenzbeamt:innen übergeben aufgegriffene Personen an border crossing points an kroatische Grenzbeamt:innen, so dass Schutzsuchende in wenigen Stunden bis an die Außengrenze der EU transportiert und dort abgeschoben werden. Die Gefahr solcher Ketten-Pushbacks besteht innerhalb eines etwa 200 km breiten transnationalen Korridors, der vier Länder umfasst (Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Slowenien, Italien). Nicht nur die Migrant:innen bedienen sich einer informellen Transport-, Unterbringungs- und Versorgungsinfrastruktur um diesen Grenzraum zu durchqueren, auch staatliche Akteure nutzen informelle Knotenpunkte und von der EU-finanzierte Transport- und Kommunikationsinfrastruktur um ‚effizient‘, wenn auch illegal, abschieben zu können.

Das Border Violence Monitoring Network, ein Netzwerk von Aktivist:innen, dokumentiert nicht nur Akte der Gewalt gegenüber Migrant:innen im europäischen Grenzraum, sondern sammelt auch Daten zu den staatlich organisierten Pushbacks4. Von 2018 bis 2021 wurden 8346 Personen (Mehrfachnennung derselben Personen möglich) im Rahmen von (Ketten)Pushbacks nach Bosnien und Herzegowina abgeschoben (s. Abb. 3) – die Dunkelziffer der gewaltsamen Rückführungen ist weitaus höher.5

https://gh.copernicus.org/articles/78/531/2023/gh-78-531-2023-f03

Abb. 3Pushbacks nach Bosnien und Herzegowina 2018–2021 (BVMN, 2022, eigene Darstellung)

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4.3 Immobilität und Hypermobilität innerhalb des Kantons Una-Sana

Die Migrant:innen bewegen sich nicht nur unidirektional entlang der Balkanroute – z. T. freiwillig in die eine Richtung, z. T. erzwungenermaßen in die andere Richtung – in Bosnien und Herzegowina und im Kanton Una-Sana sind sie mobil, wandern zirkulär und ‚verankern‘ sich immer wieder neu an unterschiedlichen Knotenpunkten ihrer Flucht. Auf unseren Forschungsaufenthalten haben wir dabei mit Flüchtenden gesprochen, die sich in wenigen Wochen oder Monaten über mehrere Fluchträume hinweg bewegt haben. Auch nach unseren Forschungsaufenthalten auf dem Balkan erhielten wir von einigen Interviewpartner:innen nach wenigen Wochen Nachrichten aus West- oder Nordeuropa. Flüchtende, deren finanzielle Ressourcen aufgebraucht, deren Netzwerke zusammengebrochen waren oder die nach eigener Aussage einfach „kein Glück“ hatten, werden hingegen für mehrere Monate mitunter sogar für Jahre in unterschiedlichen Transitorten immobilisiert. Die Transitorte sind dabei selbst ständig in Bewegung, denn die Politiken und Praktiken der Migrationskontrolle, die Möglichkeiten Unterstützung zu erhalten und die Bedingungen der (Im)Mobilität verändern sich laufend. In der Peripherie der europäischen Außengrenzen müssen Migrant:innen dabei immer wieder erzwungenermaßen durch diese Transitorte navigieren und werden dadurch gleichzeitig hypermobilisiert. Das heißt, sie sind zur Bewegung gezwungen oder werden in Bewegung gehalten, um neue geeignete Unterkünfte zu finden, ihre Weiterreise vorzubereiten oder sich nach der Räumung neue Verstecke vor der örtlichen Polizei zu suchen (s. u.).

Im öffentlichen Raum von Una-Sana sind Migrant:innen von Racial-Profiling-Strategien und Diskriminierung betroffen, beispielsweise werden sie von der Nutzung des ÖPNV oder des Fernverkehrs ausgeschlossen oder dürfen Supermärkte, Krankenhäuser oder Cafés nicht betreten. Squats und andere informelle Unterbringungsinfrastrukturen werden immer wieder geräumt und die Bewohner:innen in das abgelegene Camp Lipa transportiert. Es fehlt nicht nur an staatlicher Unterstützung für die Schutzsuchenden, sondern sogar die humanitäre Arbeit wird kriminalisiert. Dadurch entstand über die letzten Jahre ein Raum der permanenten Kontrolle, der bis in informelle Schutzräume hineinwirkt, und wesentlich zur Immobilisierung der Flüchtenden beiträgt:

Every day, every night we are afraid, maybe now police is coming, maybe now police comes and catches us. (…) we don't go outside. If police see that you live here, they just ask ‚stop, where are you going, do you have documents, anything?‘ We don't have nothing. (Flüchtender aus Pakistan, 31 Jahre)

Aufgrund dessen werden die Unterkünfte in der Regel nur für den unmittelbar bevorstehenden Grenzübertritt oder zur nächtlichen Beschaffung von Nahrungsmitteln verlassen. Wie bereits erwähnt, führen die beschriebenen Repressionsstrategien aber gleichzeitig auch zu unfreiwilliger Mobilität innerhalb der Region. Im folgenden Zitat wird eine Räumungsaktion der kantonalen Polizei in Bihac beschrieben. Nach den Räumungen der Squats und dem unfreiwilligen Transport zum offiziellen Camp Lipa versuchen viele unentdeckt – und innerhalb weniger Stunden – in die gleichen informellen Unterkünfte zurückzugelangen:

Today morning they caught all boys in the building and pushbacked us to Camp Lipa. Yes, we went back to Bihać. In Lipa is not a good situation. We are on the way back to Bihać, in one hour we will reach it. We all know the way, because we got experience […] we go through the forests, there is a little way we cross. (Anruf von einem Flüchtenden aus Kashmir, 26 Jahre)

Das kurze Zitat veranschaulicht auch, dass die Migrant:innen ein informelles und kognitiv gespeichertes Wegenetz nutzen, um sich trotz staatlicher Kontrolle und Repression im öffentlichen Raum bewegen zu können. Dieses inkorporierte Wissen der sicheren Wege und Orte ist ein wichtiges Element der informellen Transport- und Unterbringungsinfrastruktur, das innerhalb der migrantischen communities weitergegeben wird.

Im Kanton Una-Sana nutzen die Flüchtenden vielfältige Anpassungs- und Bewältigungsstrategien, um einerseits ‚voran‘ zu kommen und andererseits ‚vor Ort‘ zu überleben. Durch staatliche Kontrolle und Repression sind sie gleichzeitig aber auch zur Bewegung gezwungen, um zwischen unterschiedlichen Knotenpunkten in der Region ‚hypermobil‘ zu werden. Hypermobilität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Migrant:innen sich zwar ständig bewegen müssen – innerhalb der Orte, im Kanton Una-Sana, in Bosnien und Herzegowina und sogar innerhalb eines 600 km breiten transnationalen Korridor zwischen Serbien und Italien – aber dennoch nicht ‚vom Fleck‘ kommen. Die beschriebene Hypermobilisierung manifestiert sich demnach darin, dass Flüchtende dazu gezwungen sind, die Infrastrukturen der (Im)Mobilität eines Transitorts oder unterschiedlicher Knotenpunkte mehrmals zu frequentieren und sich immer wieder neu in ihnen zu verorten. Rydzewski (2020:93) formulierte es passend: „as long as there is another place to go, they will keep moving. The hyper mobility on the fringes of the EU brings to mind walking on the spot or turning around in circles“. Und dennoch kann diese Hypermobilität ebenfalls ein Ausdruck von Handlungsfähigkeit im Angesicht einer repressiven und menschenrechtsverachtenden Migrationspolitik sein. Die migrantische Hypermobilität ist durch die erwartungsvolle Ausrichtung auf die Zukunft charakterisiert und manifestiert sich in den unermüdlichen und zahlreichen Versuchen, über die europäischen Außengrenzen zu gelangen (vgl. Rydzewski, 2020:89).

4.4 (In)Formelle Camps und Squats als zentrale Infrastrukturen der (Im)Mobilität

Zum Zeitpunkt unserer Datenaufnahme versuchte die Regierung Bosnien und Herzegowinas in Sarajevo und die lokalen Behörden im Kanton Una-Sana unter anderem durch drei offizielle Camps6 die Mobilität von Schutzsuchenden in ihrem Zuständigkeitsbereich zu ordnen und – insofern möglich – zu reduzieren. Die Camps werden von der International Organization for Migration (IOM) betrieben und hauptsächlich von der EU finanziert (Benznek und Kurnik, 2020:46). Da die Aufnahmekapazität der überfüllten Camps in Una-Sana nicht ausreicht, hat sich in den letzten Jahren eine informelle und provisorische Unterbringungs- und Selbstversorgungsinfrastruktur entwickelt. Dazu zählen insbesondere leerstehende Häuser oder alte Fabrikhallen (sog. Squats) und selbstgebaute Camps im bewaldeten Umland der Städte (hier bezeichnet als Jungle7-Camps). Diese informellen Unterbringungsinfrastrukturen stehen in engen räumlichen Beziehungen. In einigen Fällen sind diese informellen Schutzräume in unmittelbarer Nähe zu (ehemaligen) institutionalisierten Camps. Neben den zahlreichen Squats und Jungle-Camps gibt es auch wenige Wohnhäuser der bosnischen Zivilgesellschaft, in denen Flüchtende versteckt werden. Die Bewohner:innen der informellen Unterbringungsinfrastrukturen sind der permanenten Gefahr ausgesetzt, von Polizeibeamt:innen willkürlich geräumt beziehungsweise aufgegriffen und trotz fehlender Aufnahmekapazität in weit entfernte Camps deportiert zu werden:

They [bosnische Polizeibeamt:innen] ride on us and catch us, sometimes they beat us and then […] they push us back to Camp Lipa. […] When IOM recognize that you don't have ID-Card [Bewohnerausweis] they told you: ‚Leave the Camp, go outside‘ in the midnight, then we have to walk 4 1/2 hours back in the city. (Flüchtender aus Afghanistan, 26 Jahre)

In den (informellen) Unterbringungsinfrastrukturen im Fluchtraum Una-Sana leben die Bewohner:innen unter höchst prekären Bedingungen. Zum Zeitpunkt der Datenaufnahmen führte die schlechte infrastrukturelle Ausstattung in Kombination mit den winterlichen Witterungsbedingungen zu einer hohen gesundheitlichen Belastung der Bewohner:innen, die sich nur bedingt selbst aus dieser Situation befreien können:

The situation is very bad here. The weather is freezing, we are homeless, we are helpless. The Bosnian Government totally failed to provide us shelter, food, or clothes. They are giving us nothing. And snow is falling outside here. Much of snow. (Flüchtender aus Afghanistan, 28 Jahre)

https://gh.copernicus.org/articles/78/531/2023/gh-78-531-2023-f04

Abb. 4Abgebranntes Großraumzelt mit Etagenbetten im weiterhin betriebenen Camp Lipa (eigene Aufnahme A, Winter 2020/2021), ausgebranntes Seniorenheim in der Stadtmitte von Bihać (eigene Aufnahme B, großes „Squat“ Old retirement house), ausgebranntes Wohnhaus (eigene Aufnahme C, kleines „Squat“ burned out house), Jungle-Camp: Woodland Slope (Aufnahme D, Fotograph: Giorgio Morra).

Für die Bewohner:innen mit einer ID-Card sind die institutionalisierten Camps grundsätzlich offen. Sie können diese tagsüber verlassen werden und jederzeit wieder betreten (z. B. nach einem gescheiterten Versuch, die EU-Außengrenze zu überqueren). Allerdings führen die Lebens- und Witterungsbedingungen sowie die Abgeschiedenheit der Camps dazu, dass sie von einigen Bewohner:innen, zumindest im Winter, als quasi geschlossen wahrgenommen werden. Die Marginalisierung der Bewohner:innen, die geringfügige staatliche Unterstützung und die Exklusion von freiwilligen Helfer:innen machen die institutionellen Camps, die offiziell zur humanitären Hilfe eingerichtet wurden, zu Orten, an denen die Handlungsfähigkeit und die Möglichkeit, sich selbst zu versorgen, stark eingeschränkt werden (s. Abb. 4A).

Die Lebensbedingungen in den informellen Camps sind aufgrund ausbleibender staatlicher Unterstützung und schlechter Ausstattung (bspw. kein direkter Zugang zu Trinkwasser, Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung) äußerst prekär. Je nach Gebäudegröße und Jahreszeit wohnen mehrere Hundert Personen in den Räumen und Hallen eines Squats (s. Abb. 4B). Neben den großen Squats werden aber auch kleinere baufällige und unbewohnte Wohnhäuser genutzt, in denen in der Regel jeweils eine Solidargemeinschaft anzutreffen ist (s. Abb. 4C). Doch ohne Unterstützung durch freiwillige Helfer:innen könnten die Migrant:innen das Leben in ihnen kaum aufrecht erhalten. Die Zahl der Bewohner:innen schwankt zum einen im Jahresverlauf, denn im Sommer ist die grenzüberschreitende Mobilität deutlich höher, was die informellen Camps zu viel frequentierten Durchgangsorten macht. Zum anderen ändert sich die Anzahl der Bewohner:innen auch aufgrund von polizeilicher Repression und plötzlichen Räumungen.

Squats befinden sich meist in unmittelbarer Umgebung der Städte oder sogar im Stadtkern. Der Zugang zu urbaner Infrastruktur ist für die Überbrückung längerer Phasen der Immobilität hilfreich, birgt gleichzeitig aber auch ein erhöhtes Risiko, Polizeigewalt ausgesetzt zu sein. Die Jungle-Camps liegen eher im Umland der Städte oder in der Nähe (ehemaliger) formeller Camps in der freien Natur. Die Bewohner:innen bewegen sich daher etwas freier in der angrenzenden Umgebung. Im Unterschied zu den Squats bestehen die Jungle-Camps nicht aus fester Bausubstanz, sondern meist aus Zelten, schlicht zusammengezimmerten Holzstangen und Plastikplanen, die nur einen elementaren Schutz vor der Witterung bieten (s. Abb. 4D).

In einigen Dörfern im Grenzgebiet zu Kroatien können Flüchtende auch unterkommen. Diese Dörfer sind wichtige Knotenpunkte auf dem Hinweg zur EU-Außengrenze und/oder auf dem Rückweg nach einem Pushback. Einige Dorfbewohner:innen solidarisieren sich mit den vorbeikommenden Flüchtenden und bieten ihre Wohnhäuser größtenteils für Familien mit Kleinkindern als Versteckmöglichkeit an. Da die informellen Grenzübergänge von dort aus fußläufig und auch mit dem Kinderwagen zu erreichen sind, können diese Familien täglich versuchen, über die EU-Außengrenze zu gelangen. Dieses Beispiel verdeutlicht, welche existenzielle Bedeutung von zivilgesellschaftlichen Gruppen bereitgestellte physische Infrastrukturen für die Grundversorgung von Menschen auf der Flucht und im europäischen Migrations- und Grenzregime haben. Die freiwilligen Helfer:innen besetzen eine bewusst vom Staat hinterlassene Lücke und setzen sich damit der eigenen zunehmenden Kriminalisierung aus (vgl. Sandri, 2018). Die zivilgesellschaftliche Solidarisierung steht dabei im Spannungsfeld zwischen ausbleibender staatlicher Unterstützung und organisierter Gewaltordnungen (insb. Racial-Profiling-Strategien, Räumungen, Pushbacks, Kriminalisierung freiwilliger humanitärer Arbeit).

4.5 Digitale und soziale Dimensionen von Infrastrukturen der (Im)Mobilität am Beispiel von finanziellen Transaktionen und Solidargemeinschaften

Nur durch informelle Transportmöglichkeiten und Unterbringungseinrichtungen sowie soziale Netzwerke und Austauschbeziehungen gelingt es letztlich mit der Immobilität klarzukommen und zugleich die Balkanroute für Migrant:innen offen zu halten. Zentrale soziale Praktiken sind die Kommunikation mit freiwilligen Helfer:innen oder die Einbindung in Solidargemeinschaften:

We are in that group, because no one would be able to survive here alone. So you need to make groups here. (Flüchtender aus Pakistan, 28 Jahre).

If every person shares, then we easily buy everything. […] We share everything. If we have on shoes, then we share shoes. If we have one socks pair, we share socks. (Flüchtender aus Pakistan, 31 Jahre).

Während der Immobilitätsphasen nutzen Migrant:innen ihre Smartphones und lokale Solidargemeinschaften, um Lebensmittel und Sachspenden zu beschaffen, Informationen über die nächsten Etappen oder geeignete Grenzübergänge zu erhalten, Kontakt zu informellen Dienstleistern herzustellen (z. B. sog. „Schleusern“) sowie den Kontakt zu Freunden und Familienmitgliedern aufrechtzuerhalten. Für die Kommunikation werden Messenger-Dienste (z. B. WhatsApp, Viber) und soziale Netzwerke (z. B. Facebook) genutzt. Der Zugang zu Smartphones und dem Internet hat dementsprechend eine maßgebliche Bedeutung. Diese Austauschbeziehungen machen das Überleben in der Immobilität und die potenzielle Weiterreise in die EU überhaupt erst möglich. Die darauf basierenden (trans)lokalen Netzwerke sind dementsprechend die grundlegende Voraussetzung, um die Risiken und Kosten von Migration und Mobilität zu verringern.

Viele Flüchtende sind in transnationale Sozialräume eingebettet, die allerdings ebenso vor Ort verankert werden müssen, um sich positiv auf ihre Lebenssituation und Zukunftsperspektiven auszuwirken. Die beschriebenen sozialen und digitalen Dimensionen der Infrastrukturen sind beispielsweise entscheidend für die Finanzierung der mitunter stark fragmentierten Fluchtverläufe. Gute transnationale Netzwerkeinbettung bestimmt oft über die Geschwindigkeiten, Richtungen und Modi grenzüberschreitender Mobilität. Gleichwohl bedeutet die Unterstützung der in Bosnien und Herzegowina festhängenden Flüchtenden eine enorme finanzielle und emotionale Belastung für die verbliebenen oder im Zielland angekommenen Freunde, Bekannten und Familienmitglieder:

[…] we have cousins in Italy, some in Germany, some in Belgium. They sent money. They sent me EURO and we use for game8 […] for bag, food, jackets, shoes […]. (Flüchtender aus Kashmir, 22 Jahre)

When I speak with my father, he say: ‚How can I sent money? Six years I sent you money, money, money, money. What I should do, I don't have nothing.‘ My country [Afghanistan] situation is not good. No work, no business. So, that's it. (Flüchtender aus Afghanistan, 20 Jahre)

Bargeld kann über offizielle Finanzinstitutionen (z. B. MoneyGram, Western Union) nach Bosnien und Herzegowina transferiert und dort abgehoben werden. Meist ist dafür eine Kontaktperson notwendig, da das Abheben von Bargeld nur mit gültigen Ausweisdokumenten, welche die Migrant:innen in der Regel nicht haben, erfolgen kann. Freiwillige Helfer:innen und/oder Anwohner:innen treten dann als Kontaktpersonen oder Vermittler:innen von offiziellen finanziellen Transaktionen in Erscheinung, beispielsweise indem das Geld auf ihren Namen und ihre Anschrift hinterlegt wird. Darüber hinaus werden auch Vermittler:innen in Anspruch genommen, die für den gleichen Ablauf eine Dienstleistungsgebühr veranschlagen (i. d. R. 10 % bis 20 % des abgehobenen Betrags):

[…] there are some people […] some Afghanistan people, some Pakistan people. They are migrants here in Bihać. They bring it to us. They put in a bag inside, when police search, they cannot find it. Sometime we use that. And sometimes Bosnian people help: ‚I give you my address and you bring money‘ […]. (Flüchtender aus Afghanistan, 26 Jahre)

Neben den Transaktionen über offizielle Finanzinstitutionen besteht die Möglichkeit, über informelle Kanäle Bargeld zu erhalten. Diese vertrauensbasierten Zahlungsverfahren sind mit dem „Hawala-Finanzsystem“ vergleichbar (vgl. Wahlers, 2013) und werden mithilfe von Vermittler:innen im Herkunfts- und Zielland abgewickelt. Dadurch kann Bargeld ohne Zeitverzögerung und anonym entgegengenommen werden:

Some have a system, smugglers, I give it to Afghanistan and he gives it me here. […] When I sent 100 Euro, he take 20 Euro. […] Yes, 20 percent. (Flüchtender aus Afghanistan, 26 Jahre)

Die Flüchtenden können vor Ort auch konkrete Waren „bestellen“, die dann an einem verabredeten Treffpunkt ausgegeben werden. Diese informellen und translokalen „Tauschgeschäfte“ werden insbesondere dort angeboten, wo viele Flüchtende zusammenkommen und die Nachfrage entsprechend hoch ist (insb. im Camp Lipa):

Some guys have access to money here. And my brother (in Kashmir) gives money to their houses back in Pakistan […] they do business here. One Afghani guy, he lives here in the camp, he sells cell phones. They make money through this. (Flüchtender aus Kashmir, 26 Jahre)

Diese in transnationale Vertrauensnetzwerke eingebettete informelle „Paketzustellung“ erfolgt durch informelle ‚Logistiker:innen‘ vor Ort. Die benötigen Produkte werden bereits in den Camps oder der näheren Umgebung gelagert. Unmittelbar nach der Geldübergabe im Herkunftsland wird das bezahlte Endprodukt im Camp ausgegeben. Dabei werden hohe Gewinnmargen erzielt, denn die ausgegebenen und meist gebrauchten Produkte werden weit über dem Verkaufswert gehandelt.

Das Beispiel der „informellen Logistiker:innen“ zeigt eindrücklich, wie Infrastrukturen der (Im)Mobilität in ihren physischen, sozialen und digitalen Dimensionen und über mehrere Orte und Länder hinweg miteinander verzahnt sind. Die finanziellen und materiellen Transaktionen erfordern zwar den Zugang zu transnationalen Netzwerken aus Freunden, Bekannten und Familienmitgliedern. Sie können aber aufgrund staatlicher Exklusionsstrategien erst durch die Einbindung weiterer lokaler Akteure an den Knotenpunkten der (Im)Mobilität – wie den informellen Logistiker:innen, lokalen Vermittler:innen für das Hawaladar-Finanzsystem oder freiwillige Helfer:innen – abgerufen werden. Die translokalen Tauschgeschäfte und Dienstleistungen verdeutlichen Ambivalenzen migrantischer Praxis in Grenzregimen. Denn sie erfordern sowohl Vertrauen und Wertschätzung, sind zugleich aber auch Ausdruck extremer Machtasymmetrien und ausbeuterischer Strukturen, die in restriktiven Mobilitätsregimen koproduziert werden. Die Camps sind formelle Unterstützungsstrukturen, soziale Begegnungsorte und zugleich informelle Warenmärkte, die von sich z. T. kreuzenden, z. T. parallel verlaufenden Netzwerken staatlicher Kontrolle, migrationsindustrieller Dienstleistungen, humanitärer Unterstützung und migrantischer Solidarität durchdrungen sind. Im Sinne des mobility paradigms sind sie moorings, welche einerseits das Leben in der Immobilität im europäischen Grenzraum und andererseits die Weiterreise in die EU ermöglichen.

4.6 Physische Infrastrukturen als Widerstandorte

Die Zeit der (Im)Mobilität in Bosnien und Herzegowina geht nicht zwangsläufig mit einem passiven Zustand zunehmender Abhängigkeit und einem Mangel an persönlicher Autonomie einher. Vielmehr kann die Errichtung und der Betrieb von Infrastrukturen der (Im)Mobilität entlang der Balkanroute und an den EU-Außengrenzen als eine subversive Form migrantischen Widerstands verstanden werden, der die Regularien der Kontrolle und Repression des europäischen Grenzregimes unterläuft, in Frage stellt oder zumindest deren Ablehnung anzeigt. Besonders deutlich wird dies, wenn wir die Raumaneignung und -produktion der informellen Unterbringungsinfrastrukturen, in denen sich die „Autonomie der Migration“ (Hess und Tsianos, 2010) materialisiert, näher betrachten. Die Squats und Jungle-Camps sind materieller Ausdruck von Autonomie und damit Schauplätze politischer migrantischer Kämpfe um Mobilität(sgerechtigkeit). Die Autonomie der Migration wird dabei nicht nur in der Materialität der Infrastrukturen sichtbar. Sie kristallisiert sich ebenfalls in den digitalen und sozialen Dimensionen, wie den transnationalen Unterstützungsnetzwerken oder Finanztransaktionen, heraus. Durch diese werden die Knotenpunkte der (Im)Mobilität miteinander verbunden und die (Hyper)Mobilität der Flüchtenden aufrechterhalten. Jenseits einer Romantisierung der prekären und menschenunwürdigen Lebensbedingungen, in die Schutzsuchende im Rahmen des europäischen Migrations- und Grenzregimes geraten, werden die beschriebenen physischen, sozialen sowie digitalen Dimensionen von Infrastrukturen zu einer „gelebten Praxis der (partiellen) Selbstermächtigung“ (Scheel, 2015:11).

Neben den informellen Unterkünften können die formellen Camps ebenfalls zu Orten werden, die von den Bewohner:innen als Identitätsraum oder Raum des Protestes angeeignet werden, um auf die eigene Situation aufmerksam zu machen und Rechte aktiv einzufordern. Dies hat sich beispielsweise im Dezember 2020 im Camp Lipa gezeigt. Flüchtende waren kurz nach dem Brand, der die materielle Infrastruktur nahezu vollständig zerstört hatte, zurückgekehrt, hatten innerhalb von wenigen Tagen eigene Unterkünfte gebaut und gemeinsam gegen die menschenunwürdigen Bedingungen im EU-Grenzraum demonstriert. Der Protest richtete sich gezielt an die angereiste internationale Presse, die sich vor dem Eingang des Camps versammelte, um über den angekündigten Besuch des bosnischen Sicherheitsministers zu berichten:

We decide it last night (…) that we will fight for our rights! We claim our needs. (…) We do not want to stay here anymore, we want from European Union to force other countries, like Croatia, Slovenia, Italy (…) to let us stay there. And we request to all human rights organisation, that they should come and they should help us, (…). Since the day the tents were fired, nobody from human rights organisations came here. They didn't care. (Flüchtender aus Afghanistan, 25 Jahre)

Während des Protests wurden dabei immer wieder Sprechchöre wie „we want freedom; we want peace; EU save our Lives; we are not animals; we don't want this place; we want justice“ skandiert und Protestplakate gezeigt (s. Abb. 5).

https://gh.copernicus.org/articles/78/531/2023/gh-78-531-2023-f05

Abb. 5Protestaktion vor dem Eingang zum Camp mit entsprechenden Protestplakaten (eigene Aufnahme vom 1. Januar 2021).

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Mit ihrem Protest demonstrierten die Migrant:innen auch, welch hochdynamische Raumformation Camps sein können. Das Camp wurde dabei innerhalb von eineinhalb Tagen in seiner Materialität völlig verändert, da innerhalb kürzester Zeit neue selbstgebaute Unterkünfte installiert wurden. Darüber hinaus wurde die Governance-Struktur des Camps radikal transformiert und es veränderte sich das sozial-räumliche Gefüge der Bewohner:innen. Es gab nun keinen offiziellen Betreiber mehr und überraschenderweise griff zu diesem Zeitpunkt die bosnische Polizei auch nicht in das Geschehen ein. Stattdessen handelten die Flüchtenden als Kollektiv, als Zusammenschluss mehrere Solidargemeinschaften, die nach einer eigenen Camp-Politik organisiert wurden (vgl. Lecadet, 2016:189). Die Bewohner:innen hatten sich das Camp angeeignet.

Hierfür spielte die Anwesenheit der internationalen Presse eine entscheidende Rolle. Die mediale Aufmerksamkeit und die vergleichsweise hohe Anzahl an Bewohner:innen wurde von den Protestakteuren bewusst eingesetzt, um einen internationalen politischen Raum zu schaffen, der es ihnen ermöglicht, ihre Interessen gezielt zu artikulieren. Der kollektive Protest erhöhte die Sichtbarkeit und Stärke ihrer Forderungen maßgeblich. Paradoxerweise wurde dies an einem Ort umgesetzt, der eigentlich dazu eingerichtet wurde, Flüchtende zu segregieren, zu kontrollieren und zu disziplinieren und – wie oben beschrieben – zu hypermobilisieren.

5 Fazit

Der Kanton Una-Sana im Westen von Bosnien und Herzegowina hat sich zwischen den Jahren 2018 und 2022 zu einem zentralen Raum der (Im)Mobilität von Flüchtenden entlang der Balkanroute entwickelt. Sowohl die Bewegung über die in dieser Region verlaufende EU-Außengrenze als auch der – in diesem Fall erzwungene – Stillstand im Grenzraum hat spezifische Infrastrukturen hervorgebracht, welche eng miteinander verflochtene physische, soziale und digitale Dimensionen aufweisen. In ihrer grundlegenden materiellen Dimension stellen insbesondere die formellen wie informellen Unterbringungsinfrastrukturen (staatlich organisierte Camps sowie selbstorganisierte Squats und Jungle-Camps) feste räumliche Verankerungen – moorings im Sinne der mobility studies – dar.

Diese Knotenpunkte sind sowohl Ausgangspunkte, Durchgangsstationen als auch Ziele der migrantischen Mobilität. Sie ermöglichen und strukturieren sowohl eine Versorgung der in der Grenzregion festhängenden Migrant:innen als auch grenzüberschreitende Mobilität entlang der Balkanroute. Freiwillige Helfer:innen, lokale Anwohner:innen sowie Solidargemeinschaften der Migrant:innen tragen durch ihre sozialen Praktiken, welche die marginalisierende Logik des Grenzregimes unterlaufen, dazu bei, dass Flüchtende die extrem prekären Bedingungen vor Ort bewältigen können, und die Balkanroute(n) informell offenzuhalten. Doch ohne digitale Infrastrukturen wie Informations- und Kommunikationstechnologien und informelle Finanztransfers würde dies nicht gelingen. Die Infrastrukturen der (Im)Mobilität sind vor Ort nicht gegeben, sondern werden durch die Praktiken von lokal und translokal vernetzten Akteuren immer wieder neu hervorgebracht.

Der Fluchtraum Una-Sana ist dabei maßgeblich durch die staatlich organisierten (Ketten-)Pushbacks und die kombinierte Anwendung von Racial-Profiling-Strategien im öffentlichen Raum, die Räumung von informellen Unterkünften und den unfreiwilligen Transport in das abgelegene Camp Lipa bestimmt. Dabei entsteht ein Raum der permanenten Kontrolle, der sich paradoxerweise nicht nur in der Immobilisierung von Flüchtenden ausdrückt, sondern ebenfalls in deren Hypermobilisierung zwischen Knotenpunkten der (Im)Mobilität.

Da Infrastrukturen der (Im)Mobilität aber auch dort eingerichtet werden, wo staatliche Strukturen nicht im ausreichenden Maße vorhanden sind oder gänzlich fehlen, kann deren Untersuchung auch dabei unterstützen, die Autonomie von Migration und die agency von Flüchtenden besser zu verstehen. Wie wir in unserem Beitrag gezeigt haben, können sie zu (politisierten) Orten werden, an denen sich die Autonomie von Migration materialisiert und die sich Bewohner:innen aktiv aneignen, um ihre Sichtbarkeit zu erhöhen sowie spezifische Rechte einzufordern oder selbst umzusetzen. Die beschrieben physischen, digitalen und sozialen Dimensionen sind dabei mit unterschiedlichen Machtgeometrien verwoben, die selbst in Bewegung sind. Infrastrukturen der (Im)Mobilität als Elemente migrantischer Handlungsmacht werden so kontinuierlich (ko)produziert und (re)organisiert.

Datenverfügbarkeit

Zum Schutz der befragten und beteiligten Personen sind die qualitativen Daten dieser Studie nicht öffentlich zugänglich. Sie können jedoch in anonymisierter Form bei dem entsprechenden Autor erfragt werden.

Autor:innenmitwirkung

PT hat die Idee für das Forschungsvorhaben entwickelt, die empirische Forschung vorbereitet und eigenständig durchgeführt, die Forschungsdaten ausgewertet, den ersten Entwurf des Artikels geschrieben und die Federführung bei der Überarbeitung nach Review übernommen. BE hat die methodische Vorbereitung und Durchführung der Forschung sowie die Datenanalyse unterstützt und Teile zum ersten Entwurf beigesteuert. Das Manuskript wurde von beiden Autoren gemeinsam überarbeitet.

Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Haftungsausschluss

Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.

Danksagung

Wir danken dem Kölner Spendenkonvoi  . V. für den unermüdlichen und solidarischen Einsatz in europäischen Grenzräumen, ohne den unsere empirische Arbeit nicht hätte durchgeführt werden können. Wir danken Jonas Böhm für seine gestalterische Arbeit an den digitalen Anschauungskarten. Benjamin Etzold dankt der EU für die Förderung des Projektes TRAFIG (Transnational Figurations of Displacement, Horizon 2020 Research and Innovation Programme, Grant No. 822453), am Rande dessen die Forschung für diesen Beitrag entstand.

Finanzierung

Diese Forschung wurde durch das Rahmenprogramm Horizont 2020 der Europäischen Union unterstützt (Zuschuss nr. 822453).

Begutachtung

Dieser Artikel wurde von Hanna Hilbrandt redaktionell betreut und durch zwei Expert:innen in einem double-blind Review-Verfahren begutachtet.

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1

Solidargemeinschaften bestehen in der Regel aus 5–15 Personen und dienen im Wesentlichen der gemeinsamen Deckung von Grundbedürfnissen (vgl. Kap. 4.5).

2

Unter migrationsindustriellen Dienstleistungen verstehen wir informelle und kostenpflichtige Dienstleistungen, die von sogenannten Schleuser:innen angeboten werden und grenzüberschreitende Mobilität oder das Überleben in der Immobilität ermöglichen (nach Etzold, 2019:20).

3

Laut Angaben der IOM ist die Mehrheit der Migrant:innen im Land männlich (etwa 90 %) und verhältnismäßig jung (im Durschnitt 27 Jahre). Sie stammen zu jeweils einem Drittel aus Afghanistan und Pakistan; es sind aber auch Menschen aus anderen nord- und westafrikanischen sowie west- und südasiatischen Ländern darunter. Krieg, Gewalt und Vertreibung war mit 47 % die wichtigste Motivation das Herkunftsland zu verlassen; ein Drittel gab an aus wirtschaftlichen Gründen aufgebrochen zu sein. Italien, Deutschland und Frankreich wurden als die wichtigsten Zielländer benannt. Ein Drittel der Befragten war seit weniger als drei Monaten im Land, knapp die Hälfte befand sich zwischen drei und zwölf Monaten im Land, und ein Fünftel schon länger als ein Jahr (IOM, 2021b).

4

Das Netzwerk veröffentlicht diese Informationen in einer kollaborativen Open-Source-Datenbank, in der Erfahrungsberichte von Einzelperson oder Gruppen mithilfe von standardisierten Interviews und Fragenbögen dokumentiert werden https://www.borderviolence.eu/violence-reports/ (letzter Zugriff: 16. November 2023) (BVMN, 2022:9 f.).

5

Die von BVMN dokumentierten Fälle bilden nur einen Bruchteil der gesamten von Pushbacks betroffenen Personen ab. Auf Grundlage der Einschätzungen von NGOs und Zahlen, die von den staatlichen Behörden vorgelegt wurden, schätzt BVMN die Zahl der Pushbacks aus Kroatien nach Bosnien, Serbien und Montenegro auf über 20 000 Betroffene pro Jahr (BVMN, 2022:239). Trotz umfassender Beweise leugnen politische Entscheidungsträger:innen weiterhin die gewalttätigen und illegalen grenzüberschreitenden Pushbacks oder deklarieren sie als Einzelfälle und individuelles Fehlverhalten von einzelnen Grenzbeamt:innen (Frachcollective, 2021).

6

Im Kanton Una-Sana gibt es jeweils ein formelles Flüchtlingscamp in Velika Kladuša (Camp Miral, ca. 1000 Bewohner:innen) und in Lipa (Camp Lipa, ca. 1000 Bewohner:innen). Zusätzlich wurde eine ehemalige Jugendherberge in Bihać zu einer Unterkunft für Familien mit Kindern umfunktioniert (Camp Borići, ca. 400 Personen).

7

„Jungle“ ist ein von Flüchtenden genutzter Sammelbegriff für informelle Unterbringungen unter freiem Himmel. Gemeint sind damit oft behelfsmäßig errichtete Camps (z. B. aus Planen, Zelten, Holzpaletten), die oft in oder außerhalb von Wäldern sowie am Rande von Städten und Dörfern liegen.

8

„Game“ ist eine euphemistische Beschreibung für den Versuch, eine oder mehrere Grenzen zu überschreiten.

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Short summary
The article focuses on the cross-border movements of refugees at the Croatian external EU border and which infrastructures are used to enable, guide, regulate or completely prevent (im)mobility. The places presented in the article are nodes where physical, digital and social dimensions of infrastructures are intertwined in order to cope with situations of protracted displacement, social marginalization and forced immobilization.