Articles | Volume 79, issue 2
https://doi.org/10.5194/gh-79-161-2024
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Book review
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28 May 2024
Book review |  | 28 May 2024

Book Review: Weltbildwechsel: Ideengeschichten geographischen Denkens und Handelns

Benedikt Korf, Ute Wardenga, Julia Verne, Boris Michel, Francis Harvey, Antje Schlottmann, and Jeannine Wintzer

Schlottmann, A. und Wintzer, J.: Weltbildwechsel: Ideengeschichten geographischen Denkens und Handelns, Bern, Haupt, 405 ff., ISBN 978-3770563371, EUR 20,00, 2018.

1 „Die Kunst, aus ein paar alten Büchern ein neues zu machen“ (Lichtenberg, 1982:91): Einführung – Benedikt Korf und Ute Wardenga

Mit ihrem Buch „Weltbildwechsel: Ideengeschichten geographischen Denkens und Handelns“ (UTB-Haupt, 2019) haben Antje Schlottmann und Jeannine Wintzer eine inspirierende Disziplingeschichte der deutschsprachigen Geographie vorgelegt. Als Weltbild verstehen die Autorinnen „Konstellationen aus geographischem Denken und Handeln und damit verbundene Konsequenzen für gesellschaftliche Zugänge zu Raum“ (Weltbildwechsel, S. 9). Die Geschichte der Geographie ist damit auch eine Geschichte unterschiedlicher Weltbildwechsel. Die Autorinnen nehmen für sich in Anspruch, nicht eine grosse Erzählung anzubieten, sondern viele Geographiegeschichten nebeneinander zu stellen und damit die Vielfalt geographischen Denkens und Handelns in der Vergangenheit aufzuzeigen. Leider ist die Ideengeschichte oder Disziplingeschichte in der deutschsprachigen Geographie eher ein Nischenfach geblieben. Umso verdienstvoller ist das Buch „Weltbildwechsel“, weil es nicht nur eine Vergangenheit taxiert, sondern aus der Ideengeschichte des eigenen Faches eine Vielzahl von Anregungen zur Selbstreflexion für die Humangeographie der Gegenwart anbietet, mithin also perfekt die Kunst beherrscht, aus ein paar alten Büchern ein neues zu machen. Dazu vier Punkte:

Erstens räumen die beiden Autorinnen mit der Vorstellung auf, es gäbe die eine, wahre, richtige und gültige Geschichte „der“ Geographie. Vielmehr machen sie unserer Meinung nach ein überzeugendes Angebot, wie man Geographiegeschichte neu erzählen kann, jenseits von Eurozentrismus und Elitarismus, Teleologie und Linearität, Positivismus und Wertneutralität. „Weltbilder“ sind für sie „Perspektiven auf Raum“. Diese Perspektiven sind eingebettet in Werte und Normen der Gesellschaft. Folglich vertreten sie einen handlungsbasierten Raumbegriff, was heißt: eine Perspektive, in der und durch die Handelnde „Bezug auf Raum nehmen, diesen nutzen, mit Bedeutung aufladen und dadurch auch verändern“. Da sich, so die leitende Hypothese, Weltbilder gesellschafts- und kulturbezogen über die Jahrhunderte wandeln, lässt sich die Geschichte der Geographie mithin als ein permanenter „Weltbildwechsel“ aus VIELEN Geographiegeschichten verstehen, die sich (alle Zitate Weltbildwechsel, S. 9) „bedingen, gelegentlich auch umkehren“ und vor allem dadurch geprägt sind, dass sie die jeweils GEGENWÄRTIGEN Blicke oder Perspektiven von Zeitgenossen auf eine stets in Frage stehende Fach-Vergangenheit verändern. Deshalb lautet die zentrale und zeitgemäße Frage des Buches: Wie kann man HEUTE Geographiegeschichte anders erzählen als GESTERN?

Zweitens haben die Autorinnen mit ihrem praktiken- und handlungstheoretischen Zugriff einen Ansatz gewählt, mit dem sie in den Kapiteln „Vermessen“, „Erklären“, „Erobern“, „Vermitteln“, „Aufklären“, „Wahrnehmen“ und „Gestalten“, „Differenzieren“, „Visualisieren“ und „Modellieren“ Kategorien entwickeln, die in neuer Weise helfen, bestimmte Ausschnitte aus der Geographiegeschichte vom Altertum bis in die Gegenwart in ihren jeweiligen Wandlungen besser als bisher zu verstehen.

Beide Autorinnen legen den zentralen Bruch der Geographiegeschichte in die Mitte des 20. Jahrhunderts, das ist der dritte Punkt. Denn erst ab dann beginnt für sie die Entwicklung „der aktuell überaus diversen Geographie“ (Weltbildwechsel, S. 16). Gleichwohl reicht die Vorgeschichte dieses Bruchs weit ins 19. Jahrhundert zurück, z. B. mit dem Versuch der Zurückdrängung religiöser Dogmen zugunsten der Herausbildung spezialisierter Geowissenschaften , oder z. B. mit der Aufwertung dessen, was man später Wahrnehmungsgeographien, resp. heute Imaginative Geographien nennt. Viele Kapitel des Buches lassen sich daher auch als Ultrakurzvarianten verschiedener und zumal jüngerer Ansätze lesen, aus deren Perspektive dann wiederum manche früher als heroisch gefeierten Errungenschaften äußerst fragwürdig erscheinen. Das betrifft eine ganze Reihe der immer noch tief in die Praktiken des Faches eingeschriebenen, weltbildprägenden und bisher viel zu wenig selbst-reflexiv und selbstkritisch beobachteten Vorannahmen, wie z. B. imperialistische, kolonialistische oder eurozentrische Denk- und Imaginationsmuster, die noch viel zu oft als taken for granted gelten und daher auch implizit das bestimmen, was für „normal“, „richtig“ und „wichtig“ gehalten wird.

Vierter und letzter Punkt: Gut gemachte Fachhistoriographien können identitätsprägend wirken. Und dieses Buch ist eine gut gemachte Fachhistoriographie. Weil es auf billige Empörungsnarrative verzichtet und dadurch zum Nachdenken anregt. Weil es in der Lehre hervorragend eingesetzt werden kann, da die verschiedenen Kapitel in unterschiedlichen Varianten miteinander kombiniert werden können. Weil es die Frage aufwirft: Welche in und durch Geographie produzierten Weltbilder führen BEI MIR SELBST zu welchen Handlungen – als Student:in, als Lehrer:in, als angewandt arbeitende Geograph:in und nicht zuletzt als Wissenschaftler:in. Mehr kann eine Fachhistoriographie kaum erreichen, wenn sie genau das zeigt: Geschichte ist etwas, das wir alle alltäglich machen. Bei diesem Machen sind wir eingebunden in ein (soziales) Geflecht implizit tradierter Praktiken und Routinen. Es wird Zeit, dieses IMPLIZITE Tradieren auch in der Lehre EXPLIZIT zu reflektieren. Das Buch von Antje und Jeannine ist hierfür ein äußerst hilfreiches, weil Selbstreflexion und Selbstkritik förderndes Medium.

Aus diesem Grund haben wir namhafte Geograph:innen eingeladen, sich mit diesem Buch und dem Ansatz des Weltbildwechsels auseinanderzusetzen – und zugleich das Buch als Ausgangspunkt zu nehmen, über Stand und Herausforderungen der Geschichte der deutschsprachigen Geographie nachzudenken. Folgende Fragen gaben wir ihnen dazu mit auf den Weg:

  • Wie kann die Geschichte der deutschsprachigen Geographie erzählt werden?

  • Welche methodologischen Ansätze der Geographiegeschichte sind besonders fruchtbar?

  • Wie verortet sich die Geographiegeschichte in den Geisteswissenschaften, z. B. zu Ansätzen der Ideengeschichte, Begriffsgeschichte, oder der Geschichte des Wissens?

  • Welchen Ort hat eine Disziplingeschichte der deutschsprachigen Geographie im Curriculum eines sich internationalisierenden Faches?

  • Welche blinden Flecken gilt es in der Disziplingeschichte zu bearbeiten?

  • Wie kann die deutschsprachige Geographiegeschichte dekolonialisiert werden?

  • Wie können disziplingeschichtliche Arbeiten stärker in aktuelle Theoriediskussionen in der Humangeographie einfliessen?

Es versteht sich von selbst, dass die drei Beiträge in diesem Forum diese Fragen nicht umfassend beantworten können, sondern nur einzelne Aspekte herausgreifen: Julia Verne betont noch einmal die Wichtigkeit, sich stärker mit der eigenen Fachgeschichte auseinanderzusetzen – zur Reflexion der eigenen Forschungspraxis, aber auch zur Vermittlung für angehende Studierende in der Lehre. Diese Auseinandersetzung wird in der Geographie oft als irrelevant angesehen mit dem Argument, es gebe im Fach keinen akzeptierten Kanon wie in anderen Fächern (der Soziologie zum Beispiel – vgl. dazu Korf und Marquardt, 2024). Boris Michel sieht in der Strukturierung der Ideengeschichte an konkreten Praktiken, wie sie in Weltbildwechsel vorgenommen wird, neben vielen Potenzialen auch eine gewisse Gefahr der Ent-Genealogisierung und Enthistorisierung, da durch diese Fokussierung historische Pfadabhängigkeiten der Fachentwicklung eher in den Hintergrund rücken. Auch weist er auf den wichtigen Punkt hin, dass die Bedeutung von Begriffen, die Praktiken beschreiben (z. B. „Erklären“), selbst sehr umstritten sein kann, weil darunter sehr unterschiedliche Techniken und Praktiken verstanden werden. Francis Harvey wiederum betont noch einmal, wie viele Anknüpfungspunkte das Buch „Weltbildwechsel“ für aktuelle Theoriedebatten in der Humangeographie bietet. So wünscht er sich z. B. in der Darstellung der Praktik des Wahrnehmens eine stärkere Diskussion der Erkenntnisse der jüngeren neurologischen Forschung. Auch der unglaublich dynamischen technologischen Entwicklung in Fernerkundung, Kartographie und GIS sei mehr Raum in der disziplinhistorischen Reflexion einzuräumen.

Aus unserer Sicht liegt das grösste Verdienst von „Weltbildwechsel“ darin, der Disziplingeschichte der deutschsprachigen Geographie eine sichtbare Plattform anzubieten, von der aus unterschiedlichste Theoriedebatten lanciert oder vertieft werden können. So wird die Vergangenheit des Faches zu mehr als einem Sammelsurium diffuser „Erinnerungsorte“ (Korf und Wardenga, 2021). Der Ansatz, die Geschichte der Geographie anhand ihrer Praktiken zu erzählen, ermöglicht auf diese Weise, über das eigene Tun in der Gegenwart kritisch zu reflektieren und bewusster die Genealogie(n) des „Geographie-Machens“ in dieser Reflektion zu berücksichtigen. In der anglophonen Geographie wird schon seit einiger Zeit diskutiert, warum die Geographie keinen Kanon hat, und was dies für den Umgang mit der eigenen Fachgeschichte bedeutet (Keighren et al., 2012; Powell, 2015). Eine ähnliche Diskussion steht in der deutschsprachigen Geographie noch aus: Eine kritisch mit der eigenen Fachgeschichte verwobene Humangeographie der Gegenwart könnte von einem theoretischen Präsentismus Abstand nehmen, der sich dadurch auszeichnet, dass in einem unreflektierten Fortschrittsnarrativ nur die jeweils jüngsten Theorien „gehypt“ werden (Wardenga, 2020). In diesem Zusammenhang bringen Korf und Marquardt (2024:18) eine Praxis der „strategischen Kanonisierung“ ins Gespräch, die „sich kreativ und nicht nur pejorativ mit der Disziplingeschichte der Geographie [auseinandersetzt]“. Das Buch „Weltbildwechsel“ könnte ein reichhaltiges Reservoir an intellektuellen Ressourcen für „strategische Kanonisierung“ anbieten als die Kunst, aus alten Büchern Inspiration für neue Geographien zu generieren.1

2 Weltbildwechsel statt Fortschrittsnarrativ – Julia Verne

For the study of the history of ideas does not need to justify itself by its potential services – however great – to historical studies bearing other names. It has its own reason for being. It is not merely ancillary to the others; it is rather they that are, in great part, ancillary to it (Lovejoy, 1940:7–8).

Das Interesse an Weltbildern ist sicher zu einem großen Anteil verantwortlich dafür, dass ich mich für ein Studium der Geographie entschieden habe2. Die Frage, die mich umgetrieben hat, wenn wir in der Schule mit dem Atlas gearbeitet haben, richtete sich meist darauf, wie Jugendliche in meinem Alter wohl andernorts auf die Welt blicken und wie es sich wohl anfühlt, anderswo zu leben. In meiner Bachelorarbeit machte ich genau dies zum Thema und untersuchte Weltbilder und lokale Identitäten junger Menschen in Sansibar. Der besondere Fokus lag darauf, wie die Erfahrung einer zunehmenden Globalisierung ihre Weltbilder beeinflusste. Natürlich konnte ich während meines dreimonatigen Aufenthalts auf Sansibar nur an der Oberfläche kratzen. Dabei fiel auf, dass trotz einiger Übereinstimmungen der jungen Erwachsenen in ihrem Blick auf die Welt und die aktuellen Dynamiken der Globalisierung wesentliche Unterschiede in ihren alltäglichen Praktiken bestanden – es also ganz unterschiedliche Arten und Weisen gab, wie sich ein Weltbild in Praxis übersetzen ließ.

Das Interesse an dem Zusammenhang von Weltbild und Handeln prägt auch das 2019 im utb-Verlag erschienene und von Antje Schlottmann und Jeannine Wintzer verfasste Buch zur Geschichte der Geographie. Hier geht es jedoch weniger um individuelle oder kulturell spezifische, alltägliche Weltbilder, sondern darum herauszustellen, wie „unterschiedliche Perspektiven auf Raum, die in historische Kontexte, Werte und Normen der Gesellschaft eingebettet sind“ (Weltbildwechsel, S. 9), die wissenschaftliche Praxis der Geographie beeinflusst haben. Dass sich wissenschaftliche Herangehensweisen der Geographie im Laufe der Zeit verändert haben und auch mein Forschungsinteresse in einem typischen zeitgenössischen Zusammenhang zu verstehen war, dass mein methodisches Vorgehen Ausdruck eines rezenten Paradigmenwechsels in der Humangeographie war und Schreibstil und Struktur der Arbeit daher nicht von allen Dozierenden gleichermaßen geschätzt wurde, wurde mir erst zum Ende meines Bachelorstudiums zunehmend bewusst, war im Nachhinein betrachtet aber wohl der wichtigste Lerneffekt aus dieser Zeit.

Dass eigene Weltbild zu erkennen und seine Implikationen für das Denken und Handeln zu verstehen, sowie nachvollziehen zu können, welche Weltbilder das Denken und Handeln anderer begründen bzw. welche Weltbilder sich im Denken und Handeln anderer ausdrücken, ist aus meiner Sicht ein zentrales Ziel des Geographie-Studiums. Erst dann lässt sich begreifen, warum es nicht nur eine Art und Weise gibt, bestimmte Phänomene zu betrachten, warum nicht jedes methodische Vorgehen zu einer bestimmten theoretischen Rahmung passt und welche konzeptionellen Prämissen in den von uns gewählten Herangehensweisen mitschwingen. Aber auch wenn diese wissenschaftstheoretischen und methodologischen Anliegen wohl die schwersten sind, die es im Geographie-Studium zu vermitteln gilt, so ist es sicher an den meisten Instituten gerade nicht der Bereich, dem in der Lehre die meiste Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Dies mag zum einen daran liegen, dass sich in der Regel nur recht wenige Studierende mit Leidenschaft wissenschaftstheoretischen, -historischen und methodologischen Fragen widmen, sondern die meisten „einfach“ bestimmte Verfahren lernen und anwenden wollen, ohne sich mit dem konzeptionellen Gepäck beschäftigen zu müssen, das daran hängt. Das Interesse des Großteils der Studierenden richtet sich weniger auf das Fach der Geographie und seine Geschichte, sondern auf bestimmte Phänomene, die heutzutage nun einmal von Geograph:innen untersucht werden. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen beidem bleibt dabei häufig im Hintergrund.

Zum anderen stimmen auch nicht alle Dozierenden darin überein, welche Bedeutung diese Inhalte im Geographie-Studium haben sollten. Ein Kollege bezeichnete die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Geographie mir gegenüber einmal verächtlich als Inzest. Auch wenn es wohl vermehrt die Vertreter:innen der physischen Geographie sind, die einen Fokus auf aktuelle Ansätze und die Vorgehensweisen in ihren Arbeitsgruppen als vollkommen ausreichend erachten und keine Semesterwochenstunden und Prüfungsleistungen für die mühsamen Fragen nach der eigenen Perspektivität und ihren Ursprüngen „verbrauchen“ wollen, so begegnen mir doch immer wieder auch einige Humangeograph:innen, die diese Inhalte meiden – ob nun aus dem Grund, dass sie müde und desinteressierte Gesichter oder eine mögliche Leere im Seminarraum fürchten, oder weil es ihnen selbst zu aufwendig ist, diese Inhalte ansprechend aufzuarbeiten.

Vor diesem Hintergrund ist es besonders erfreulich und von besonderer Bedeutung, dass sich Antje Schlottmann und Jeannine Wintzer diesem Anliegen angenommen haben und für den deutschsprachigen Raum ein Werk erstellt haben, dass sich dem komplexen Zusammenhang von wissenschaftlichen Weltbildern und geographischer Praxis annimmt.

Im Gegensatz zu anderen Werken, die die Geschichte des Faches oder meistens ausgewählter Teildisziplinen darlegen, geht es ihnen nicht darum, die zu unterschiedlichen Zeiten dominanten Ansätze und Konzepte dazu zu nutzen, die heutige wissenschaftliche Praxis als Kulminationspunkt und Ausdruck geographischen Fortschritts darzustellen. Es ist keine Aneinanderreihung unterschiedlicher Vertreter:innen der Disziplin und ihrer jeweiligen Werke, sondern eine Auseinandersetzung mit den Entstehungskontexten geographischen Wissens, der Art und Weise wie das Wissen eingesetzt wurde, welches Wissen sich durchsetzte, und welches Wissen vor welchem Hintergrund verworfen wurde (Weltbildwechsel, S. 12).

Besonders ist dabei die Gliederung anhand zehn ausgewählter geographischer Praktiken, die sich auch als unterschiedliche Prämissen geographischer Forschung verstehen lassen. „Durch eine handlungszentrierte Historisierung der wissenschaftlichen und alltäglichen Herstellung von Raum“ (Weltbildwechsel, S. 13) wird so in jedem Kapitel eine Geschichte erzählt, in der die jeweiligen Vorgehensweisen gesellschaftspolitisch kontextualisiert und kritisch diskutiert werden und aufgezeigt wird, welche Rolle sie bis heute spielen. Damit gelingt es dem Buch besonders gut, die Relevanz der Geographiegeschichte für unsere aktuelle geographische Praxis zu verdeutlichen.

Indem historische Ansätze und heutige Vorgehensweisen und Konzepte eng miteinander verwoben werden, lassen sich die Kontinuitäten und Brüche in der Entwicklung der Disziplin besonders klar aufzeigen. Durch die direkten Bezüge zu heutigen geographischen Debatten wird die Geschichte der Disziplin anschlussfähig. Mithilfe aussagekräftiger Zitate wird das Eintauchen in unterschiedliche Zeiten und Gedankenwelten erleichtert; die zeitgenössische Einbettung macht die Überzeugungen und Handlungen nachvollziehbar. Insgesamt ist es den beiden Autorinnen auf diesem Wege gelungen, die Geschichte der Geographie keinesfalls „trocken“, sondern äußerst lebendig und anschaulich vorzustellen.

Die Beobachtung, dass Studierende die Bedeutung der Geschichte der Geographie für ihr Verständnis des Faches oft unterschätzen, liegt aus meiner Sicht auch daran, dass sie die Verbindungen zu den anderen Inhalten des Faches nicht herstellen können. Die Geschichte der Geographie wird, wenn sie überhaupt Teil des Curriculums ist, oft separat gehalten, als könnte man den Rest des Faches auch ohne sie verstehen. Dies gilt selbst für Einführungen in Teildisziplinen in Vorlesungen, die zum Teil zwar historisch vorgehen, deren Inhalte in thematisch ausgerichteten Seminaren jedoch nicht mehr aufgegriffen werden, so dass es den Studierenden schwerfällt, die Entwicklungslinien und Ideengeschichten zu verfolgen. Genau dies unterstützt das vorliegende Buch und macht somit deutlich, dass aktuelle Ansätze und Methoden nicht aus „dem Nichts“ kommen, weil „man es so nun einmal macht“, sondern komplexe Vorgeschichten haben, die uns viel über unser Fach und seine Verortung in der Wissenschaft verraten.

Die Strukturierung der Geschichte der Geographie nach zehn geographischen Praktiken geht jedoch auch mit einigen Herausforderungen einher. So setzen sich die Autorinnen zum Ziel, „Gleichzeitigkeit statt Linearität und damit das Vorhandensein vielseitiger Perspektiven auf die Welt zur gleichen Zeit und über die Zeit hinweg in den Mittelpunkt der Betrachtung“ zu rücken (Weltbildwechsel, S. 32). Die einzelnen Kapitel sind jedoch durchaus chronologisch aufgebaut, um aufzuzeigen, dass alle Praktiken von der Antike bis in die Gegenwart von Bedeutung sind. Dies macht es nicht leicht, Wiederholungen zu vermeiden. Nicht in jedem Kapitel kann also ausführlicher auf die dominanten Weltbilder in den einzelnen Epochen bzw. Jahrhunderten und ihre Übersetzungen in geographische Praxis eingegangen werden. Stattdessen stehen die ausgewählten Praktiken im Zentrum und wie sich ihre Bedeutung in unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Kontexten gewandelt hat. Wie die Autorinnen selber schreiben, entstehen so zehn Ideengeschichten und nicht eine Ideengeschichte der Geographie.

Was dadurch vielleicht etwas zu kurz kommt, sind die Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Praktiken bzw. Prämissen, die die Geographie bestimmen. Zentrale wissenschaftstheoretische Begriffe und Paradigmen werden nebenbei in Textboxen erläutert, so dass ihre Bedeutung über ihre konkrete Verortung in einem Kapitel hinaus zum Ausdruck kommt. Doch ist es der Versuch, Ideengeschichte nicht, wie üblich, historisch zu erzählen, sondern systematisch zu gliedern, der das Buch auch in Ausschnitten zugänglich macht, da die Kapitel vor dem Hintergrund unterschiedlicher studentischer Interessen auch unabhängig voneinander gelesen werden können. So ist es allen möglich, mehr über ihre bisher favorisierte Praktik und die Tradition, in der sie steht, zu erfahren und dadurch zur „Reflexion des eigenen Geographie-Machens“ angeregt zu werden (Weltbildwechsel, S. 10). Ebenso können weitere Kapitel zu dem Buch hinzugefügt werden – die Autorinnen laden explizit zum Weiterschreiben ein. So wäre z. B. ein Kapitel zum Verstehen denkbar, oder auch zum Vergleichen.

Obwohl das Buch einen Schwerpunkt auf die Entwicklung der deutschsprachigen Geographie legt, nutzt es doch zahlreiche Verweise, insbesondere in den anglophonen Raum, und zeigt dadurch Parallelen und Unterschiede auf. Insgesamt ist es meines Erachtens unmöglich, eine rein deutschsprachige Geschichte der Geographie zu erzählen, da die Geograph:innen dafür viel zu mobil waren und sich im regen Austausch mit Wissenschaftler:innen an anderen Orten befanden. Hier sehe ich ein bisher in der Geographie noch weitgehend unausgeschöpftes Potential in Genealogien und Biographien, die tiefer einsteigen können in das Verhältnis zwischen Weltbild, persönlichen Prägungen und Einflüssen und der damit verbundenen (individuellen) geographischen Praxis. Die wenigen Werke, die in dieser Art verfasst worden sind, sind zum Großteil nicht von Geograph:innen geschrieben worden.3 Dies liegt sicher auch daran, dass ein Fokus auf die Disziplingeschichte für viele lange nicht dazu geeignet zu sein schien, den eigenen Karriereweg zu befördern. Dass jedoch Geographiegeschichte und Gegenwart miteinander in Einklang gebracht werden können und müssen, zeigt dieses Buch aus meiner Sicht sehr klar.

In Dialogues in Human Geography diente die Beobachtung, dass die Humangeographie in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse an ihrer Geschichte und der Genealogie ihrer zentralen Konzepte gezeigt hätte, als Ausgangspunkt einer kontroversen Debatte. Aus Sicht von Agnew (2014:311) „this is undoubtedly a healthy development given the almost total lack of interest in the past about where our ideas have come from“. Nichtsdestotrotz zweifelt er daran, dass die Suche nach den Wurzeln unserer Konzepte immer hilfreich wäre, um zu verstehen, was diese Konzepte heute für uns tun können. Oft hätten die heutige Verwendung und die Bedeutung der Konzepte nur wenig mit der historischen Verwendung und Bedeutung der Begriffe zu tun. Außerdem erscheint ihm die Anwendbarkeit der Konzepte auf heutige Fragestellungen von vorrangiger Bedeutung. So ist er davon überzeugt, dass „many of our most vital concepts have undergone recent radical makeovers that make tracing how they were once used interesting but perhaps more antiquarian than pressing“ (Agnew, 2014:312).

Bereits 2012 hatte Agnew in einem Beitrag seine Skepsis gegenüber der Auseinandersetzung mit „Klassikern“ in der Lehre ausgedrückt. Dabei verweist er auf Einführungen in die Teildisziplinen in der Humangeographie, in denen z. B. in der Wirtschaftsgeographie in die „mysteries“ der Theorie der Zentralen Orte eingeführt wird, obwohl niemand mehr an diese glauben würde, oder in der Kulturgeographie die Morphologie der Landschaft von Carl Sauer vermittelt wird, obwohl die Dozierenden diesen Ansatz lange für etwas komplett anderes aufgegeben haben (Agnew, 2012:322). Mit Blick auf Geograph:innen wie Ratzel, Mackinder und Semple schreibt er: „What real relevance do their writings have for understanding today's world? I would say, little or none“ (Agnew, 2012:322). Gleichzeitig beklagt er jedoch die Tatsache, dass die Geschichte der Geographie oft nur dazu genutzt werde zu zeigen, wie weit wir gekommen seien, statt ihre anhaltende Relevanz zu verdeutlichen. In Abwesenheit eines Kanons beobachtet er stattdessen „an obsession with the ‚novel‘ and the ‚fashionable‘“ (Agnew, 2012:321). Warum sollte man auch die „alten Sachen“ lesen, wenn die Anerkennung in erster Linie davon abhängt, inwieweit man up-to-date mit den neuesten Ideen aus anderen Fächern ist und diese für die eigenen Absichten zurechtbiegen kann? (Agnew, 2012:322).

Aus meiner Sicht zeigen diese Ansichten, wie wirkmächtig das „Fortschrittsnarrativ“ der Geographie ist, das wir uns und den Studierenden scheinbar immer wieder erzählen. Selbst wenn die Problematik des Narrativs erkannt wird, glaubt ein Großteil der Geograph:innen trotzdem nicht an den anhaltenden Wert der früheren Arbeiten. Für genauso kritisch, wie die konstatierte erhöhte Anfälligkeit der Disziplin für „sweeps of fashion or „fanons‘“ (Agnew, 2012:321) halte ich die Borniertheit und Ignoranz, mit der immer wieder auf die Geschichte des Faches geblickt wird. Nur die mangelnde oder oberflächlich bleibende Auseinandersetzung mit Werken unserer Vorgänger:innen macht es möglich, diese als irrelevant abzutun und führt dazu, dass die Verbindungslinien zwischen der historischen und der aktuellen Verwendung von Begriffen nicht mehr erkannt werden können. Werke, wie das gerade erschienene „Life, Earth. Colony“ (2023) von Ian Klinke, machen deutlich, wie es anders geht. Statt die Thematisierung der Geschichte der Geographie in der Lehre in Frage zu stellen, zeigt diese Debatte also vielmehr, wie wichtig sie ist und dass wir mehr darüber nachdenken müssen, wie wir es umsetzen, um solche Überzeugungen aufzubrechen. Wie Roberts (2014:332) schreibt:

The point is not so much to close down examinations of and debates about our key concepts but to enliven them.

Auch Farish (2014) setzt sich kritisch mit Agnews (2014) Ansichten auseinander. Dabei fokussiert er auf, in seinen Augen, zwei unhaltbare Trennungen, die Agnew vornimmt: die eine zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die andere zwischen Konzepten und ‚real-world‘ Phänomenen. Und so möchte ich hier noch einmal kurz auf die von mir eingangs angesprochenen Weltbilder junger Erwachsenen in Sansibar eingehen. Auch wenn sich die Formulierungen, mit denen mir die jungen Menschen ihren Blick auf die Welt zu vermitteln versuchten, oft nur wenig unterschieden, so waren ihr Selbstverständnis, ihre alltäglichen Handlungen und ihre gesellschaftspolitische Ausrichtung, die ich in der Zeit beobachten konnte, doch zum Teil äußerst unterschiedlich. Ich rang in der Arbeit also mit dem Verhältnis zwischen Weltbild und Handlungen, zwischen Diskurs und Praxis – eine Problematik, die die Kulturgeographie in den letzten Jahren intensiv beschäftigt hat, auch wenn sie nicht leicht zu untersuchen ist, da sich die Forschung häufig entweder insbesondere auf die Diskurse oder die Praxis konzentriert oder beides eher nacheinander abhandelt anstatt es miteinander in Beziehung zu setzen. Doch zeigt uns auch ein Blick auf unseren eigenen gesellschaftlichen Kontext, ebenso wie der Blick auf die Geographie, wie sie sich gegenwärtig gestaltet, wie vielfältig die Übersetzung eines dominanten Weltbildes in die Praxis aussehen kann. Wie kommt es dann, dass wir der Geschichte der Geographie zu bestimmten Zeiten oft nahezu jegliche Multiperspektivität, Vielschichtigkeit und Heterodoxie absprechen?

„Weltbildwechsel“ lädt dazu ein, sich eingehender mit der Geschichte geographischer Praxis zu beschäftigen und dadurch unser dominantes Narrativ zu erweitern und zu differenzieren. Wie es Sultana in einer Antwort auf den Beitrag von Agnew formuliert, geht es dabei schließlich auch wesentlich darum „to be accountable to what has been and is continued to be overlooked, ignored, erased, or captured“ (Sultana, 2014:338).

Wer sollte „Weltbildwechsel“ also lesen und damit arbeiten? Alle! Wie auch Elden (2014) in seiner Reaktion auf Agnews Äußerungen vor dem Hintergrund seiner Arbeit zu „Territorium“ (Elden, 2013) anschaulich herausarbeitet: Die Geschichte unserer Konzepte und Ideen ist ein entscheidendes und notwendiges Element einer kritischen Humangeographie. Und so ist zu hoffen, dass diese Einsicht auch entsprechend Eingang in die Lehre und unsere wissenschaftliche Praxis findet. Wie Schlottmann und Wintzer in ihrem Buch betonen, zeigt sich in der Auseinandersetzung mit der Fachgeschichte bisher noch ein klarer humangeographischer bias (Weltbildwechel, S. 23). Hier halte ich es für wichtig, die Ideengeschichte(n) des Faches um Einblicke in die physische Geographie zu erweitern und so verstärkt die Geographie als Ganzes in den Blick nehmen zu können. Schließlich erscheint mir eine gemeinsame Fachgeschichte zentral, um sich nicht nur mit seiner Subdisziplin, sondern mit der Geographie zu identifizieren und vermitteln zu können, was in der Geographie steckt.

So schrieb Lovejoy bereits in seinem Eröffnungsbeitrag für die neu gegründete Zeitschrift Journal of the History of Ideas im Jahr 1940:

None [of these considerations], certainly, questions the indispensability of specialization, but more and more have come to see that specialization is not enough (Lovejoy, 1940:5).

Die handlungszentrierten Geschichten der Geographie, die Schlottmann und Wintzer in ihrem Buch erzählen, machen dies aus meiner Sicht besonders deutlich. Und so möchte ich mit einer Beobachtung von Lovejoy enden, da ich denke, dass unsere Gegenwart zeigt, dass sich diese – obwohl 83 Jahre alt – gut auf die Geographie übertragen lässt:

A highly characteristic feature of contemporary work in many of the branches of historiography that are in any way concerned with the thoughts of [geography], [is] that the fences are – not […] generally breaking down but –, at a hundred specific points, being broken through; and that the reason for this is that, at least at those points, the fences have been found to be obstacles to the proper comprehension of what lies on either side of them (Lovejoy, 1940:5).

In diesem Sinne halte ich es für besonders spannend zu beobachten, wie sich das noch recht junge planetare Weltbild der Humangeographie nicht nur auf unsere zukünftige wissenschaftliche Praxis, sondern auch auf unsere Beschäftigung mit der Geschichte unseres Faches auswirkt und inwieweit beides dazu beitragen kann, die Bedeutung geographischen Denkens und Handels noch klarer zu vermitteln.

3 Offene Geschichten. Historizität und Gleichzeitigkeit geographischen Denkens und Handelns – Boris Michel

Parallel zu den Vorbereitungen für diesen Beitrag haben wir am Institut für Geowissenschaften und Geographie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg eine Ausstellung anlässlich der Feier des 150-jährigen Jubiläums der Geographie in Halle konzipiert. 1873 wurde Alfred Kirchhof Professor für Geographie in Halle und im selben Jahr wurde der Verein für Erdkunde zu Halle gegründet. Damit gehört das Institut zu den ältesten in Deutschland. Dies ist die zweite Ausstellung zur Geschichte des Instituts und des Vereins nach der Wiedervereinigung. Bereits das 125-jährige Bestehen wurde in Form einer umfangreichen Ausstellung gefeiert und reflektiert. Dies unterstreicht die Persistenz dessen, was Ute Wardenga bereits in den 1990er Jahren in einem Text zur Geschichtsschreibung in der Geographie als die Dominanz anlassgebundener Geschichtsschreibung in unserem Fach bezeichnet hat. Geograph:innen befassen sich meistens dann mit ihrer Geschichte, wenn es etwas zu feiern oder zu erinnern gibt (Wardenga, 1995). Eine eigenständige Geschichtsschreibung der Disziplin ist in Deutschland institutionell marginalisiert; Geographie und Geschichte sind hier weit weniger verbunden als in anderen Ländern.

Die Ausstellung aus den 1990er Jahren umfasste etwa zwanzig große Tafeln. Auf den meisten dieser Tafeln wurden einzelne Ordinarien und herausragende Geographen und ihre Lebenswerke vorgestellt. Neben Kirchhoff waren beispielsweise Tafeln zu Alfred Philippson, Oskar Schlüter oder Rudolf Käubler zu sehen. Zudem wurden diese biographischen Tafeln um einige Tafeln zur Institutionengeschichte ergänzt. Diese Tafeln sind interessant, fakten- und textreich. Leser:innen lernen einiges über die Entwicklung eines Instituts, das mit Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, DDR und wiedervereinigtem Deutschland in sehr unterschiedlichen politischen Konstellationen verortet war und darin Geographie betrieb. Die neue Ausstellung unterscheidet sich davon stark. Sie ist nicht primär chronologisch entlang der Achse Zeit strukturiert, sondern entlang von einer Reihe exemplarischer Motive geographischer Praxis. Gemeinsam entwickelt mit Studierenden in einer von Jonathan Everts und mir angebotenen Lehrveranstaltung, ist der Grundtenor der Ausstellung kritisch gegenüber der eigenen Disziplin und es waren insbesondere Themen wie Kolonialismus, das Verhältnis der Disziplin zum Nationalsozialismus und disziplinäre Geschlechterverhältnisse, die das größte Interesse auf sich zogen. Entsprechend aktueller ausstellungsdidaktischer Gepflogenheiten ist die neue Ausstellung deutlich multimodaler angelegt und mit deutlich weniger Text versehen.

Es geht mir mit diesem Einstieg nicht darum, einen Unterschied zwischen einer alten, unkritischen und personenbezogenen Geschichtsschreibung auf der einen Seite und einer neueren, kritischen und problemorientierten Zugangsweise auf der anderen Seite zu machen. Es geht nicht um eine Fortschritts- und Erfolgsgeschichte einer selbstreflexiven Geschichtsschreibung, die zu ihrer Vergangenheit lediglich ein distinktives Verhältnis hat. Vielmehr kann im Vergleich dieser beiden Ausstellungen verdeutlicht werden, was mir als ein wichtiger Beitrag von „Weltbildwechsel“ erscheint, und es können zugleich einige Probleme und Herausforderungen diskutiert werden.

Mit ihrem Buch „Weltbildwechsel. Ideengeschichten geographischen Denkens und Handelns“ legen Antje Schlottmann und Jeannine Wintzer nicht nur eine disziplingeschichtliche Monographie für die deutschsprachige Geographie vor, die eine eklatante Lücke auf dem geographischen Lehrbuchmarkt schließt. Erstmals seit langem kann in der Lehre auf ein Buch zurückgegriffen werden, das nicht von der anglophonen Erfahrung und Geschichte der Geographie des 20. Jahrhunderts ausgeht und nicht primär eine Entwicklungsgeschichte einer Teildisziplin wie der Kultur- oder Sozialgeographie darstellt. Darüber hinaus, und das macht den innovativen Kern des Buches aus, verfolgt es den Ansatz, eine Geschichte bzw. Geschichten geographischen Denkens und Handelns zu erzählen, die offen und vielfältig sind, Fixierungen vermeiden und zugleich Position beziehen. Eng verbunden mit dieser Offenheit ist Reflexivität ein zentraler Anspruch von „Weltbildwechsel“. Als zentrale Aufgabe kritischer Geographien wird Reflexivität dabei in mindestens drei Dimensionen relevant. Erstens in Bezug auf die eigene Positionierung als Forscher:in innerhalb der geographischen Wissensproduktion und in Bezug auf die Frage nach der spezifischen historischen Konstellation, aus der heraus über die Geschichte der Geographie gesprochen wird. Zweitens in Form einer Markierung und vielfältigen Thematisierung von Fallen der Geschichtsschreibung. Hier sind insbesondere Begriffe wie Eurozentrismus und Elitarismus, Teleologie und Linearität, Positivismus und Wertneutralität zu nennen. Drittens verweist diese Betonung der Reflexivität geographiehistorischer Aufmerksamkeit auf das gegenwärtige Geographie-Machen. Geographiegeschichte wird hier stark mit Gegenwartsbezug und einer Dezentrierung bzw. De-Essentialisierung gegenwärtiger Gewissheiten der Disziplin begründet. Mit der Betonung des geographischen Denkens und Handelns wird sich zudem von einer intellektualistischen und auch internalistischen Wissensgeschichte abgegrenzt. Radikalisiert wird dies durch die für geschichtswissenschaftliche Bücher ungewöhnliche Entscheidung, auf Zeit und chronologische Abfolge als primäre Ordnungs- und Darstellungsschemata zu verzichten. Das Buch ist eher entlang thematischer Tableaus organisiert, in denen die „Zeitebenen ineinander verschränkt“ (Weltbildwechsel, S. 9) sind, als über einen linearen Zeitstrahl.

Für eine kritische Würdigung von „Weltbildwechsel“ möchte ich im Folgenden drei Punkte zur Genealogie, zur Historizität von Begriffen und zur empirischen Erforschung von Leerstellen hervorheben. Diese drei Punkte verbinden das Buch auch mit den Herausforderungen, die sich im Prozess unserer Ausstellungsentwicklung stellten, und damit mit einem Beispiel für die Anwendung der in „Weltbildwechsel“ vorgeschlagenen Perspektive.

So interessant die Orientierung an Praktiken und Begriffen wie „Vermessen“, „Erklären“, „Erobern“ oder „Visualisieren“ als zentrale Strukturierungs- und Ordnungskategorien der Geschichtsschreibung ist, und so produktiv dies für das Verständnis einzelner Motive geographischen Handelns und Denkens jenseits einzelner Paradigmen ist, so scheinen mir damit auch Gefahren verbunden zu sein, die nicht so leicht zu bewältigen sind. Es stellt sich die Frage, ob mit dieser Perspektivierung nicht ein Verlust der Genealogie historischer Strukturen einhergeht. Der Fokus auf „Gleichzeitigkeit nicht Linearität“ (Weltbildwechsel, S. 32) läuft möglicherweise Gefahr, historische Gewordenheiten, Wirkungszusammenhänge und Pfadabhängigkeiten aus dem Blick zu verlieren. Die berechtigte Skepsis gegenüber teleologischen und deterministischen Geschichtsschreibungen und einfachen Entwicklungsnarrativen erschwert es, einzelne historische Konstellationen in ihrer Genese, aber auch in ihren übergreifenden Ordnungen zu verstehen. Wie lassen sich z. B. die vielfältigen Praktiken und Denkweisen des Vermessens, Erklärens, Eroberns und Visualisierens der quantitativ-theoretischen Geographie der Mitte des 20. Jahrhunderts einerseits als Einheit und andererseits als situierte Konstellation im historischen Kontext und in Abgrenzung zu früheren Geographien begreifen? Im Prozess der Ausstellungsentwicklung zeigte sich dies beispielsweise im Verschwimmen ideengeschichtlicher Paradigmen.

Ähnlich und zugleich etwas unterschwelliger scheint mir ein Problem in der Orientierung an Motiven geographischen Denkens und Handelns zu liegen, die zumindest implizit mit der Assoziation einer historischen Stabilität dieser Begriffe einhergeht. Eine der für mich wesentlichen Erkenntnisse einer Wissenschaftsgeschichte als historischer Epistemologie ist die Historizität der Begriffe der Wissenschaften. Dies gilt für die ‚großen‘ wissenschaftlichen Tugenden und Begriffe wie Objektivität, Wahrheit, Fakten oder wissenschaftliche Neugier, aber eben auch für die in „Weltbildwechsel“ vorgeschlagenen Motive zur Strukturierung der Geographiegeschichte. Es wäre daher kritisch zu fragen, ob mit diesen Begriffen nicht eine problematische Projektion der Gegenwart auf die historischen Geographien verbunden ist und ob man nicht Gefahr läuft, Begriffe zu enthistorisieren und bestimmte Praktiken und Begriffe als überhistorisch zu denken, gerade wenn man einen vergleichsweise so langen Entwicklungszeitraum beschreibt. Zum Beispiel kann man sich fragen, ob der Begriff „Erklären“ ein Begriff ist, der für 3000 Jahre geographischer Praxis stehen kann und der sowohl für die antiken Geographien, die Geographie der Länderkunde, die marxistische Sozialgeographie oder die neue Kulturgeographie einen Bezugspunkt bietet. Könnte der Begriff nicht vielleicht sogar ein stark umkämpfter Begriff sein und waren nicht Begriffe, die hier teilweise synonym verwendet werden, wie „Klassifizieren“ und „Beschreiben“, Begriffe, die in bestimmten Konstellationen durchaus als Antagonisten aufeinander bezogen wurden? So wurde als Kritik an der Länderkunde vorgebracht, dass es ihr eben nicht um Erklärung, sondern auch um „mere description“ (Schaefer, 1953:227) gehe, und ähnlich verläuft auch eine marxistische Kritiklinie an postmodernen und poststrukturalistischen Ansätzen. Es wäre also skeptisch zu prüfen, ob mit „Erklären“ in diesen verschiedenen Kontexten nicht etwas ganz anderes gemeint ist und wie sich dieser Begriff in den verschiedenen historischen Konstellationen zu benachbarten Begriffen verhält.

Der letzte Punkt betrifft die Herausforderung an die weitere empirische Forschung, der Forderung nach Offenheit und Reflexivität nachzukommen. Diese Forderung ist für mich eng verbunden mit der Feststellung von Leerstellen in der bisherigen disziplingeschichtlichen Forschung. „Weltbildwechsel“ wie auch unsere Ausstellung sind getragen von dem Wunsch, alternative Geschichten zu erzählen, von dem Wunsch, das Fach jenseits der ausgetretenen Pfade von Humboldt, Ratzel, Bartels et al. zu kartieren und Geschichte weder entlang einer intellektualistischen Ideengeschichte noch entlang der Biographien großer Namen zu erzählen. Eine alternative Geschichtsschreibung kann einerseits die Form einer kritischen Relektüre der bekannten Quellen und Episoden annehmen. Gegenüber einer monumentalen Geschichte wird so eine kritische Geschichte erzählt, die die von Schlottmann und Wintzer aufgezeigten Fallstricke möglichst vermeidet. Dies ist z. B. eine Geschichtsschreibung, die die Geographie auf ihre Rolle in und ihr Verhältnis zu Kolonialismus, Nationalismus etc. befragt, eine Geschichtsschreibung, die in den letzten Jahren in der deutschsprachigen Geographie durchaus dominiert hat. Gleichzeitig verfestigt sich damit aber möglicherweise das Bild einer Geschichte geographischen Denkens und Handelns, in der es in der Tat wenig positive Bezugspunkte gibt und in der sich vor allem die Vorzeichen ändern.

Die Forderung nach einer offenen und reflektierten Geschichtsschreibung wirft daher immer auch die Frage nach blinden Flecken und der Aufmerksamkeit für Leerstellen auf. Am prominentesten ist dies derzeit sicherlich in der Forderung nach einer Dekolonialisierung der Geschichtsschreibung. Diese Forderung steht jedoch vor der Herausforderung, dass sich das untersuchte Denken und Handeln gerade dadurch auszeichnet, dass es nicht als bewahrenswert erachtet wurde, dass diese Geschichte verschwiegen wurde und gescheitert ist und sich Hinweise darauf eher zufällig und eher an den Rändern der Archive finden. Dies erfordert eine kritische Analyse der Produktion von Unwissenheit und der Politik des Nichtwissens (Proctor, 2008). Dies wird beispielsweise an der Schwierigkeit deutlich, jenseits der Berichte weißer Kolonialgeographen den Anteil lokaler Arbeiter:innen an der Produktion geographischen Wissens herauszuarbeiten (Michel, 2019) oder die unsichtbar gemachte Arbeit von Frauen in der Geschichte der Geographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu erzählen (Michel und Paulus, 2020). Es bleibt also die wichtige und teilweise offene Frage, wie mit diesen Leerstellen empirisch umzugehen ist. Dies wurde im Rahmen unserer Ausstellung besonders deutlich, als Studierende versuchten, einen feministischen Blick auf die Geschichte unseres Instituts zu werfen.

„Weltbildwechsel“ ist eine Einladung zu einer überfälligen Diskussion in der deutschsprachigen Geographie. Der Vorschlag von Antje Schlottmann und Jeannine Wintzer eröffnet hier eine Reihe von produktiven und zum Teil auch provokativen Ansatzpunkten. Es ist zu hoffen, dass dies dazu beiträgt, die disziplingeschichtliche Diskussion zu intensivieren. Sowohl aus rein wissenschaftsgeschichtlichem Interesse und einer komplexeren und nuancierteren Beschreibung der Geschichte unseres Faches wie auch in Hinblick auf das gegenwärtige geographische Denken und Handeln. Die drei hier hervorgehobenen Punkte verweisen meines Erachtens auf einige der zentralen Herausforderungen bzw. Fallstricke, die der Liste hinzuzufügen wären, die eine reflexive, skeptische und kritische Geschichtsschreibung zu bedenken hat.

4 Vom Weltbildwechsel zu Weltbildwandel? – Francis Harvey

Die Konturen der geographischen Wissenschaft verschieben sich, das Buch Weltbildwechsel ist davon Zeuge. Dennoch geht es im Buch nicht einfach um einen historischen Wechsel; die Vielzahl der Änderungen bezeugen eher einen tiefgreifenden Wandel in der Geographie, denn es handelt sich hier nicht nur um eine einfache Aufeinanderfolge unterschiedlicher Episoden („Wechsel“), sondern um einen Wandel im Sinne einer Pluralisierung und einer daraus entstehenden Mehrdeutigkeit von epistemischen Positionen. Jeannine Wintzer und Antje Schlottmann laden eine breite Leserschaft ein, an der Breite und Tiefe ihrer Auseinandersetzung mit der Disziplingeschichte der Geographie teilzuhaben. Durch die hier vermittelte Geschichte des Faches finden Leser:innen Bezugsrahmen für ein vertieftes Verständnis der Veränderungen, die das Fach Geographie durchlaufen hat. Elf Kapitel zu unterschiedlichen theoretischen und methodischen Aspekten der Geographie schaffen einen diskursiven Rahmen für das Erlernen und Nachdenken über wichtige, wenn nicht immer zentrale Fragen der Geographie der Gegenwart, die aber im Einzelnen für die künftige Entwicklung der Geograph:innen maßgeblich sind. Durch dieses Buch können Geograph:innen sich neue Perspektiven im Fach eröffnen und alte Perspektiven kritisch beleuchten. Dieses Buch mit „Wechsel“ im Titel ist also zugleich sehr gut als intellektuelle Ressource für einen Wandel in der Geographie geeignet.

Die Geschichte der Geographie nimmt im Buch immer wieder die zentrale Rolle ein. Dabei geht die Darstellung über einer Positionierung der Geschichte der Geographie in der deutschsprachigen Geographie hinaus. Damit erhalten die kritischen Auseinandersetzungen mit der Geschichte des Faches eine zweite Rolle: Es geht auch um gesellschaftliche Auseinandersetzungen der Gegenwart, in der Geographie und der Gesellschaft, in der sie praktiziert werden. Die thematisch ausgelegten Darstellungen der Entwicklungen der Geographie kommen so in Berührung mit aktuellen Themen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, indem sie auf zugängliche und verständliche Art Theorien und Methoden verweben. Dies funktioniert sehr gut für Einsteiger:innen, bringt aber nur begrenzt neue Erkenntnisse für Fachleute, die sich mit der Geschichte des Faches auseinandersetzen und verschiedenste theoretische und methodischen Positionen vertreten. Für solche Nutzer:innen wird eine kritische Lesart, die die im Buch behandelten Narrative verkomplizieren, notwendig sein, um differenzierter dem dort beschriebenen Wechsel auf den Grund zu gehen und in entsprechenden Situationen nach Möglichkeiten für weiterführende Reflektion, empirische Ergänzung mit Quelltexten und theoretischen oder methodischen Austausch zu suchen. Das ABC der Geographie mit vielen hilfreichen Hinweisen im letzten Kapitel des Buches kann gerade dafür nützlich sein.

Das Buch besitzt meiner Meinung nach über die einzelnen Themen hinaus in seiner Gesamtheit eine weitere Relevanz: Es bietet ein kritisches Vokabular, um einer bestimmten Vorstellung von „Geographie“ in der Gesellschaft mit tradierten Bedeutungen von Raum und „schönen“ Karten entgegenzuwirken. Dazu sind besonders Historiker:innen des Faches, aber auch progressive Geograph:innen aufgerufen, die zugänglichen Darstellungen der Geschichte der Geographie aus dem Buch zu vertiefen, um die weit verbreitete Tendenz zur fachlichen Unterdeterminierung in der Darstellung geographischer Fälle abzuschwächen. Das würde auch bei der Auflösung paradigmatischer Abgrenzungen der geographischen Fächer im Verhältnis zu weiteren Wissenschaftsdiziplinen helfen. In diesem Sinne, denke ich, sollten vergangene, autoritaristische Züge des wissenschaftshistorischen Umgangs in der Geographie verabschiedet, und stattdessen eine kritische Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsökologie des Faches vorangetrieben werden. Kurz gesagt, der Ansatz des Buches ist sehr wichtig, doch stellt er, glaube ich, erst einen Anfang dar, und Geograph:innen sollten überlegen, wie sie aus einer Betrachtung von „Wechsel“ im Fach zu einem besseren Verständnis des tiefgreifenden Wandels unter individuellen Geograph:innen und Institutionen der Geographie beitragen können.

Vermutlich werden viele Leser:innen nur Auszüge und ausnahmsweise einzelne Kapitel des Textes lesen. Ein Gesamteindruck wird dann aus punktuellen Verständnissen und Vorstellungen entstehen. Vielleicht ist die derartige Lesart unausweichlich, doch können Leser:innen dadurch wichtige Einsichten verpassen und ihnen die im Buch vorgenommene Ausarbeitung relevanter theoretischer und methodischer Entwicklungen entgehen. Kapitel 6, Wahrnehmung, befasst sich zum Beispiel eingehend mit Wissenschaftsparadigmen, Erkenntnistheorien und kulturwissenschaftlichen Aneignungen in der deutschsprachigen Geographie. Die Darstellung der Entwicklung der Geographie ist in der humangeographischen Tradition breit angelegt. Das Kapitel stellt verschiedene wissenschaftliche Ansätze aus der Geographie anhand von Beispielen dar. Dennoch werden Wissenschaftler:innen, die sich mit Forschungen aus den kognitiven Wissenschaften (gerade im Bezug zu GIScience) und den Neurowissenschaften beschäftigen, sich nicht ohne weiteres auf manche Positionen des Kapitels beziehen wollen, da wichtige Ergänzungen zu den behandelten Themen und Theorien nötig wären. So ist die im Kapitel beschriebene Rekonstruktion von Wahrnehmungen durch Erkenntnisse zu ergänzen, die auf neurowissenschaftlichen Forschungen der letzten 20 Jahren über Abgänge im Nervensystem des Gehirns, Einsichten in die Rolle von Gridzellen für räumliche Navigation und die Spezialisierung bestimmter Gehirnbereiche für raumbezogenes Erinnerungsvermögen berufen. Daraus lässt sich neu überlegen, wie die Vorstellung, die Geographie rekonstruiere Wahrnehmungen, kritisch zu hinterfragen ist. Wissenschaftler:innen werden noch einige Zeit forschen müssen, bis eine Rekonstruktion des Wahrnehmens auch nur ansatzweise und verlässlich möglich werden kann. Die Kultur- und Raumwissenschaften setzen sich damit bereits auseinander (Lizardo et al., 2020; Barack and Krakauwer, 2021).

Mit der Darstellung von Fernerkundung im Kapitel 9, Visualisieren, finden Leser:innen eine gute, einführende Beschreibung von Fernerkundung als Arbeitsmittel der Geographie. Dies geschieht jedoch eher mit generellen Beispielen, die das Potential der Fernerkundung beispielhaft umreißen. Darüber hinaus wäre eine Auseinandersetzung mit epistemologischen Fragen und methodischen Konsequenzen in der geographischen Wissenschaft sehr hilfreich. Und über Fernerkundungsbilder hinaus hätten die Ansätze und Techniken von Hypersensoren und LiDaR, die durch ihre neuen Erhebungsmethoden zu neuen Möglichkeiten der geographischen Forschung führen, dargestellt werden können. Diese Beschreibung eines Wechsels in den technologischen Möglichkeiten in diesem Bereich der Geographie kommt mir in der Darstellung entscheidend zu kurz. Das ist aber nicht unbedingt schlimm – jedes Buch mit einem umfassenden Anspruch, die Geographie als Fach abzubilden, wird nicht alles darstellen können. Die Beschreibung der Grundlagen der Fernerkundung bietet aber einen guten Rahmen, um die Möglichkeit zu weitergehenden Aspekten und neuen Technologien aufzugreifen. Diese Stärken und Schwächen werden in den Auseinandersetzungen mit dem Buch deutlich werden. Hier, glaube ich, bleibt Weltbildwechsel ein sehr wichtiger Bezugspunkt für zukünftigen Wandel in der Geographie und der methodologischen Möglichkeiten des Faches.

Dazu möchte ich einige Aspekte aus der Kartographie aufgreifen – GIS wäre ein zweiter Kandidat. Ich wähle Kartographie, denn ich glaube, dass gerade die Kartographie als ein besonders tradierter und fundamentaler Bestandteil des Faches Geographie in den deutschsprachigen Ländern einen tiefgreifenden Wandel durch die Informationalisierung der Arbeit mit Wissen erleben wird. Dieser Wandel vollzieht sich von Karten, die über circa 40 Jahre als überwiegend institutionell spezialisierte und auf Papiermedium fokussierte graphische Darstellungsformen der geographischen Vermittlung beschränkt blieb, auf die gegenwärtigen, unüberschaubar gewordenen digitalisierten Methoden, Formate und Inhalte, die geradezu pilzartig aus verschiedensten Institutionen und der Kreativität vieler Menschen in und außerhalb der Geographie aus dem Boden schießen. Doch nicht überall und nicht in gleicher Weise. Vielleicht geht es in vielen Bereichen der Kartographie bisher weniger um epistemologischen „Wechsel“, sondern viel um technologischen Wandel. So zeigen Medienwissenschaftler:innen, wie sich der Bezugsrahmen für das Verständnis der neueren Formate der Geovisualisierung durch egozentrische semiotische Deutungen, die betonen, dass das Subjekt sich stets gegenüber einer Darstellung positionieren muss, verändert (Abend, 2015).

Diese Fragen erinnern an intellektuelle Kontroversen der letzten 30 Jahren: Seit Harleys Beiträgen zur Veränderung der Rollen und Möglichkeiten des Subjekts sind dies z. B. die Arbeiten von Cosgrove (2001) oder auch Kingsburys and Jones` Aufgreifen der dionysischen Unsicherheiten gegenüber der apollinischen Bestimmtheit der tradierten Kartographie (Kingsbury and Jones, 2009). Das Buch Weltbildwechsel lädt auch dazu ein, sich mit kritischen Perspektiven der Kartographie, angefangen mit Harley (1989) und Glasze (2009), aber auch anderen kritischen Studien (z. B. Monmonier, 1991; Herb et al., 2009; Palsky, 2017), auseinanderzusetzen. Hier eignen sich die Struktur und die Inhalte des Buches gut als Ausgangspunkte des theoretischen Zugriffes und als epistemologische Basis für explizitere Auseinandersetzungen mit den Methoden der Vergangenheit und den Wandel hin zu neuen methodischen Ansätzen. Es scheint beim Schreiben dieser Zeilen, dass wir auch die globalisierte Dimension der theoretischen und methodischen Diskurse im Übergang von Wechsel zu Wandel aufgreifen sollten (Harvey and Wardenga, 2006). Hier finden sich oft wenig hinterfragte hegemoniale Positionen und disziplinäre Mythen vergangener Generationen von Geograph:innen. Sprache beschränkt den Umgang mit Wandel, aber Globalisierung öffnet viele Möglichkeiten und einen Zugang zu Texten und Menschen mit „Migrationshintergrund“ können zu einem Blick über tradierte disziplinäre Auseinandersetzungen ermuntern.

Ein Beispiel aus der Kartographiegeschichte aus dem Kapitel 9, Visualisieren, kann dies verdeutlichen. Mark Monmonnier schrieb bekanntlich, wenn auch in polemischer Absicht, dass „alle Karten lügen“ (Monmonier, 1991). Aber was heißt das, wenn wir Visualisierungstheorien, -methoden und kartographischer Praxis auf den Grund gehen? Die Diskussion seit Harley hat sich stark damit auseinandergesetzt (auch in verschiedenen Sprachen) und der Wandel in kartographischer Praxis und Visualisierungsmethoden geht weiter. Matthew Edney bietet dazu wichtige Einsichten aus der Kartographiegeschichte (Edney, 2019). Edney argumentiert, dass das Ideal der Kartographie im 19. Jahrhundert entstanden und danach zur idealisierten Form der Darstellung in der Moderne geworden sei. Dabei ist Maßstab ein besonders wichtiges Mittel der Idealisierung von Mensch-Umweltverhältnissen durch die Geometrie. Diese Idealisierung unterminiert das Fundament des Glaubens an das Verhältnis der Karte zur Welt. Kategorien von Maßstäben, die traditionell zur institutionalisierten Praxis kartographischen Arbeitens gehören, ermöglichen nun neue kritische Reflexion.

Das Verhältnis von geographischer Vermittlung und Machtausübung ist ein wichtiges Thema, um der Verflechtung geographischen (disziplinären) Denkens mit Staat und Gesellschaft nachzugehen. Cosgrove zeigt zum Beispiel die Rolle der geographischen Darstellung und die Macht des römischen Kaisers auf. Benjamin, Jay, Barthes, Cioccia und andere suggerieren, dass Bilder und Karten nicht einfach Macht besitzen. Es ist vielmehr so, dass wir, wie Barthes treffliche Analysen zu Werbegraphiken aufzeigen, Bilder nutzen, um Lücken und Widersprüche im Wissen und gesellschaftlichen Koordinationsvermögen zu schließen. Eine sozialkonstruktivistische Analyse der Rollen der geographischen Vermittlung des Fachs Geographie scheint hier eine wichtige Ergänzung. Kunsthistorische Zugriffe, wie derjenige von Drucker (2014) zu visuellen Formen des Wissens, wie z. B. in Reading National Geographic oder Material World, können neue theoretische und methodische Perspektiven über Wandel in unserem Verständnis des Faches Geographie und über den Wandel im Fach selbst anbieten. Wir sollten auch Impulse von feministischen Wissenschaftler:innen (D'Ignazio and Klein, 2020) aufgreifen, um das männliche Privilegieren des Sehens und der Schaffung von Institutionen in seinen Auswirkungen und Vorurteilen besser zu verstehen.

Das Buch Weltbildwechsel lädt uns dazu ein, das historische Verständnis des Faches Geographie als aktiven und diskursiven Prozess statt als archivistische und monolithische Sammlungen von Veröffentlichungen und Personen (überwiegend Männer) zu beschreiben. So bietet Fachgeschichte Impulse auch für die Auseinandersetzung der Geographie mit zukünftigen Fragen und Gesellschaftsformen. Auch wenn ich mich dabei auf Überlegungen zur Humangeographie konzentriert habe, sehe ich ebenso die Möglichkeit, mit diesen Ansätzen auch naturwissenschaftliche Dimensionen des Faches zu analysieren.

Am Ende meines Beitrags ist mein Fazit einfach: Auch mit allen erwähnten Beschränkungen bietet das Buch Weltbildwechsel seinen Leser:innen über seinen zeitgemäßen Zugang in die intellektuellen Landschaften des Faches Geographie eine einmalige Chance. Das Buch hilft bei der Identifikation von Monolithen aus der Disziplingeschichte der Geographie; zugleich eröffnet es die Türen für eine vertiefte ideengeschichtliche Auseinandersetzung. Zwar hat auch Weltbildwechsel einige blinde Flecken, durch seine Tiefe und Breite kann es aber mehr Menschen den Zugang in die Geographie und ihre historischen und gegenwärtigen Diskurse eröffnen. Gerade über die Besinnung auf die Positionen und Beschränkungen vergangener Geograph:innen bekommt das Fach mit Weltbildwechsel ein wichtiges Buch mit viel Potential für die Weiterentwicklung des Faches Geographie als solches, nicht nur der Fachgeschichte als Wechsel verschiedener Episoden, sondern als Beitrag zum Wandel der Geographie in der Gegenwart.

5 Weltbildwechsel: Replik auf die Besprechungen – Antje Schlottmann und Jeannine Wintzer

Die kritische Würdigung getaner Arbeit und das Weiterdenken eines kreativen Vorschlags sind wohl das Beste, was Wissenschaftler:innen und Autor:innen passieren kann. Welche Reaktionen rufen die eigenen Gedanken, Ordnungen und Kritiken bei den Studierenden und Kolleg:innen hervor? Wir stellten uns diese Frage während und bis zum Ende des Schreibprozesses. Das Schlimmste zu erwarten, wäre jedoch die Reaktionslosigkeit und damit der Hinweis auf Ignoranz und fehlende Resonanz zu den Ideen, die man der Welt preisgegeben hat. Ein wenig sah es so aus, als die Fertigstellung dieses Buches nach 15-jähriger Vorgeschichte quasi mit dem Ausbruch der Corona Pandemie zusammenfiel. Wer dachte angesichts drängender pandemischer Ausbreitung und Sorge um planetare Zukünfte an geographische Fachgeschichte?

Unser großer Dank geht daher zunächst an Benedikt Korf und Ute Wardenga, deren Vorschlag zu einer Fachsitzung zu unserem Buch am ersten postpandemischen DKG Ausgangspunkt dieser nun auch verschriftlichten Diskussionen von Francis Harvey, Boris Michel und Julia Verne sind. Nicht zuletzt geht unser Dank auch an Ian Klinke für seinen wertvollen inhaltlichen Beitrag zu der Sitzung. Wir sind den Besprechenden zutiefst dankbar für ihre wertschätzende Kommentierung und die damit einhergehende Weiterführung unseres Tuns. Mit dieser Replik wollen wir nun unsererseits diese Wertschätzung zusammen mit weiterführenden Gedanken zu den Kommentaren und Einwänden zurückgeben.

Eine erste Bereicherung ist Francis Harveys Spiel mit den Begriffen „Wechsel“ und „Wandel“. Es geht in unserer Betrachtung auch um Wandel, da wir den Blick öffnen wollen für die Dynamik des geographischen Denkens und Handelns, für die (schleichenden) Übergänge und vielfältigen Überlagerungen der Ideen einer Disziplin. Paradigmen knipst man nicht an oder aus wie Lichtschalter und sie lassen sich nicht wechseln, wie Kleider vor dem Garderobenspiegel. Sie wandeln sich oft eher schleichend, bis – wie Thomas Kuhn es dann auch tatsächlich nennt (paradigm shift, nicht change) – es zu einem erkennbaren „Wechsel“ kommt.

Dieser Wechsel kann jedoch nur aus einer Metaperspektive und historisierend konstatiert und nachvollzogen werden, quasi, wenn es schon vorbei ist. Mit dem Begriff des Wandels kommen wir hingegen wieder etwas näher an den subtilen Prozess der Verschiebung von Weltzugängen und Erkenntnisweisen, wenn sie „in der Luft liegen“, aber noch nicht im rationalen Wissenssystem greifbar sind. Dann lassen sich Öffnungen auch früher wahrnehmen, als es Ex-post-Erzählungen erlauben. Möglicherweise ermöglicht das auch den Blick auf Wandlungen, die letztlich nicht zu einem Wechsel geführt haben, sondern – Boris Michel wirft das zu Recht ein – in der Geschichtsschreibung verschwiegen wurden oder unsichtbar und in diesem Sinne erfolglos blieben.

Der „Erfolg“ von bestimmten Erzählweisen kann auch darin gesehen werden, dass sie weiterhin wirkmächtig sind, weil die damit verbundenen Erzählungen und Argumentationen so klar und plausibel und damit faktisch erscheinen. In Tim Marshalls Buch „Macht der Geographie“ fungiert Geographie als Synonym des metrischen Raumes der Landschaft. Dessen Erfolg zeigt, dass die Erzählungen einer von naturräumlichen Gegebenheiten determinierten Gesellschaft und eine naturgegebene Begründung ihrer Politik und Kriege, durchaus sehr lebendig sind (vgl. Weltbildwechsel, Kap. Erklären); und dies obwohl das durchaus große Denkkollektiv der konstruktivistisch/post-strukturalistisch orientierten Sozial- bzw. Humangeographie nach dem cultural turn sie als totes Ende glaubte.

Womit sich erneut die kritische Frage stellt: Für wen hat die Rekonstruktion welchen Weltbilds Gültigkeit? Mit welcher Blindheit gehen wir im Alltag und in der Wissenschaft dominierenden Verständnissen unkritisch auf den Leim, weil sie den hegemonialen Epistemologien entsprechen? Mit welcher Legitimation sprechen wir in unserer Rekonstruktion für eine eurozentristische, androzentristische, weiße, bildungsbürgerliche gesellschaftliche Gruppe, deren Geographie auch in unseren Fachbüchern steht und in unseren Hörsälen gelehrt wird und daher so selbstverständlich richtig scheint?

Die Rede vom Wechsel, weniger ontologisch denn epistemologisch verstanden, betont auch die zugegeben beschränkte, aber doch gegebene Möglichkeit der Blickverschiebung und des Wechsels von Perspektiven, Blickrichtungen und den verwendeten Linsen. Es liegt, so wird mit ihr nahegelegt, eben auch in der Macht der Betrachtenden, sich von etablierten Denkmustern, auch zum Beispiel von kolonialen Weltbildrelikten, vielleicht nicht zu befreien, aber doch kritisch zu distanzieren.

Dieser Prozess ist mühsam und – bei ehrlicher Reflexion der zu vermutenden eigenen blinden Flecken – auch frustrierend. Der Vorsatz und Wille zum Perspektivenwechsel, der aus der reflexiven Beschäftigung mit zum Beispiel einer die Eroberung als legitime Praxis darstellenden Wissenschaft erwachsen könnte, mag dennoch einen Unterschied machen und über den Wechsel der Perspektive zum Wandel der Haltung führen. Es wäre ganz in unserem Sinne, wenn unser Buch dazu einen Beitrag leisten würde!

Eine zweite Bereicherung sind Boris Michels Hinweise auf drei Schwächen unseres Konzepts, die er höflicherweise „Gefahren“ nennt. Darunter an erster Stelle die Gefahr einer Blindheit für die Genealogie historischer Strukturen.

Dem Einspruch muss wohl stattgegeben werden. Sicher ist das Disaggregieren der chronologischen Erzählung „der“ Geographie in neue Kategorien geographischer Praktiken dem Erkunden und Verstehen von bestimmten Geographiesträngen zu bestimmten Zeiten (historischer Kontext) nicht förderlich. Auch das Begreifen von Abgrenzungen zu früheren geographischen Epochen ist dann kaum, zumindest nicht scharf und damit geschichtswissenschaftlich gewinnbringend möglich. Darüber hinaus wird es aus unserer Erzählperspektive auch schwieriger, die Kontinuität und Persistenz von bestimmten ideengeschichtlichen Paradigmen kenntlich und verstehbar zu machen. Wir wollten es aber so machen, weil es in unserem Buch nicht länger um verschiedene Stränge der einen großen Kategorie Geographie gehen sollte, deren zeitlich scheinbar vorgegebenen Vors (Gründe) und Danachs (Folgen). Stattdessen sollte eine solcherart große Erzählung durch unsere anderen kleinen Erzählweisen auch im Hinblick auf die Verführung zur selbstverständlichen Hinnahme kritisch hinterfragt werden.

Genealogien kommen bei uns dann aber doch zum Tragen; nicht in Bezug auf geschichtliche „Container“, sondern mit Blick auf die einzelnen Praktiken. Die Abgrenzung von Praktiken ist zugegeben nicht mehr oder weniger kontingent als die von zeitlichen Kategorien oder bestimmten Denkstilen oder Schulen. Dementsprechend sehen wir sie selbstredend auch nicht als einzige oder einzig sinnvolle Ordnung an. Aber sie erlaubt es, mit der Erzählung immer wieder aufs Neue anzusetzen und mit dem Fokus auf eine andere Praxis anders zu erzählen, wobei stets die Arten und Weisen der Welterschließung im Fokus stehen, nicht deren (wie auch immer fixierte) Ergebnisse. Dass bei dieser Iteration dann Redundanzen auftreten, ist stilistisch, naja gelinde gesagt, ungewohnt, aber auch gewollt, denn diese offenbaren Verbindungslinien, Übergänge und Gleichzeitigkeiten.

Die Wahl der Begriffe, auch das hat Boris Michel herausgestellt, ist bei uns dabei tatsächlich etwas eklektisch, jedenfalls aber verhandel- und erweiterbar; und sie ist gegenwartsbezogen. Ein wichtiger Einwand: Die Historizität der gewählten Begriffe tritt dabei in den Hintergrund. Wie können wir davon ausgehen, dass die von uns rückblickend als zentrale Modi der wissenschaftlich-geographischen Welterschließung hervorgehobenen paradigmatischen Praktiken auch zu der jeweiligen Zeit gleichermaßen bedeutsam oder vorherrschend waren? Ließen sich Erzählungen der zeit- und kontextbedingten Bedeutung des Vermessens oder des Erklärens rekonstruieren, also als Metaebene der Bedeutung von Raum durch seine wissenschaftliche und alltägliche Herstellung, als geschichtswissenschaftliche Rekonstruktion der geographischen Praktiken? Die Archive dahingehend zu befragen, scheint uns äußerst sinnvoll (vgl. Schlottmann, 2005), lag aber nicht in unserem Vermögen. Ein solch geschichtswissenschaftlicher Zugriff auf Arten und Weisen der Raumproduktion und damit verbundene Weltbilder könnte aber auch die interessante Frage nach den Brüchen in den Herstellungsweisen und Aneignungsprozessen von Raum (und Welt) erhellen. Dabei wäre dann auch eine Erkundung außerwissenschaftlicher Quellen bezüglich des räumlichen common sense interessant (Schlottmann, 2005:132).

Eine lohnende Erweiterung wäre daran anschließend, einen umfänglicheren Blick auf die Veränderung von fachübergreifenden „Epistemologien“ zu werfen. Auch wenn die sich vielleicht, wie Francis Harvey für die Kartographie anmerkt, eigentlich auf Technologien im Wandel zurückführen lassen, scheinen doch technologische Möglichkeiten der Visualisierung immer mit neuen Sichtweisen, Sehgewohnheiten und nicht zuletzt neuen Einblicken, aber auch neuen Unsichtbarkeiten verbunden. Technologie und Epistemologie würden wir bei einer solchen Betrachtung also nicht präskriptiv trennen, auch wenn es durchaus interessant ist zu fragen, inwiefern verschiedene neue Technologien demselben epistemologischen Paradigma unterliegen oder einen Wandel anzeigen.

In ihrem umfassenden Werk zur Geschichte des Begriffs von Objektivität und dessen Bedeutung für das wissenschaftliche epistemologische Paradigma zeigen Daston und Galison (2021) anschaulich, wie sich mit den Bildern in wissenschaftlichen Atlanten der Begriff von Objektivität seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (der Zeit, zu der sich die Idee von Naturtreue und naturgetreuer Abbildung durchsetzte) bis ins 20. Jahrhundert wandelte. Dies ist gleichzeitig auch als Wandel der Erkenntnistheorie und des wissenschaftlichen Sehens in Folge der neuen Abbildungstechnologien zu verstehen.

Vorstellen und Darstellen sind Schürmann zur Folge keine konsekutiven Akte, sondern als untrennbar und wechselwirkend miteinander verbunden zu betrachten, denn „[d]ass Wirklichkeit darstellerisch vermittelt wird, bedeutet notwendig: aspektisch erfasst, perspektivisch angeordnet und spezifisch konfiguriert“ (Schürmann, 2018:31). Im gleichen Sinne lässt sich der Prozess des Wandels von Weltbildern als Vor- und Darstellungen als Wechselspiel verstehen und dieser Vorgang ist, wie auch Daston und Galison für ihre Entwicklungsgeschichte der Objektivität klarstellen, weniger ein stetiges Ablösen und Erneuern, sondern ein Hinzukommen und Diversifizieren von Alternativen.

Die Wirklichkeit abbildende wissenschaftliche Darstellung, ob im Luftbild oder der gezeichneten Karte, ist ihnen zufolge auch ein Ergebnis von Entscheidungen, die Wissenschaftler:innen auf der Basis von epistemischen Tugenden treffen, auch wenn sie dies nicht bewusst tun.

History alone cannot make the choice, any more than it can make the choice among competing moral virtues. But it can show that the choice exists and what hinges on it (Daston und Galison, 2021:42).

In diesem Sinne muss es in der Fortführung unserer Geschichten auch darum gehen, den Wandel und – bezogen auf bestimmte Praktiken – auch Wechsel von epistemischen Tugenden (von Systematik, Präzision, Eindeutigkeit und Naturgetreue bis Reflexivität, Offenheit, Kontingenz voraussetzend, aber auch postkolonial oder posthuman) in Verbindung mit der geographischen Wissenschaft, deren Praktiken und Techniken samt zugehörigen Technologien zu bringen. Vorausgesetzt, hier werden keine linearkausalen Prozesse vorausgesetzt. Dann lässt sich fragen, wie postkolonial heutige geographische Praktiken (des Kartierens von Landnutzung etwa) und wie offen und reflexiv scheinbar überkommende Praktiken wie etwa die Landschaftsmalerei sind. Ein solches Projekt ließe sich auch mit der von Boris Michel gut gestellten Frage nach der möglichen Umkämpftheit von einigen der von uns doch etwas nonchalant unhinterfragt gesetzten Praktiken wie dem „Erklären“ vereinbaren und neue Einsichten erbringen.

Im Sinne dieser fortlaufenden Verstrickung von Erkennenden und Erkanntem ist eine dritte Bereicherung der Hinweis von Julia Verne auf das Schattendasein und den mangelnden appeal der Lehre von Wissenschaftstheorie und deren Geschichte und die damit verbundene Forderung nach mehr historisch fundierter erkenntnistheoretischer Arbeiten für das Fach. Eine solche hat beispielsweise Benno Werlen zur ontologischen Bestimmung von Gesellschaft und Raum vor vielen Jahren vorgelegt (Werlen, 1999). Die verjährt auch nicht, aber mit Blick auf neue Theorien und Technologien müsste sie fort- oder nochmal anders geschrieben und zeitgemäß didaktisiert werden. Dass solche Arbeiten damals wie heute eher schwer vermittelbar sind, ist noch eine andere Geschichte. Dies hat einerseits etwas mit Fach- und Bildungspolitik zu tun; andererseits ganz sicher und ganz viel mit heute herrschenden epistemischen Tugenden wie Geschwindigkeit, Fortschritt, Wissenswachstum, Anwendbarkeit.

Im Kontext von „fast science education“ (Stengers, 2018) wird die Botschaft „history will teach us nothing“ (Sting) schnell falsch verstanden als Argument, von der Geschichte könnten wir generell nichts lernen, weil die Zeit eine andere sei und die Begriffe in der Gegenwart anders verwendet würden (Julia Verne hat das anhand der Debatte um die Thesen von John Agnew sehr pointiert eingebracht). Das ist ein Argument, das zum Beispiel auch in der Diskussion um den Fortbestand kolonialer Denkweisen im Naturschutz auftritt: Weil es heute nicht mehr so gemeint ist wie damals, und weil „wir uns“ heute kritisch-reflexiv von der Vergangenheit distanzieren, SIND unsere Handlungen nicht mehr kolonialistisch. Wenn hingegen geschichtliche Kontinuität als diskursive Einschreibung akzeptiert wird, wäre die Haltung (auch im Sinne der critical whiteness) eine andere: Weil wir diese Geschichte im Gepäck haben, sind unsere Handlungen vermutlich und zu einem gewissen Grad kolonialistisch. Eine solche Haltung würde die Benachteiligten weniger kompromittieren, insofern ihnen ihre Kritik nicht einfach als nicht mehr zeitgemäß zurückgewiesen wird. Um Genaueres herausfinden zu können, wäre dann aber wieder die Geschichte des Faches, der Geographie, der Biologie etc. zu befragen.

Niemand entscheidet sich aktiv dafür, in einer bestimmten Zeit bzw. Epoche oder als weiße Privilegierte in die Welt zu blicken. Das mag entlasten, deswegen ist aber auch niemand frei von Verantwortlichkeit in Bezug auf das eigene wissenschaftliche Tun. Im Gegenteil, die Mittäter:innenschaft an der machtvollen Durchsetzung von erlernten Denkstilen lässt sich auch deswegen nicht entschuldigen, weil sie keine Frage von individueller Schuld oder Unschuld sein kann; weil die Wirkmächtigkeit von Epistemologien und Deutungen eines Denkkollektivs ein (geschichtswissenschaftlich erforschter) Tatbestand ist, für den es keine individuelle Verantwortlichkeit im Sinne einer persönlichen Handlungsmacht gibt. Es ist die kollektive Verantwortlichkeit des Denkkollektivs, die hier herauszustellen ist, die es aber fachgeschichtlich auch erkennbar zu machen gilt.

Die individuelle Verantwortung liegt dann darin, sich mit Hilfe der fachgeschichtlichen Rekonstruktionen in einem fortlaufenden Prozess des Erkennens und Einsehens der eigenen, d. h. bewusst und unbewusst zu eigen gemachten Paradigmen bewusst zu werden und sich dementsprechend auch nach außen zu positionieren. Im Sinne der aktuellen Debatte um epistemische Gerechtigkeit heißt das auch, andere Weltbilder nicht nur zu rekonstruieren, sondern als Alternativen ernsthaft zu durchdenken. Auch Sting geht es im gleichnamigen etwas fatalistischen Song eher darum, dass die Menschheit nicht besser wird, weil sie aus der Geschichte nichts lernt, sondern nur auf frühere Generationen als Vorbilder verweist und sich daher nie etwas ändert.

Abschließend möchten wir den Begriff der Leerstellen aufgreifen, den Boris Michel eingebracht hat – Leerstellen von übersehenen, unbeschriebenen und unsichtbaren Akteur:innen und Leistungen, die auch unsere Geschichtsschreibung erzeugt. Es ist unseres Erachtens tatsächlich ein äußerst lohnendes Projekt, eine Geschichte der Leerstellen und Unsichtbarkeiten zu schreiben oder, besser noch, auf verschiedenste Art, visuell, textlich, auditiv, performativ darzustellen. Denn die Unmöglichkeit des gewollten Blicks auf etwas, das schlicht nicht gesehen und archiviert wurde, scheint doch neben der kritischen Analyse von Unwissenheit und der Politik des Nichtwissens auch ein experimentelles Erkunden und andere Möglichkeiten der Darstellung geschichtlicher Erkenntnis nötig zu machen.

Hiermit wäre vielleicht auch eine weitere Leerstelle unseres Buches zu füllen: die Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Implikationen des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz im geographischen, aber auch im geschichtswissenschaftlichen Tun. Warum also nicht die Leerstellen als Möglichkeitsräume begreifen und mit Hilfe von KI sicht- und sagbar machen? Was wäre, wenn … Frauen in der Geschichte der Geographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Geographiegeschichte hätten maßgeblich mitschreiben können? Was, wenn sie es getan haben, aber keiner hingesehen hat? Eine aktuelle Ausstellung im Schader Forum in Darmstadt heißt „Versäumte Bilder“ und zeigt durch die Anwendung von KI nie gemachte Bilder von Wissenschaftlerinnen, um die Leerstelle von deren visueller Unterrepräsentiertheit zu füllen (Schader Stiftung, 2024).

In diesem Sinne gilt es abschließend noch einmal Julia Vernes Hinweis auf das (auch von uns keineswegs ausgeschöpfte) Potential einer internationalen, vielsprachigen Geographiegeschichte aufzugreifen. Weltbildwechsel lädt ein zum Weiterdenken und Weiterschreiben auf dem Weg zu einer Fachgeschichte, der es irgendwann gelingen könnte, nicht nur vielsprachig, sondern auch vielstimmig zu sein. Hierfür sind auch Formate des Austauschs interessant, die jenseits linearer Textproduktion agieren: Wir denken an Workshops und andere kollaborative Arbeits- und Veröffentlichungsformen. Denn bei allem fachgeschichtlichen Tun gilt es, so unser Fazit, der alleinigen Urheberschaft am eigenen Weltbild mit der nötigen Skepsis zu begegnen, die eigenen biographisch angesammelten Bilder, Ideen, Eindrücke und Erfahrungen schonungslos offenzulegen, mit ihnen aber auch produktiv umzugehen. Im Sinne des von Julia Verne zitierten Aufrufs von Susan Roberts: „enlive the concepts!“.

Haftungsausschluss

Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten, institutionellen Zugehörigkeiten oder anderen geographischen Begrifflichkeiten neutral. Obwohl Copernicus Publications alle Anstrengungen unternimmt, geeignete Ortsnamen zu finden und im Manuskript anzupassen, liegt die letztendliche Verantwortung bei den Autor:innen.

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1

Francis Harvey plant, diese Thematik in Form eines Workshops „Ideengeschichte lebendig machen“ weiterzuverfolgen. Kontakt bei Interesse und Fragen: f_harvey@leibniz-ifl.de.

2

Auch wenn in diesem Beitrag natürlich das diskutierte Werk im Zentrum steht, so halte ich es gerade im Sinne des Buches für unabdingbar, meinen eigenen Hintergrund und die damit zusammenhängenden Gedanken und Praktiken offenzulegen.

3

Eine Ausnahme ist das vor Kurzem erschienene Buch des Oxforder Geographen Ian Klinke zu Friedrich Ratzel (Klinke, 2023).