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„Wir sind nie säkular gewesen“: Politische Theologie und die Geographien des Religiösen
In these afterthoughts to a themed issue on the „Geographies of Post-Secularity“, I critically interrogate the analytical purchase of the terminology of post-secularism. I suggest that the concept of the post-secular is ill-suited to provide a vocabulary for multi-religious societies in the West as much as elsewhere. Instead, I suggest that the vocabulary of a descriptive political theology (Assmann) better helps us grasp the continuing negotiation of the dialectic relations between the secular and the religious. I illustrate this conceptual vocabulary for the study of religion and politics in the postcolonial world, first, in the political-normative debates on Indian secularism, and second, in the everyday struggles of religious actors in the violent politics of Sri Lanka's civil war, to then return to debates on (post-) secularity. I conclude that, indeed, we have never been secular – that the dialectic relations between the secular and the religious are bound to remain, and to become further complicated in increasingly multi-religious societies.
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Am 14. Oktober 2001, wenige Wochen nach 9/11, hielt Jürgen Habermas seine Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Wir leben in einer postsäkularen Gesellschaft, diagnostizierte Jürgen Habermas, der sich selbst als religiös unmusikalisch bezeichnete: diese postsäkulare Gesellschaft habe sich „auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung“ einzustellen (Habermas, 2001:13). Die Gesellschaften in Europa seien mit einer „Wiederkehr“, einer „Rückkehr“, einem „Fortbestehen“ oder auch nur einer neuen „Sichtbarkeit“ religiöser Gemeinschaften konfrontiert. Die Theorie der Säkularisierung prognostizierte in einer Art Hegel'schen Teleologie das Verschwinden der Religion – als eine Art „Götterdämmerung“ (Sloterdijk, 2017:7), die der Moderne notwendigerweise als Prozess der „Entzauberung“ (Max Weber) eingeschrieben sei. Diese Theorie der Säkularisierung, so Habermas, sei zu revidieren.
Habermas entwickelte den Begriff der post-säkularen Gesellschaft gewissermassen aus der selbstzugeschriebenen Warte eines „säkularen Papstes“1 und verband seine zeitdiagnostische Aussage mit einem normativen Postulat: Als eine Art intellektueller Übervater verschreibt er dem liberalen Staat die Aufgabe, den normativen Gehalt religiöser Überlieferung wieder stärker als moralische Ressource in den öffentlichen Vernunftgebrauch zu integrieren. „Post-säkular“ bedeutet hier eine neuerliche Aufmerksamkeit auf Religion als moralische Ressource in einer liberalen und säkular bestimmten Öffentlichkeit. Es ist, so Hans Joas, „ein eloquentes Plädoyer an die säkulare Seite, den täglichen Übersetzungsleistungen der Gläubigen mehr entgegenzukommen“ (Joas, 2004:126), die bisher eben sehr viel stärker gefordert waren, ihre moralischen Intuitionen von einer tradierten religiösen in eine säkular anschlussfähige Sprache zu übersetzen.
Mit einiger Verspätung erreichte die Diskussion zum Begriff des Post-Säkularismus auch die deutschsprachige Religionsgeographie: Vom 11.–13. Juni 2015 traf sich eine interdisziplinäre Gruppe von Geographinnen, Ethnologen und Religionswissenschaftlerinnen, um über „Geographien post-säkularer Gesellschaften“ zu diskutieren. Der Impetus für diesen neuerlichen Anlauf, religionsgeographische Fragen aufzugreifen, kam, wie so oft in der deutschsprachigen Humangeographie, aus dem anglophonen Raum, wo der Begriff des postsecularism in den letzten Jahren eine signifikante Aufmerksamkeit erhalten hat (z.B. Cloke, 2011; Cloke und Beaumont, 2013; Gökariksel und Secor, 2015). Die Tagung griff aber auch bewusst Anregungen aus benachbarten Disziplinen auf, insbesondere aus der Religionswissenschaft und der Philosophie (Bochinger und Frank, 2015; Lutz-Bachmann, 2015; Taylor, 2009). Der Tagung ging es dabei um eine kritische Prüfung des analytischen Potenzials des Begriffs der Postsäkularität (vgl. Glasze und Schmitt, 2018).
In „Ein säkulares Zeitalter“ (2009:13ff.) schlägt Charles Taylor drei Bedeutungen von Säkularität vor: Erstens, in der Bezugnahme auf das Öffentliche, die ohne göttliche Rechtfertigung auskommt; zweitens in der Beobachtung, dass der religiöse Glaube und das Praktizieren der Religion dahinschwindet; und drittens: „dass man zu einer Gesellschaft übergeht, in der der Glaube eine von mehreren Optionen neben anderen darstellt“. Mir geht es in diesem Nachwort zu den Beiträgen zum Themenheft „Geographien der Postsäkularität“ vor allem um die Bedeutung des Säkularen als eines Aktes politischer Setzung (Lübbe, 2003) und um die Analyse der politischen Geographien des Religiösen (vgl. auch: Reuber, 2015). Damit wird die erste Bedeutungsebene von Taylor angesprochen: „Staat und Kirchen oder Religionsgemeinschaften lassen sich institutionell trennen, aber nicht das Religiöse und das Politische“ schreibt dazu Friedrich Wilhelm Graf (2013:26). Der immanente Widerspruch von „weltlich“ und „geistlich“ hat die abendländische (europäische) Geschichte in zahlreichen Metamorphosen und Transformationen geprägt (Koselleck, 2003:181f.). Die Frage ist: wie prägt dieser Widerspruch unsere heutige, globalisierte Welt?
Säkularisierung als Akt politischer Setzung ist nichts anderes „als die metaphorisch konsequente Einsetzung nicht-religiöser Gehalte in religiös präformierte Aussagen bzw. Aussagesysteme“ (Lübbe, 2003:133). Der Begriff „Religion“ ergab erst mit dem Aufkommen der Idee des „Säkularen“ überhaupt einen Sinn (Asad, 2003:192; Amesbury, 2018). „Säkularisierung“ ist deshalb kein neutraler Begriff, sondern normativ unterlegt und politisch umkämpft. Darauf wies schon Habermas in seiner Rede hin: Säkularisierung wird entgegengesetzt bewertet, „je nachdem, ob wir die erfolgreiche Zähmung der kirchlichen Autorität durch weltliche Autorität oder den Akt der widerrechtlichen Aneignung [von Kirchengütern] in den Vordergrund rücken“ (Habermas, 2001:12, Betonung im Original). In der Nachkriegszeit der Bundesrepublik hatte die Säkularisierungsthese zur Klage über einen allgemeinen Kulturniedergang gedient (Flasch, 2017:473). Hans Blumenberg bezeichnet Säkularisierung als eine Unrechtskategorie, die eine implizite Schuld der Neuzeit postuliert, gegen die sich Blumenberg in „Legitimität der Neuzeit“ (Blumenberg, 1988) wehrt. Dann ist ebenso zu fragen: Wird Postsäkularismus als eine Geschichte des Verlustes, des Niederganges oder der Bereicherung gelesen?
Dabei sollten wir nicht die vielfältigen Kontinuitäten in der Aushandlung des Verhältnisses von Kirche und Staat, Religion und Politik und der Bedeutung von Religion im öffentlichen Raum – auch in Europa – unterschätzen. Ein Beispiel aus der Schweiz kann dies verdeutlichen: Der Kanton Genf, Hochburg des Calvinismus, verabschiedete 1875 das „loi sur le culte extérieur“, ein kantonales Gesetz, das generell öffentliche Kultushandlungen und das Tragen religiöser Kleidung auf öffentlichem Grund verbot. Es untersagte u.a. katholischen Priestern, Mönchen und Nonnen das Tragen der Soutane bzw. des Ordenshabit. Noch 1981 wurde ein Gesuch auf Durchführung einer katholischen Prozession abgelehnt. Symbole des Katholizismus sollten als schädliche Elemente aus dem öffentlichen Raum ferngehalten werden – so wie heute (vermeintliche) Symbole des Islams: Populistische Politiker in der Genfer Kantonalpolitik beriefen sich erst vor Kurzem auf dieses Gesetz, das formal noch in Kraft ist, aber in den letzten Jahrzehnten nicht mehr angewendet wurde, um das Tragen von Burka und Kopftuch im öffentlichen Raum zu unterbinden. Was im 19. Jahrhundert den Katholiken vorgeworfen wurde – fehlende Staatstreue und gesellschaftliche Rückschrittlichkeit – wird heute auf islamische Gläubige in der Schweiz und anderswo in Europa projiziert, so zum Beispiel in Auseinandersetzungen um das Tragen der Burka und den Bau von Minaretten und Moscheebauten (vgl. schon: Schmitt, 2004).
Auf diese Probleme macht Habermas mit seinem Begriff des Postsäkularismus aufmerksam. Zugleich sollten wir den Begriff des Post-Säkularimus nicht unkritisch verwenden: Post-säkular klingt zu stark nach „Epochenwandel“ (Joas, 2004:124) – als ein Bruch mit etwas, was „vorher“ war. Es ist jedoch unklar, wann es diese „frühere ‚säkulare‘ Gesellschaft gegeben haben soll und was mit ihr eigentlich gemeint sein soll“ (Joas, 2004:123). Demgegenüber möchte ich die Phänomene, die vielfach mit dem Begriff postsäkular in Verbindung gebracht werden, eher als eine Verschiebung in der dialektischen Beziehung zwischen dem Säkularen und dem Religiösen beschreiben. Dialektik hier verstanden als „Widerspruch in den Sachen selbst, des Widerspruchs im Begriff“ und „die Art, in der der Begriff …sich bewegt, nämlich auf sein Gegenteil, das Nichtbegriffliche, hin“, wie Theodor W. Adorno schreibt (Adorno, 2007:17, Hervorhebung im Original).
Im Folgenden entwickele ich sieben Thesen, die dafür plädieren, das Begriffsvokabular, das aus der geschichtsphilosophischen Reflexion über die Säkularisierung in Europa erwachsen und in der Kontroverse um die Politische Theologie Carl Schmitts kulminiert ist, für die ethnographische Beobachtung alltäglicher Verhandlungen, Neujustierungen und Abgrenzungstaktiken im Beziehungsgeflecht von Religion und Politik in multi-religiösen Gesellschaften Europas und darüber hinaus nutzbar zu machen. Der Blick über Europa hinaus – genealogisch, ethnographisch – erlaubt dann eine Einordnung des europäischen Säkularisierungsprozesses als „ein partikularer, christlicher und postchristlicher Prozess, und nicht …ein allgemeiner, universaler Prozess der menschlichen und gesellschaftlichen Entwicklung“ (Casanova, 2015:111). Zugleich haben viele postkoloniale Gesellschaften den europäischen Gesellschaften etwas voraus: die Erfahrung multi-religiösen und polytheistischen Zusammenlebens.
These 1: In Anlehnung an Bruno Latour (2008)2 könnte man sagen: Wir sind nie säkular gewesen!
Kann man das sagen: „Wir sind nie säkular gewesen?“ Und worauf bezieht sich das „wir“ in dieser Aussage? Aus einer westeuropäischen Sicht klingt diese Aussage sicher provokant. Der Prozess der Säkularisierung, verstanden als Entkirchlichung und als Distanzierung von religiöser Praxis, ist in vielen westeuropäischen Gesellschaften zumindest unter der christlichen Bevölkerung weit verbreitet und schreitet stetig vorwärts. Mit jeder Generation schwindet die gelebte Praxis christlicher Religiosität (für die Schweiz: Bochinger, 2012). Wie fällt das Bild aus, wenn wir uns ausserhalb Europas bewegen? In vielen postkolonialen Gesellschaften ausserhalb Westeuropas, aber auch in den USA, scheinen Religiosität und Spiritualität allgegenwärtig zu sein. Aber auch schon ein Blick in Richtung Osteuropa, z.B. nach Polen, relativiert das Bild eines säkularen Europas.
Wenn ich hier die – bewusst provokante – These vertrete, wir seien nicht säkular gewesen, dann ist dies jedoch nicht religionssoziologisch gemeint, sondern religionspolitisch: die Aussage bezieht sich auf die vermeintlichen Errungenschaften der Neuzeit, die Hans Blumenberg in „Legitimität der Neuzeit“ (1988) verteidigt: die Errungenschaften der Religionsfreiheit – und damit auch der Freiheit, nicht religiös zu sein. Die Moderne (Blumenberg sprich von der Neuzeit) gründet auf dem säkularen Grundimpuls der Trennung von Kirche und Staat, Religion und Politik. In „The Stillborn God: Religion, Politics and the Modern West“ (2008) spricht Mark Lilla von der „Great Separation“ – der grossen Trennung von Politik und Theologie, die notwendig gewesen sei angesichts der Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts. Einer der ersten politischen Philosophen, der diese Trennung propagierte, war Thomas Hobbes, der erstmals politische Herrschaft rein immanent über den Gesellschaftsvertrag begründen – und damit „jeden Zugang zur göttliche Transzendenz [versperren]“ (Latour, 2008:29) wollte.
Die Moderne wird ihrem Anspruch, diese Trennung erreicht zu haben, jedoch nicht gerecht und pendelt stattdessen „ständig zwischen Transzendenz und Immanenz“ (Palaver et al., 2011:18; vgl. auch: Joas, 2017). Das ist mit der These gemeint: Wir sind nie säkular gewesen. Die Trennung zwischen Religion und Politik aufrechtzuerhalten benötigt vielfältige Reinigungs- und Vermittlungsanstrengungen, die dennoch nie ihr Ziel, die Trennung und Reinigung dieser beiden Sphären, komplett erreichen. Hier kommen die Überlegungen Latours in Spiel: Mit seiner Aussage „Wir sind nie modern gewesen“ (2008), ging es Latour um eine Kritik der Moderne und deren Versuch, klare begriffliche Grenzen zu ziehen – zwischen Kultur und Natur. Latour zeigte die Unmöglichkeit reiner Begriffe und begrifflicher Grenzziehungen auf: die Realität sei immer hybrider als es die begriffliche Trennungsarbeit suggeriere (vgl. für die Geographie: Zierhofer, 1999). Dieser Gedanke lässt sich auf den Versuch der Moderne übertragen, Politik und Religion – oder Herrschaft und Heil, wie es Jan Assmann (2000) nennt – zu trennen.
Dieser Grundgedanke soll uns in der folgenden Diskussion über den Begriff des Postsäkularismus leiten: dass wir es bei der Diskussion um (Post-) Säkularismus mit begrifflichen Rechtfertigungs-, Vermittlungs- und Reinigungsarbeiten zu tun haben, einer Praxis der Trennung, Sortierung und Reinigung gesellschaftlicher Phänomene an der Schnittstelle von Religion und Politik. Diese Arbeit an der Reinigung der Kategorien erreicht aber, argumentiert Latour, nie ihr Ziel. Sie ist dazu verdammt, eine Sisyphusaufgabe zu bleiben. Und diese Sisyphusaufgabe wird in unserer „breiten“ Gegenwart multi-religiöser Gesellschaften noch zusätzlich verkompliziert.
These 2: Im deutschsprachigen Raum sind religionspolitische Debatten eigentlich immer als Fussnoten zu Ernst-Wolfgang Böckenförde's Diktum zu lesen, „der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (Böckenförde, 1976:60).
Friedrich Wilhelm Graf spricht geradezu von einem kanonischen Status des Böckenförde-Diktums (Graf, 2013:27). Auch Habermas' Argumentation zur postsäkularen Gesellschaft muss als eine Variation genau dieses Diktums verstanden werden. So bezieht er sich wenige Jahre später explizit darauf in seinem berühmten Gespräch mit Joseph Kardinal Ratzinger in der Katholischen Akademie in München (Habermas, 2011). Habermas liest Böckenförde's Satz als „ein Bewusstsein von dem, was fehlt“ (Habermas, 2008), wenn der demokratische Verfassungsstaat nicht mehr auf „kollektiv verbindliche ethische Überlieferungen“ zurückgreifen kann. Und Habermas schien sich überraschend einig mit Ratzinger darin, vor einem zu engen, radikalen Säkularismus zu warnen, der eben keine moralisch sinnstiftenden kollektiven Ressourcen hervorbringe, sondern diese noch zu unterminieren drohe. So trug der Band mit den beiden Vorträgen auch den Titel „Dialektik der Säkularisierung“ (Habermas und Ratzinger, 2011).
Böckenförde insinuierte: Der freiheitliche Staat könne nur bestehen, wenn diese Freiheit sich in einem moralischen Humus der Gesellschaft regeneriere: „Das ist das grosse Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist“ schreibt Böckenförde (1976:60). Aber diesen moralischen Humus könne er gerade nicht mit seinen Instrumenten – Rechtszwang, autoritatives Gebot – hervorbringen, ohne seine Freiheitlichkeit zu gefährden – und ohne in einen Totalitätsanspruch zurückzukehren, den er gerade als Ergebnis der konfessionellen Bürgerkriege überwunden zu haben glaubte. Böckenförde wollte demokratieskeptische katholische Würdenträger und Verbände für die bundesrepublikanische Demokratie gewinnen und deren aktive Einmischung in die Politik ermutigen: „Böckenförde wollte mit seinen Aufsätzen zum Ethos der modernen Demokratie Ende der fünfziger Jahre die Katholiken dazu bringen, sich auf die Demokratie einzulassen“ (Müller, 2017:43). Die ganze Diskussion um Böckenförde – und im Anschluss daran: Habermas – ist zu verstehen vor dem Hintergrund der engen Verflechtungen von Kirche und Staat in Deutschland und deren engen Zusammenarbeit im Wohlfahrtsstaat.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, über welche Rezeptionswege der Begriff des Postsäkularismus Eingang in die deutschsprachige Religionsgeographie gefunden hat: Es ist ja ein gutes Zeichen für die Internationalisierung der deutschsprachigen Religionsgeographie, wenn wir von „place-making“ sprechen, die spannenden Arbeiten von Justin Beaumont, Paul Cloke, Anna Secor und Banu Gökariksel rezipieren – nicht zu vergessen die „big heroes“ Talal Asad und Charles Taylor. Ich hoffe jedoch sehr, dass die deutschsprachige Religionsgeographie „Habermas“ nicht nur über die anglophone Rezeption kennenlernt, die mit der spezifischen religionspolitischen Gemengelage im Ursprungsland der Reformation oft wenig vertraut – und viel stärker durch die US-amerikanischen „culture wars“ geprägt ist. Habermas können wir nicht ohne das Böckenförde-Diktum verstehen und Böckenförde wiederum, ein Schüler von Carl Schmitt, nicht ohne Rekurs auf die Säkularisierungsdebatte zwischen Hans Blumenberg, Karl Löwith, Jacob Taubes und Carl Schmitt in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit. Und dies führt uns, ob wir wollen oder nicht, zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem zweifelhaften Erbe der Politischen Theologie Carl Schmitts, mit dem sich, im übrigen, auch Jürgen Habermas ausführlich auseinandergesetzt hat (Habermas, 2012). Dazu mehr in These 4.
These 3: Böckenförde's Diktum hält für uns noch ein anderes Paradox bereit: der liberale Staat meint gerade jener religiösen Bindungen als Humus zu bedürfen, deren Gewaltpotenziale einzudämmen am Ursprung der raison d'être des modernen Staates stand: zuerst in Form des absolutistischen Herrschers à la Hobbes, später dann in der Gestalt des liberalen Rechtsstaates.
Begriffsgeschichtlich bedeutete „saeculum“ in der lateinisch-katholischen Weltvorstellung des (Früh-) Mittelalters das Andere der Ewigkeit Gottes. In der Kirche wurden säkulare Priester von den Virtuosen unterschieden. Säkulare Priester vollzogen ihren Dienst in der Welt, die Virtuosen zogen sich hingegen aus der Welt hinter Klostermauern zurück, um sich ganz in den Dienst der Ewigkeit Gottes zu stellen (vgl. Lübbe, 2003). Die Reformation änderte diese Abgrenzung von Säkulum und Reich – es kam, wie Karl Löwith (1953) schreibt, zu einer „Säkularisierung des Heilsgeschehens“: das weltliche Leben selbst wurde zum Bewährungsraum des Heiligen.
Es handelte sich um dramatische Umwälzungen – die Infragestellung einer heiligen Ordnung, in der Religion und Politik eine Einheit bildeten, auch wenn der Primat der Kirche in der Sphäre der weltlichen Herrschaft zunehmend unterminiert worden war. Schon mit dem Investiturstreit – dem Gang nach Canossa – und dem daran anschliessenden andauernden Kompetenzgerangel zwischen geistlicher und weltlicher Herrschaft entstand eine Säkularisierung des politischen Denkens (Fischer, 2009:23): der Versuch, Herrschaft ohne religiöse Basis begründen zu können, „Herrschaft und Heil“ (Assmann, 2000) zu trennen und Religiosität zu privatisieren. Eindrücklich erfolgt dies bei Thomas Hobbes, der damit die religiösen Bürgerkriege überwinden wollte. Hier treffen sich bereits Absolutismus und liberales Rechtsstaatsdenken.
Die immer schon vorhandene Spannung zwischen Herrschaft und Heil verfolgt uns bis in heutige Diskussionen religionspolitischer Art – auch und gerade in den sogenannten postsäkularen Gesellschaften. Woher kommen denn die Irritationen über die öffentliche Sichtbarkeit bestimmter Religionen in Europa? Haben sie nicht oft mit einer Unterstellung zu tun, dies seien Artikulationen politischer Herrschaftsansprüche, einer Verschmelzung von „Herrschaft und Heil“, die in einer säkularen Gesellschaft nicht mehr legitimiert seien? Ganz virulent ist dies für unser Bild „des Islam“, dem oft pauschal eine Inkompatibilität mit dem liberalen Rechtsstaat unterstellt wird, weil er eben Herrschaft und Heil nur als Einheit sehen könne und deshalb in die politische Sphäre ausgreife. Aber diese Spannung ist tendenziell oder potentiell allen Religionen mit einem Wahrheitsanspruch inhärent. Um die Einhegung dieses Wahrheitsanspruches ging es der säkularen Politischen Theorie von Herrschaft, die in der Vertragstheorie von Thomas Hobbes eine frühe Form gefunden hat.
These 4: Die Spannungen zwischen Herrschaft und Heil sollten als Formen Politischer Theologie gelesen werden.
Böckenförde ist Schüler von Carl Schmitt. Dieser hatte in „Politische Theologie“ geschrieben, alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre seien säkularisierte theologische Begriffe (Schmitt, 1922 (2003)). Dem hielt sein Kontrahent, der Rechtspositivist Hans Kelsen, entgegen, es handele sich um säkularisierte theologische Begriffe (vgl. dazu: Fischer, 2009). Für Mark Lilla (2008:2–5) und Heinrich Meier (2006) leitet Politische Theologie, wie sie Carl Schmitt betrieb, die Ausübung politischer Autorität aus den Quellen religiöser Offenbarung ab. Dem stellen sie das Denken der Politischen Philosophie gegenüber, das politische Autorität immanent, d.h. auf der Basis menschlicher Vernunft, begründet. Doch ist die Frage nach der Politischen Theologie nicht nur eine philosophische, sondern auch eine ethnographische: Vielleicht wurde der Begriff der Politischen Theologie zu früh verabschiedet.
Böckenförde selbst unterscheidet zwischen juristischer, institutioneller und appellativer politischer Theologie, wobei Böckenförde „politisch“ mit kleinem „p“ schreibt (Böckenförde, 1983:19f.). Für ihn betrieb Schmitt eine politische Soziologie staatsrechtlicher Begriffe und ihrer Bedeutungsgehalte – eine juristische politische Theologie. Eine appellative politische Theologie – also eine politische und normative – verortete Böckenförde hingegen bei einer bestimmten Gruppe katholischer Theologen, namentlich Johann Baptist Metz, bzw. der Theologie der Befreiung, die die christliche Offenbarung als Aufruf zum Engagement der Christen in der Welt liest. Letztere appellative politische Theologie sei entstanden in „polemischer Absetzung“, so schreibt Böckenförde (1983:20f.), von einer privatistischen Theologie.
Bei genauerem Hinsehen ist Böckenförde's Einordnung jedoch problematisch: er verwischt die „polemische“ Dimension der Schmitt'schen Position, oder, in seiner eigenen Terminologie: Schmitt's Politische Theologie hat durchaus „appellativen“ Charakter. Schmitt verwendete „Politische Theologie“, wie er selbst schreibt, durchaus in „polemischer“, d.h. politischer Absicht (Schmitt, 1922 (2003):31). Politische Theologie wird bei ihm zu einem normativen Projekt – zu einer politischen Stellungnahme in der religionspolitischen Auseinandersetzung – contra Blumenberg, gegen die Legitimität der Neuzeit, gegen den Liberalismus, gegen den säkularen Staat. Aber der eigentliche Feind, gegen den Schmitt „die Waffe führt“ (Meier, 2006:10), ist der Anarchismus Bakunins und dessen Leugnung Gottes, die Bakunin zu einer Ablehnung des Staates und des universalen Anspruchs der Kirche führt.
Dieser polemischen Politischen Theologie hat Jan Assmann das Projekt einer deskriptiven Politischen Theologie gegenübergestellt. Sie „ist nicht, sondern handelt über Politische Theologie“, schreibt Assmann (1992, 2006:24; Hervorhebung im Original): Politische Theologie, so verstanden, „hat es mit den wechselvollen Beziehungen zwischen politischer Gemeinschaft und religiöser Ordnung, kurz: zwischen Herrschaft und Heil zu tun“. Dies beinhaltet dann nicht nur die Säkularisierung der Politik, sondern auch ihre Sakralisierung (Joas, 2017) und das Spannungsfeld, das sich aus diesen „gegenstrebigen Fügungen“ (Taubes, 2011) ergibt. Schmitt, so Assmann, nutzt den Begriff Politische Theologie im „beschreibenden“ wie im „betreibenden“ Sinn, und doch dominiert der betreibende, polemische Sinn. Assmann bezeichnet diese deshalb als „Beiträge zur“, nicht als „Forschung über“ Politische Theologie.
Jan Assmann verfolgte sein Ziel einer beschreibenden Poliischen Theologie, indem er die „Vorgeschichte“ zur Säkularisierungsthese von Carl Schmitt freilegte: die Entstehung der Religion aus dem Geist des Politischen (Assmann, 1992 (2006):36). Dazu geht Assmann zurück auf die Entstehung der Idee einer ganz spezifischen Form von Religion in Israel, dem Monotheismus als einer „gesteigerten“ Form von Religion, die sich kritisch über andere Religionen erhebt. Ich gehe hier einen anderen Weg – nicht zurück in die Vorgeschichte, sondern in unsere „breite Gegenwart“ und möchte skizzenhaft einige andere Erfahrungen von Säkularismus, verstanden als normative Regulation des Verhältnisses von Herrschaft und Heil, und einige andere Erfahrungen der politischen Rolle von Religion aufzeigen, die an „anderen“ Orten – d.h. ausserhalb Europas – stattfinden. Das bringt mich zu These 5.
These 5: In unserer „breiten“ Gegenwart kommt es zur Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Formen von Politischen Theologien – vom historischen Denken einer säkularisierten Geschichtsphilosophie, zur Eschatologie und zum radikalen Naturalismus (und Atheismus). Deshalb sollten wir unseren europäisch und westlich geprägten Blick „provinzialisieren“ (Chakrabarty, 2000).
Unsere Gegenwart, schreibt Hans Ulrich Gumbrecht, ist „zu einer sich verbreiternden Dimension der Simultaneitäten geworden“, in der es „nicht mehr gelingt, irgendeine Vergangenheit hinter uns zu lassen …die breite Gegenwart bietet Spiel für Ansätze von Bewegungen in die Zukunft und die Vergangenheit, doch sie scheinen alle zurückgebogen zu werden in die Gegenwart“ (Gumbrecht, 2010:16f.). Das normative Projekt der Neuzeit, die Trennung von Religion und Politik herzustellen, benötigt vielfältige Anstrengungen, die in Zeiten einer „breiten“ Gegenwart mit zunehmend multi-konfessioneller und multi-religiöser Kontur noch komplizierter geworden sind. Aufgrund der globalen Migrationsströme, den religiösen Kommunikationsformen und Missionsbewegungen ist die multi-konfessionelle und multi-religiöse Gesellschaft zur Regel geworden (Das, 2013). Doch auch diese diasporische Erfahrung ist älter und gelegentlich auch bewusst gewählt, wie Wolf-Dietrich Sahr am Beispiel der Mennoniten gezeigt hat (Sahr, 2004). Den Säkularismus-Begriff provinzialisieren bedeutet, religionspolitische Diskussionen in postkolonialen Staaten mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Religionen stehen hier oft seit langem im Plural, anders als in der Ursprungsgeschichte des Begriffs der Säkularisierung in Europa.
In Indien hat sich in den letzten Jahrzehnten eine ausdifferenzierte intellektuelle Diskussion über die normative, regulative Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Staat und Religionen im Plural entwickelt (Bhargava, 2005). Natürlich hat auch Indien die Idee des Säkularismus von der britischen Kolonialzeit geerbt. Aber das hat nicht viel zu sagen. Mahatma Ghandi, selbst ein tiefreligiöser Hindu, hat für eine säkulare Staatsordnung plädiert. Die Herausforderung für Indiens Politiker bestand und besteht darin, eine solche säkulare politische Ordnung eines religionspolitisch neutralen Staates in einer zutiefst religiösen und spirituellen Gesellschaft zu etablieren, deren Religionen darüber hinaus extrem divergierende Politische Theologien (im normativen, appelativen Sinn) verfolgen. Diese religiöse Vielfalt ist spannungsgeladen und konfliktreich – was sich in der Geschichte Indiens schon im Moment der Unabhängigkeit in der Teilung der Kolonie in die Staaten Pakistan und Indien zeigte und bis heute in hindunationalistischen Gewaltakten gegen Muslime, aber auch Christen fortwirkt. Mit dem Erstarken der hindunationalistischen Strömung in Indiens Politik wird die Frage des Herrschafts- und Wahrheitsanspruchs von Religionen in der Politik und in der Gesellschaft besonders virulent aufgeworfen.
Und interessanterweise finden wir in Indien religionspolitische Debatten, wie wir sie auch im europäischen Kontext beobachten: einige sehen die Notwendigkeit, der Politik durch Religion eine moralische Basis zu verleihen – analog zum Böckenförde-Diktum – während andere das Fernhalten der Religionen aus der Politik gerade als Garant der Demokratie und Bürgerrechte ansehen. Säkularismus als normative Staatsdoktrin eines multi-religiösen Staates wirft die Frage auf: wie soll der Staat sich gegenüber der Vielfalt seiner Religionen verhalten? Und diese Religionen können in der hochreligiösen und spirituellen Gesellschaft Indiens nicht per se aus der Öffentlichkeit herausgehalten werden oder religiöse Positionen aus der politischen Debatte. Aber gleichzeitig kann ein säkularer Staat nicht zusehen, wie fundamentalistische Eiferer – oder ein einschüchternder Prohibitionismus der Religion in der Öffentlichkeit, der zum Beispiel nicht-religiöse Staatsbürger bedroht (Quack, 2012) – sich entfalten und Raum gewinnen.
Indische Intellektuelle verstehen Säkularismus deshalb nicht als eine strikte Trennung (oder gar als „Desinteresse“) von Staat und Religion. Amarthya Sen, zum Beispiel, propagiert eine „aktive Neutralität“ (Amarthya Sen): der Staat soll im Umgang mit den unterschiedlichen Religionen eine grundlegende „symmetry of treatment“ gewährleisten (Sen, 2005). Dabei beziehen sich Rechte auf Religionsausübung nicht nur auf die individuelle Religionsfreiheit, sondern auch auf die Rechte religiöser Gruppen auf Ausübung ihrer Religion in einem multi-religiösen Kontext. Rajeev Bhargava entwickelt daraus Prinzipien, wie der Staat mit Religionen umzugehen hat (Bhargava, 2010): Der Staat solle in religiöse Regelungen so eingreifen, dass er alle Religionen mit dem gleichen Respekt und Verständnis behandelt; d.h. nicht: alle gleichen Regeln unterwerfen, sondern vielmehr eine ausdifferenzierte Regelung je nach den Bedürfnissen der jeweiligen Religionsgruppe: Sikhs werden von der Pflicht ausgenommen, Motoradhelme zu tragen; Muslime können in der Öffentlichkeit bestimmte Kleidervorschriften folgen; Hinduisten, Juden und Muslime können am Sonntag ihre Geschäfte öffnen. Es bedeutet für Bhargava aber auch, dass der Staat religiöse Praktiken regulieren soll, wenn diese mit den Werten des säkularen Staates nicht vereinbar sind, z.B. die Diskriminierung von Kasten oder Frauen. Bhargava verwendet hierfür den Begriff „asymmetrische Intervention“ (Bhargava, 2010): Ein Staat kann in verschiedene Religionsgemeinschaften unterschiedlich stark intervenieren.
Vielleicht kann die Diskussion in Europa – insbesondere über den Umgang mit „dem Islam“ – etwas aus den indischen Diskussionen lernen, um mit seiner zunehmend inter-religiösen (und eben nicht mehr nur interkonfessionellen) gesellschaftlichen Landschaft umzugehen und die Beziehungen zwischen Staat und Religionen neu auszutarieren, um auch nicht-christliche Religionen angemessen und fair zu behandeln.
These 6: In den Krisen postkolonialer, multi-religiöser Gesellschaften gewinnen appellative, aktivistische Formen Politischer Theologie(n) an Bedeutung, die einer ganz anderen normativen Logik folgen als die Politische Theologie Carl Schmitts.
Im ersten Interview nach seiner Wahl sagte Papst Franziskus im Gespräch mit Antonio Spadaro S. J.: „Man darf Grenzen nicht nach Hause tragen, sondern muss an der Grenze leben und mutig sein.“3 Was für eine (appellative) Politische Theologie verfolgt Papst Franziskus hier? Letzlich propagiert er einen sozial engagierten Katholizismus, der aber theologisch konservativ bleibt.4 Und dieses soziale Engagement geht bis an die Grenzen. Was Franziskus damit gemeint haben könnte, möchte ich anhand eines Beispiels meiner eigenen Forschung in Sri Lanka veranschaulichen.
Als Papst Franziskus im Januar 2015 nach Sri Lanka kam, besuchte er den Marienwallfahrtsort Madhu im kriegsversehrten Norden Sri Lankas. Dieser Besuch konnte nur mühsam gegen den Willen der singhalesisch dominierten srilankischen Regierung und des Kardinals in Colombo, der dem konservativen Kirchenflügel zugerechnet wird und der dem damaligen Präsidenten Mahinda Rajapakse und seiner Frau, einer Katholikin, nahestand, durchgesetzt werden. Franziskus reiste in die Diözese Mannar, in der Rayappu Joseph Bischof war. Bishop Joseph genoss aufgrund seines öffentlichen Eintretens für die Rechte der tamilischen Minderheit und für die Aufklärung der Kriegsverbrechen hohes Ansehen unter der tamilischen Minderheit, wurde aber von der singhalesisch dominierten Regierung stark kritisiert und unter Druck gesetzt. Der Kardinal stand als Singhalese auf der Seite der Regierung. Der ethnische Konflikt ging mitten durch die katholische Kirche selbst. Der Papst bezog mit seinem Besuch in Madhu also Partei in einer inner-kirchlichen Auseinandersetzung darüber, wie sich die Kirche politisch positionieren solle.
Der Besuch im Wallfahrtsort war aber auch aus anderen Gründen gut gewählt: er versinnbildlichte den Mut vieler tamilischer Priester und Nonnen in ihrer Arbeit „an der Grenze“ – sie hatten keine Gefahren gescheut, um in Zeiten des Bürgerkrieges, aber auch danach offen gegen Gewalt und für den Schutz von tamilischen Zivilisten Wort zu ergreifen, Hilfe zu leisten und auch in schwierigen Situationen Schutz zu bieten (Goodhand u.a. 2009; Spencer u.a. 2015). In Madhu hatte die katholische Kirche über viele Jahre mit Unterstützung internationaler Hilfsorganisationen und des UNHCR ein Flüchtlingslager betrieben. Deborah Johnson hat in ihrer Forschung gezeigt (Johnson, 2016): Priester und Bischof mussten immer wieder ihre ganze religiöse Autorität in die Waagschale werfen, um in kritischen Situationen Zivilisten zu schützen. So wird zum Beispiel von Priestern erzählt, die sich schützend vor tamilische Jugendliche stellten (übrigens viele von ihnen Hindus), als die tamilischen Rebellen sie für ihren verzweifelten Endkampf rekrutieren wollten. Schwer bewaffnete Rebellen standen Priestern und Jugendlichen gegenüber – die Stimmung war extrem angespannt, aber letzlich mussten die Rebellen sich wieder zurückziehen. Sie trauten sich nicht, den Priestern Gewalt anzutun. Ihr religiöser Habitus, ihre religiöse Autorität gab den Priestern eine Unantastbarkeit, die sogar die Rebellen akzeptieren mussten, die sonst nicht zimperlich mit Widerstand umgingen.
Was zeigen uns diese Vorkommnisse: erstens, dass die Grenzen zwischen „Religion“ und „Politik“ immer in Verhandlung sind; dass religiöse Akteure politische agency aufgrund ihrer religiös konnotierten Glaubwürdigkeit in Krisensituationen übernehmen – agency, die nur ihnen möglich ist (kein Laie hätte sich in ähnlicher Weise gegen die Rebellen stellen können). Aber es ist eine explizite Wahl, an die Grenzen zu gehen, die mit hohem Risiko verbunden ist – einige tamilische Priester bezahlten dies mit ihrem Leben. Karl Barth schrieb hierzu 1931 (!) in „Fragen an das Christentum“: „Sie (die Kirche) hat dann zu sagen, was man hören muss. Sie braucht dann nicht zu schweigen, weil sie es nicht darf. Sie darf dann auch Anstoss geben, weil sie es muss“ (Barth, 2013:154). Barth schrieb diese Zeilen in einem anderen geschichtlichen Kontext, aber der Grundimpuls scheint mir ein sehr ähnlicher zu sein, wie derjenige, der die Priester in Sri Lanka antrieb, „an die Grenzen“ zu gehen.
Diese anstossgebende, irritierende, an die Grenzen gehende Arbeit religiöser Akteure bleibt in der Semantik der Postsäkularität merklich unterbelichtet. Es ist eine „weichgespülte“ Form von Religion, politisch pazifiziert, die in den Schriften von Jürgen Habermas vorkommt. In der liberalen Demokratie, so könnte man meinen, braucht es die mutige Arbeit an der Grenze nicht. Wirklich? Doch: auch für Habermas hat der „öffentliche Vernunftgebrauch säkularer und religiöser Bürger …das Potential, ein Stachel für deliberative Politik zu sein“ (Habermas, 2012:45). Auch demokratische Staaten brauchen immer wieder einen Stachel: Sebastian Schlüter5 beschreibt eine solche Konstellation im Londoner Eastend, in der eine freikirchlich inspirierte Neugründung der anglikanischen Kirchengemeinde zum Nukleus einer Protestbewegung gegen den (Aus-) Verkauf eines housing estates wurde: durch den politisch engagierten Priester konnten die Bewohner/innen des estates ihren Protest skalieren und in breitere politische Netzwerke einbringen, wodurch er an Durchschlagskraft gewann. Auch hier nahmen also religiöse Akteure politsche agency war – agency, die nur ihnen, nicht aber den estate-Bewohner/innen gegeben war.
Ich habe hier eine deskriptive Politische Theologie im Sinne Jan Assmanns betrieben: Empirisch handelte es sich um eine ethnographische Analyse der komplizierten Aushandlung von religiöser agency in einem politisch aufgeladenen Raum und weniger um die regulative Ausgestaltung der Trennung von „Herrschaft und Heil“. Was mir die politische Theologie der katholischen Priester und Nonnen in Sri Lanka auszuzeichnen scheint, finde ich bei dem katholischen Theologen Johann Baptist Metz wieder, der in seinen Unzeitgemässen Thesen zur Apokalyptik schrieb: „Kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung“ (Metz, 1980:150). Unterbrechung – nicht Unterwerfung oder Aufbegehren – dies scheint mir die moralische Aufgabe dieser politischen Theologie zu sein: eine Unterbrechung der Logik der Gewalt des Krieges. Nicht selbst Politik zu betreiben, sondern die Logik des Politischen – das Freund-Feind-Denken – zu unterbrechen. Das Religiöse wird dann der „Einbruch eines ‚Anderen‘ “ (Vattimo, 2001:115) und offenbart sich, so Gianni Vattimo, in der caritas, „die keiner Entmythologisierung unterzogen werden kann, da es sich bei ihr …um einen praktischen Apell handelt“ (Vattimo, 2004:26, vgl. Engel, 2004). Implizit finden wir diesen Gedanken auch im Seufzer eines evangelischen Lektors aus Ostdeutschland, den Meyer und Miggelbrink in ihrer Forschung zu den sich wandelnden Strukturen der protestantischen Kirche in Ostdeutschland befragten: „Wir kümmern uns …viel zu wenig um das eigentlich wichtige.“6
Dies ist eine andere Politische Theologie, nun im appellativen Sinne verstanden, als die reaktionäre Position, die Carl Schmitt vertreten hat. Für Schmitt handelt es sich bei dieser Form von Politischer Theologie um eine Gegenfigur, ein Feindbild innerhalb seines christologischen Dualismus – die andere Seite der entzweiten Christusfigur, die Schmitt im feindlichen Bruderpaar eines Epithemeus-Christus (gehorsam gegenüber Gott) und Prometheus-Christus (der aufbegehrende Christus) ausmachte (vgl. Groh, 1998:162f. und 176f.). Schmitt sieht in letzterem eine (illegitime) Selbstermächtigung gegen Gott, gegen den Vater. Die Feindschaft dieser Brüder ist eine politisch-theologische, sie gründet im Absoluten (Groh, 1998:163). Hier gelangen wir ins Zentrum der Kontroverse zwischen Blumenberg und Schmitt: die Neuzeit ist für Schmitt das prometheische Zeitalter – und damit illegitim; der Feind, den es zu bekämpfen gilt, und mit der Neuzeit die Aufklärung, den Liberalismus, die Demokratie. So begründet Schmitt seine reaktionäre Position. Und genau gegen eine solche reaktionäre (Kirchen-) Politik stellte sich eine andere Politische Theologie, die sich Theologie der Revolution, Theologie der Befreiung, oder, nach Johann Baptist Metz (Metz, 1968), neue Politische Theologie nannte. Diese Kontroversen über unterschiedliche normative Verfasstheiten appellativer Politischer Theologie reichen bis in die heutige Kirchenpolitik fort – und sie sind bis nach Sri Lanka (und anderswo) gewandert, wo sie nun ethnographisch, nicht philosophiegeschichtlich oder genealogisch, beobachtet werden können.
These 7: Religionsgeographie ist immer auch (eine Auseinandersetzung über) Politische Theologie.
Stellt sich die Frage: Ist das noch „Religionsgeographie“ oder schon „Theologie“?
Damit verbunden ist die Frage: Können wir uns als Religionsgeographinnen von der Politischen Theologie fernhalten? In der Tat trägt beschreibende Politische Theologie immer auch einen impliziten normativen Rucksack mit sich, auch in ihrer Form als „Forschung über“. Auch Habermas' „Plädoyer an die säkulare Seite“ (Joas, 2004:126) ist eine Form appellativer Politischer Theologie. Und Jan Assmann und seiner deskriptiven Politischen Theologie der „mosaischen Unterscheidung“ wird von mancher Seite ein Antijudaismus vorgeworfen, u.a., weil er sich affirmativ auf Carl Schmitt bezieht und weil er den Keim religiöser Gewalt in der „mosaischen Unterscheidung“ identifizierte. Heinrich Meier (2000) und Mark Lilla (2008) haben deshalb Politische Theologie und Politische Philosophie scharf voneinander abgetrennt: Die Politische Theologie, schreibt Meier (2000:24f., Hervorhebung im Original), versteht sich „aus dem Gehorsam des Glaubens …(und stellt sich) als Theorie in den Dienst der souveränen Autorität“. Das ist Carl Schmitt. Demgegenüber hat für Meier das philosophische Leben seine „raison d'être darin, …dass es sich bei keiner Antwort beruhigt, die ihre Beglaubigung einer Autorität schuldet“ (ibid.). Doch auch Lilla und Meier verfolgen eine Politische Theologie im appellativen Sinne: Auch einer säkularisierte Geschichtsphilosophie oder einem Naturalismus liegen normative Prämissen über das richtige Gefüge von Politik und Religion in einer Gesellschaft und eine, in diesem Fall immanente, Eschatologie zugrunde.
Daraus folgt die zweite Frage: Können wir dann eine Religionsgeographie des Postsäkularismus vom Standpunkt eines methodologischen Agnostizismus (Wunder, 2005:235ff.) betreiben? Ich denke nicht (und stimme hier Reinhard Henkel (2011) zu), denn eine agnostizistische Position würde für sich den „Blick von Nirgendwo“ (Nagel, 1992) beanspruchen, wo sie doch auch nur ein „Blick von Irgendwo“ ist – eben ein Blick, der von einer westeuropäischen Idee von Moderne und Säkularismus geprägt ist. Eine genealogisch reflektierte Religionsgeographie sollte sich ihrer (normativen) Politischen Theologie bewusst sein. Genau darin sehe ich die Aufgaben der Religionsgeographie: den Blick auf Religion(en) zu „entprovinzialisieren“ (Chakrabarty, 2000) und damit die Diskussionen um Post-Säkularismus genealogisch und ethnographisch zu bereichern.
Für diesen Artikel wurden keine Datensätze genutzt.
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Ich danke Lars Allolio-Näcke, Georg Glasze, Jürgen van Oorschot und
Thomas Schmitt für die freundliche Einladung zur Erlanger Tagung, sowie
Katajun Amirpur, Rajeev Bhargava, Christoph Bochinger, Dipesh Chakrabarty,
Shahul Hasbullah, Reinhard Henkel, Deborah Johnson, Otto Kallscheuer,
Jürgen Kaube, Johannes Quack, Niklaus Peter, Christine Schenk,
Conrad Schetter und Jonathan Spencer für anregende Gespräche, ohne
die dieser Text nie entstanden wäre.
Edited by: Myriam Houssay-Holzschuch
Reviewed by: one
anonymous referee
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Ich verdanke diesen Begriff einem Gespräch mit Johannes Quack.
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So Otto Kallscheuer in einem Vortrag im Pfarrhaus Fraumünster, Zürich, vom 27. September 2013.
Vgl. Sebastian Schlüter, Postsäkulare Nachbarschaften. Kirchengemeinden in innerstädtischen Transformationsprozessen. Vortrag auf der Tagung Geographien Postsäkularer Gesellschaften, FAU Erlangen-Nürnberg, 11. Juni 2015.
Ein Lektor aus dem Altenburger Land, den Meier und Miggelbrink in ihrem Vortrag in Erlangen zitierten, vgl. dazu auch ihren Beitrag im Themenheft: Meyer und Miggelbrink (2017).