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Tauchgänge zur German Theory
Eberhard Rothfuß
Wolf-Dietrich Sahr
In this editorial, we sketch the intellectual agenda for a themed issue on German Theory. We understand German Theory as a creative and dialogical space to engage a multitude of thought styles, common in the Geisteswissenschaften and to bring them into conversations with anglophone, as much as francophone, lusophone, Italian, Spanish and other forms of Theory. This agenda promotes a ‚provincialization‘ of anglophone Geography that is connecting these thought styles rather than confining them to bounded provinces in debate. „German Theory“, thus understood, is ultimately an entangled theory.
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Ist es nicht erstaunlich und bedauerlich, dass in der jüngeren deutschsprachigen Humangeographie eine Auseinandersetzung mit Denkerinnen und Denkern deutscher Sprache wie Theodor W. Adorno, Hans Blumenberg, Ernst Cassirer, Helmuth Plessner, Hannah Arendt oder Walter Benjamin nur selten stattfindet, vermutlich weil diese in der anglophonen Geographie nicht so sehr en vogue sind? In diesem Themenheft fragen wir uns: Was geht dabei an intellektueller Kreativität verloren? Und: Wie könnte diese Debatte auf die epistemologische Situation bereichernd wirken?
Eine Beschäftigung mit der deutschsprachigen Geistestradition wäre sicher kein selbstbezogenes „Einigeln“ in eine heile intellektuelle Vergangenheit nationalsprachlicher Wissenschaften, sondern eher ein Blick „Zurück in die Zukunft“ – Rekonstruktion und Wiederaneignung verschütteter und untergegangener intellektueller Denkwege. Inspiriert von Diskussionen, die ihren Ausgangspunkt 2017 in Seminarräumen am Ufer des Zürichsees genommen haben, versuchen wir, im Dialog mit der dominanten Theoriesprache des anglophonen Mainstreams die deutschsprachige Humangeographie zu provinzialisieren, um damit wieder mehr Pluralität und Gleichwertigkeit zwischen den sprachlichen Denkprovinzen herzustellen (vgl. Fall, 2013; Korf et al., 2013; Houssay-Holzschuch und Milhaud, 2013; Houssay-Holzschuch, 2020; Minca, 2000).
Der Begriff der „Provinzialisierung“ geht auf die bahnbrechende Arbeit des indischen Historikers Dipesh Chakrabarty (2000) in der postkolonialen Theorie zurück. „Provinzialisierung“ bedeutet für Chakrabarty, den Universalisierungsanspruch westlicher Theorie einzugrenzen und zu unterlaufen, indem die Kontextbedingungen ihrer Entstehung aufgezeigt werden. Für das akademische Fach der Geographie steht diese „Provinzialisierung“ noch weitgehend aus: Nicht nur besteht weiterhin eine grosse Kluft in der akademischen Wissensproduktion zwischen globalem Norden und Süden (Santos und Meneses, 2020); auch die theoretischen Debatten innerhalb des Nordens verdecken oft sprachliche Hierarchien und Asymmetrien in der Wissensproduktion. Zwar warnt Ulrich Best (2009) zu Recht davor, beide Formen der „Peripherisierung“ auf die gleiche Stufe zu stellen, doch sollten dabei die diskursiven Relationen der Ungleichheit innerhalb des Nordens selbst nicht verschüttet werden.
Während die internen Diskursgeographien der frühen Nationalstaaten Frankreich und England sich vor allem auf die Zentren London (mit Oxford/Cambridge) und Paris (mit dem Quartier Latin) konzentrierten, haben die späten Nationalstaaten Deutschland und Italien eine multipolarere Diskursgeographie entwickelt, welche sich in Italien auf Venedig, Mailand, Florenz, Rom und Neapel verteilte, oder in Deutschland auf das „nationale“ Weimar und Leipzig, aber auch Königsberg, Breslau, Göttingen, Bonn, Heidelberg, Marburg, Freiburg, Tübingen usw. In Deutschland bildeten diese Mittelstädte eines vom Adel geförderten Kulturbürgertums neben den spätgeborenen Universitäten der preussischen Hauptstadt Berlin und der bayerischen Hauptstadt München wichtige intellektuelle Austrahlungspunkte. Insofern ergibt sich aus dem historischen Potential der Multipolarität durchaus eine Möglichkeit, intellektuelle Asymmetrien besser zu verstehen, da sie Bestandteil auch der eigenen Geschichte sind.
Bemerkenswert ist auch, dass sich durch die Dispersion der deutschen Intellektuellen mit ihrem sprachlich isolierten Diskurs Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eine ungeheure internationale Wirkung entfaltete, v. a. in die USA. Dieser Effekt, der z. B. auch die Geographen Franz Boas und Karl Sauer einschloss, wurde später durch die kulturelle und politische Diskriminierung der jüdisch-deutschen Geistestradition verstärkt, die mit der nationalsozialistischen Machtergreifung zu einem Massenexodus jüdischer Intellektueller und deren Denktraditionen in die USA und andere vermeintlich sichere Länder führte. Prominente Beispiele sind hier die Frankfurter Schule oder der Wiener Kreis.
Auch die intellektuelle Entwicklung des anglophonen Diskurses weist ihre besondere „Provinzialität“ auf. Dies hat der britische Literaturwissenschaftler Raymond Williams in seinen beiden Werken „Culture and Society 1780–1950“ (Williams, 1960) und „The Long Revolution“ (Williams, 1961) herausragend dargestellt. Auf den britischen Inseln (und in Neuengland) zeigt sich dabei, wie auch allgemeine Volksbildungsprozesse (Alphabetisierung, Grundschulbildung, imperialistische Ideologie etc.) Geistestraditionen beeinflussten, so dass die Wissenschaft im anglophonen Bereich stärker popularisiert ist als in den elitären Wissenschaftstraditionen Frankreichs und Deutschlands (vgl. hierzu Lepenies, 1985).
Heute erscheinen die Rezeptionsmuster des anglophonen Diskurses „global“, und deutschsprachige Denkerinnen und Denker sind für die deutschsprachige Geographie meist erst dann satisfaktionsfähig, wenn diese in der anglophonen Geographie reüssiert haben. So entstand z. B. das deutschsprachige Themenheft zu Peter Sloterdijk in der Geographica Helvetica erst, nachdem Sloterdijk von Stuart Elden (2011) und Nigel Thrift (2009) prominent in den anglophonen Theoriediskurs eingebracht worden war. Zugleich erfolgte das Aufgreifen der Arbeiten von Peter Sloterdijk in der anglophonen Geographie (Elden, 2011) meist ohne intensivere Beschäftigung mit dessen Verankerung im Denken der Philosophischen Anthropologie (v. a. Max Scheler und Helmuth Plessner) und der Phänomenologie (vgl. Boos und Runkel, 2018).
Vor diesem Hintergrund möchten wir mit diesem Themenheft eine hegemoniale Dynamik unterlaufen, die anglophone Geographie unhinterfragt als „internationalen“ Standard und state-of-the-art akzepiert, dabei aber eigene Denktraditionen negiert. Dabei verstehen wir Provinzialisierung nicht als Rückzug in einen homogenen sprachlichen Diskursraum, sondern als interkonnektiven Provinzialismus. German Theory wird hier zum Baustein einer entangled theory1, die einen kreativen und dialogischen Raum für vielfältige Aneignungsstile geisteswissenschaftlicher Theorien, „Denkstile“ und „Denkstimmungen“ (Fleck, 1980) schafft. Dies ist zugleich ein Versuch, mit der anglophonen Theorie (und anderen) ins partnerschaftliche Gespräch zu kommen. Dazu möchten wir die in der deutschsprachigen Geistesgeschichte entstandenen Denkstile und -stimmungen bewusster und für sich autonomer herausstellen.
Das Projekt einer Provinzialisierung bleibt also nicht im Formulieren eines klagenden Unbehagens gegenüber der anglophonen Hegemonie stehen, sondern versteht sich als ein Angebot, atmosphärische und zeitgeschichtliche Zusammenhänge von Theory offenzulegen und ins internationale diskursive Feld einzubringen. Dieser Ansatz scheint uns wichtig für eine kosmopolitische Geographie (Korf et al., 2013; Minca, 2013). Doch dazu bedarf es zunächst der Aneignung oder Wiederaneignung des bislang vernachlässigten Repertoires.
Die meisten Beiträge in diesem Themenheft werden sich mit der German Theory auf einer Meta-Ebene beschäftigen – als einem aus der Tradition der „Geisteswissenschaften“ hervorgehenden Denkstil. Sie sprechen deshalb eine Sprache, welche nicht immer direkt an den anglophonen Diskurs anschlussfähig ist. So ist z. B. das Fehlen eines adäquaten Begriffes für Leib im Neu-Englischen, das nur die Semantik des body als Übersetzung von Leib und Körper zugleich kennt, ein ganz wesentliches Hindernis, um in Englisch phänomenologisch zu denken. Hier wäre eine lecture croisée geradezu fundamental für die Debatte.
Deshalb konzentrieren wir uns in diesem Themenheft zunächst auf Ideen und Theorien, die aus diesem „geisteswissenschaftlichen“ Denkstil entstanden sind, der vor allem in der Hermeneutik, Phänomenologie und Philosophischen Anthropologie verortet ist. Hier sehen wir einen besonders grossen Nachholbedarf. Zwar wird Martin Heidegger, wichtiger, aber auch politisch kompromittierter Denker einer der Hermeneutik und der Phänomenologie anverwandten Philosophie, gerne in der anglophonen Geographie rezipiert, meist aber ohne genauere Kenntnis des geistesgeschichtlichen oder politischen Horizonts seines Wirkens (Korf und Rowan, 2020; Hepach, 2021). Ein weiteres Desiderat wäre auch die Wiederaneignung der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, die vereinzelt zwar in der anglophonen und auch deutschsprachigen Geographie aufgegriffen wird, meist jedoch ohne deren religionsphilosophischen Reflektionshorizont, welcher über eine klassisch historisch-materialistische Rezeption hinausgeht.
Provinzialisierung muss unseres Erachtens über mehrere Stufen erfolgen. Da ist zum einen die Wiederentdeckung des Untergegangenen oder Verschütteteten durch die Vereinseitigung des Eigenen, angesichts der Vereinseitung des hegemonialen Anderen. Dann erfolgt die Entselbstverständlichung dieses kolonialen Anderen. In einem weiteren Schritt ermöglicht die relationale Verflechtung ein eher gleichwertiges Gespräch, um schliesslich über ein erweitertes Bewusstsein (Geist) auch die Möglichkeit einer Transzendenz zum Anderen zu eröffnen, so wie das Transzendente des Unbekannten und Übermächtigen in der Religion eingegrenzt wird, um den Raum zu öffnen für die Verbalisierung bisher verschlossener Konnektivitäten (Massey, 2005).
Ausgangspunkt unserer Provinzialisierung ist die zunehmende Hierarchisierung des akademischen Wissens in der Humangeographie unter dem Primat der anglophonen Geographie. Eine solche Hegemonie betrifft seit dem zweiten Weltkrieg viele Sozial- und Kulturwissenschaften sowie teilweise auch die Geisteswissenschaften. Wie oben erwähnt, ist der Einfluss deutscher Geisteswissenschaften vor allem über den brain-drain jüdisch-deutscher Intellektueller während der Zeit des Nationalsozialismus in die USA und teilweise auch nach Großbritannien dafür mitverantwortlich. Nicht nur die Mitglieder der Frankfurter Schule migrierten, sondern auch angesehene Denkerinnen und Denker aus dem Umfeld des Wiener Kreises, einige Neukantianer wie Ernst Cassirer, aber auch Schülerinnen und Schüler Heideggers wie Hannah Arendt, Hans Jonas, Karl Löwith, oder neo-konservative Denker, z. B. Leo Strauss und Eric Voegelin. Auch in der Geographie gab es einen solchen brain-drain: erinnert sei nur an Alfred Philippson (Sandner, 1990) und Leo Waibel (Schenk, 2013), deren Exilierung bis heute nur wenig in der deutschsprachigen Geographie debattiert wird. In diesem Prozess ging das genuin deutschsprachige intellektuelle Milieu teilweise verloren, denn nur wenige – am prominentesten wohl Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als Begründer der Frankfurter Schule oder Karl Löwith, der einem Ruf an die Universität Heidelberg folgte – kehrten nach dem zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurück.
Parallel dazu entwickelte sich Englisch als Kolonialsprache (und in einem geringeren Masse auch Französisch, Spanisch und Portugiesisch) mit dem Commonwealth und den (ehemaligen) Kolonien und Dominions zu einem multi-lokalen und multiethnischen Resonanzraum. Dieser ist zwar auch von internen Ungleichgewichten und postkolonialen Abhängigkeiten geprägt, bietet aber bis heute Akademikerinnen und Akademikern aus den ehemaligen Kolonien ein sprachlich kompatibles Forum, in dem sie ihre eigene Position als entangled history (Conrad und Randeria, 2002) in kritischer Abgrenzung mit der ehemaligen Kolonialmacht einbringen. Ein ähnlicher Resonanzraum ging der deutschsprachigen Wissenschaft (und auch der Humangeographie) während der beiden Weltkriege sukzessive – und politisch gewollt – verloren, zumal sich auch andere, vorher eng mit der deutschsprachigen Geographie verbundene Wissenschaftssysteme, z. B. im skandinavischen Sprachraum, aber auch in den Niederlanden, zunehmend der englischen Sprache als lingua franca zuwandten. Dadurch wurde aber nicht nur der anglophone Denkstil aufgenommen, sondern es wurden auch anglophone Theorien, Thematiken und Debatten bevorzugt. Katalysator dieser Entwicklungen war dann schliesslich die extreme Konzentration der englischsprachigen Verlagshäuser, welche diese anglophone Hegemonie nicht nur kommerziell stützen, sondern auch bewusst fördern und instrumentalisieren.
So zeigt sich in der kontinentaleuropäischen Geographie, insbesondere in jenen europäischen Ländern, die über eine relativ eigensprachliche geistesgeschichtliche Tradition verfügen, v. a. in Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien, immer wieder ein gewisses Unbehagen über die „anglophone Hegemonie“, welche die in den Milieus anglophoner Geographie(n) und Nachbarfächern gepflegten Denkstile (Theorien, Schreibstile usw.) als universale Norm der „Internationalität“ in der Geographie einfordern (Aalbers und Rossi, 2007; Houssay-Holzschuch und Milhaud, 2013; Houssay-Holzschuch, 2020; Korf et al., 2013; Kitchin, 2005; Minca, 2000; Paasi, 2005). Martin Müller (2021) hat detailliert das „linguistische Privileg“ aufgezeigt, welches sich in der Dominanz anglophoner Personen in den entscheidenden Schaltstellen der Disziplin zeigt (z. B. editorships in journals oder von handbooks). Diese Personen bestimmen auch darüber (wenn auch vielleicht ungewollt), welche Form und welcher Inhalt von Text zu Wort kommt.
Dabei geht es nicht nur darum, richtiges Englisch zu schreiben, sondern auch im Sinne der Doxa nach Bourdieu (1978) implizite Schreibregeln zu befolgen und eloquent herrschende Diskursbezüge zu bedienen. Die implizite Leseerwartung anglophoner Akademikerinnen und Akademiker zeigt sich, so Juliet Fall (2013), in der Erwartung, wie ein adäquater Text zu formulieren und zu strukturieren sei, und welche oft modischen, d. h. die Journals in den letzten zwei bis drei Jahren bestimmenden Debatten bedient werden sollen. Sind frankophone oder deutschsprachige Denkstile hiermit nicht kompatibel, werden sie gern als „provinziell“, „old hat“ oder „old-fashioned“, ja vielleicht sogar als „out of date“ entwertet bzw. schlicht ignoriert. Dieser Vereinseitigung des (theoretischen) Denkstils setzen wir als Taktik der Provinzialisierung eine Vereinseitung auf der anderen Seite entgegen, die sich diese eigensprachlichen Denkstile bewusst wiederaneignet.
Ein Problem ist sicherlich, dass anglophone Geographinnen und Geographen die Folgen ihrer Vereinseitigung des Denkstils für die Theoriearbeit kaum bedenken. Die Provinzialisierung der anglophonen Geographie erfordert deshalb Taktiken zur Entselbstverständlichung ihres Denkstils. Schlottmann und Hannah (2016) sind diesen Fragen auf interessante Art nachgegangen. Sie praktizierten eine lecture croisée: Schlottmann las als deutschsprachige Geographin einen anglophonen Schlüsseltext der geographischen Tradition (von John Wiley) und Hannah als anglophoner Geograph einen deutschsprachigen (von Ulrich Eisel). Dabei zeigten sich beide immer wieder irritiert über den Denk- und Schreibstil der jeweils „anderen“ Tradition. Auch wenn sie diese Irritation als eine potenzielle Bereicherung ihres eigenen Denkens sehen, erscheinen einige Asymmetrien: Für Matthew Hannah ist das Aufgreifen der Irritation nur optional, während es für Schlottmann selbstverständlich ist, sich mit anglophonen Texten auseinanderzusetzen, um international gehört und gelesen zu werden (Schlottmann und Hannah, 2016:98).
Auch das Projekt einer German Theory schlägt Taktiken der Entselbstverständlichung der anglophonen Geographie vor. German Theory wird nicht einfach als deutschsprachige Theorie oder als in der deutschsprachigen Geistesgeschichte verankerte Theorie verstanden, wie dies z. B. Steinmetz (2006) vorschlägt, sondern wir wollen German Theory als entangled theory verstehen – als eine Theorie, die sich im Dialog verflicht, jedoch eingebettet bleibt in die deutschsprachige Geistesgeschichte2. Dabei spielt der Terminus German Theory auf eine Rezeptionsdynamik an, welche im Kontext des Poststrukturalismus unter dem Titel French Theory debattiert wurde: Hier war es die Rezeption wichtiger französischsprachiger poststrukturalistischer Autorinnen und Autoren (Deleuze, Derrida, Foucault, Lacan etc.), welche die englischsprachigen Cultural Studies inspirierten, wobei die zitierenden Autorinnuen und Autoren von den originalen Entstehungskontexten abstrahierten und eine eigene, oft einseitige Interpretation der Texte vorgeschlagen hatten, sozusagen als Oberflächenphänomen des Textes, welches den originalen Kontext in den Untergrund verbannte (Bruckner, 2021:14). Diese Operation ist entscheidend, um die internationale Deutungshoheit für die sogenannte French Theory zu beanspruchen; denn eigentlich ist diese Theory nicht „französisch“, sondern „anglophon“ (vgl. dazu Cusset, 2008).
Interessanterweise wurden „Michel Foucault“ und poststrukturalistische Theorien gerade in der frankophonen Geographie lange mit grosser Zurückhaltung bzw. Abwehr angegangen (Claval and Staszak, 2004:319). So beschreibt Juliet Fall (2007) eingehend, wie der Genfer Geograph Claude Raffestin mit seiner Foucault-Rezeption nur wenig Resonanz in der frankophonen Geographie fand. Erst nachdem auch in der französischen Akademia die Bedeutung der Rezeption der „internationalen Theoriedebatte“ als Gütekriterium angenommen wurde, erfuhr „Foucault“ in den Debatten der frankophonen Kulturgeographie – kurioserweise über den Umweg der New Cultural Geography – größere Akzeptanz (Chivallon, 2003; Fall, 2007; Graefe, 2013; Housssay-Holzschuch und Milhaud, 2013). Auch Yves Lacoste ging es nicht anders mit seinem bahnbrechenden Interview mit Michel Foucault, dem Arbeitskollegen aus Vincennes, welches in der ersten Nummer von Hérodote 1977 veröffentlicht wurde und lange in der französischen Geographie unbeachtet blieb (Calbérac, 2021).
Nun kann man mit dieser Situation der Hegemonie einer anglisierten Theory auf zweierlei Weise umgehen: Entweder führt es zur Klage über einen „Verlust“, mit dem Wunsch, die ursprüngliche „Tiefe“ der französischen Denker wieder an die Oberfläche zu holen, oder man begreift es als eine Bereicherung der Theoriediskussion in alle Richtungen, horizontal und vertikal. Wir plädieren für den zweiten Weg, wollen jedoch nicht bei der anglophonen Rezeption stehen bleiben und diese unhinterfragt als internationalen Standard akzeptieren. Stattdessen möchten wir im Sinne einer entangled theory der anglophonen Rezeption anderssprachige Diskursgeographien an die Seite stellen.
Theory im Allgemeinen kann nach unserem Dafürhalten in der heutigen globalen Situation immer nur als entangled theory verstanden werden. Dabei kommt der Ausdruck entangled theory dem nahe, was Claudio Minca als cosmopolitan theory bezeichnet hat. In Analogie zur French Theory schlägt Minca für die Rezeption von Agamben, Negri, Esposito und anderen italienischen Denkerinnen und Denkern in den anglophonen Cultural Studies den Begriff der Italian Theory vor und betont: „Italian Theory, is (…) ultimately, a ‚cosmopolitan‘ theory that has travelled and been shaped fundamentally through its travels“ (Minca, 2018:11). Minca zeigt, dass die anglophone Aneignung anderssprachiger Milieus auch neue Impulse für die theoretische Diskussion insgesamt geben kann und in diesem speziellen Fall auch wieder die italienische Politische Philosophie inspirierte. Auch Italian Theory ist also keine theoretische Einbahnstraße, sondern vielmehr genau das, was wir als entangled theory bezeichnen möchten.
In der Tat sind Italian Theory oder French Theory auch eng mit Denkanstössen aus der geisteswissenschaftlichen German Theory verflochten. So wurden die Arbeiten von Agamben, Derrida, Foucault und anderer Denkerinnen und Denker der French und Italian Theory ganz wesentlich durch die Schriften Martin Heideggers, Friedrich Nietzsches, aber auch Walter Benjamins beeinflusst. Nicht vergessen werden sollte hier auch die verspätete Rezeption Georg Wilhelm Friedrich Hegels in Frankreich, welche durch die einflussreichen Vorlesungen des russischstämmigen Philosophen Alexandre Kojève an der Ecole Pratique des Hautes Etudes einer ganzen Generation französischer Intellektueller vermittelt wurden (Eribon, 1993; Dosse, 2017). Jean-Luc Nancy spricht in diesem Zusammenhang davon, dass sich „Frankreich zwischen den beiden Weltkriegen tatsächlich sehr stark philosophisch eingedeutscht hat“ (Badiou und Nancy, 2017:12), und nennt in diesem Zusammenhang auch die Nähe Batailles zu Heidegger. Und Alain Badiou erkennt in diesen Konstellationen einen „französisch-deutschen Moment …, [der] sich langsam in einen französischen verwandelt hat, bis zu dem Punkt, Frankreich in Amerika zu repräsentieren“ (das wäre dann die French Theory). In jüngerer Zeit haben sich auch zwischen der deutschsprachigen und französischsprachigen Geographie interessante Vernetzungen und debats croisées ergeben, u. a. in der Disziplingeschichte oder in der Kulturgeographie (z. B. Germes et al., 2011).
Betrachtet man mit der Brille der entangled theory jüngere Theoriedebatten in der anglophonen Geographie, könnte man auch von einer British Theory sprechen. So greift zum Beispiel Nigel Thrift einerseits die French Theory auf (vor allem die Arbeiten von Gilles Deleuze), verknüpft diese andererseits aber mit Ludwig Wittgenstein (z. B. in Thrift, 2007), wobei zu diskutieren wäre, welcher Theory-Baustein des ursprünglich österreichischen Wittgenstein hier gemeint ist. Doreen Massey (2005) wiederum beschäftigt sich in ihren Arbeiten eingehend mit Henri Bergson, bezieht aber gleichzeitig auch Alfred North Whitehead (1979 [1929]) ein. Auch hier handelt es sich also um eine entangled theory, welche die Anregungen aus der French Theory mit eigenen Denkstilen verflicht, besonders aus dem Feld der analytischen Philosophie, dem u. a. auch Bertrand Russell zuzurechnen ist (vgl. Akehurst, 2010).
Eine Auseinandersetzung mit einer solchen British Theory beschäftigt sich, viel mehr als die French und German Theory, auch eingehender mit dem sozialtheoretischen Milieu, neben dem geistesgeschichtlichen. Dies hat, wie oben erwähnt, vor allem Raymond Williams in grosser Ausführlichkeit getan, der auch ein prägender Autor der New Cultural Geography war (Mitchell, 2000; Horton und Kraftl, 2014), was wiederum den meisten Mitgliedern der deutschsprachigen „Neuen Kulturgeographie“ entgangen ist. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die British Theory, im Gegensatz zur kontinentalen, sich vor allem mit Fragen des Materialismus, Empirismus und der Mathematik auseinandersetzt und dabei nicht den französischen Strukturalismus zum Vorbild nimmt, sondern klassische Autoren des Empirimus (Locke, Hume, Hobbes) und dann vor allem A. N. Whitehead. Aus dieser Tradition wird auch der neu-materialistische Ansatz in der British Theory verständlich, dem v. a. in den Debatten um das Anthropozän (Castree, 2017) und die Non-representational Theory (Lorimer, 2008) eine besondere Rolle zukommt3. Fast könnte man sagen, es handelt sich nach dem Hype um Foucault und die French Theory um eine „Rückkehr zur Zukunft“, eine Provinzialisierung des britischen Kontexts.
Als Vorbereitung zum Versuch einer Wiederaneignung möchten wir noch kurz über die Gründe für die Nichtrezeption der deutschsprachigen Geistesgeschichte in der Geographie spekulieren (vgl. dazu auch: Korf und Verne, 2016). Die Tradition der „Geistesgeschichte“ hat ihre Urspünge im Denken des Idealismus (Hegel und seine „Phänomenologie des Geistes“) und der Romantik (Schelling mit seiner Polarität zwischen Natur und Geist in seiner „Naturphilosophie“). Diesen Kontrast hat schliesslich Wilhelm Dilthey (1970) zu einem methodologischen Gerüst ausgebaut und sich damit für den tiefen Graben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften verantwortlich gemacht, der auch althergekommene Brücken in der Geographie einriss.
Schon seit den 1960er Jahren haben es deshalb vor allem die geisteswissenschaftlichen Denkstile in der deutschsprachigen Geographie besonders schwer. Dies hängt sicher zum einen mit der Fachgeschichte zusammen, welche im 19. Jahrhundert, noch vor Friedrich Ratzel, die Geographie als (materialistische) Erdwissenschaft verstand. Erst die Einführung des Raumparadigmas durch Friedrich Ratzel selbst, zum Beispiel in der „Anthropogeographie“, Kapitel 11 (Ratzel, 1921 [1882]:148–164), in der „Politischen Geographie“ (Ratzel, 1923 [1987]:249–343) oder im nachträglich herausgegebenen „Raum und Zeit in der Geographie und Geologie“ (Ratzel, 1907), hat zu einer philosophischen Weitung der Geographie geführt. Der primitiv-positivistische Ansatz des Dritten Reichs und dessen kurzsschlussartige Synthese von Boden, Volk und Raum, welche fatalerweise schon von Ratzel in Teilen vorgedacht wurde (vgl. Klinke, 2022; Schultz, 1998), hat dann jedoch jegliche theoretische Debatte innerhalb der deutschsprachigen Geographie zum Einsturz gebracht.
Nach dem Krieg, der totalen Niederlage und dem intellektuellen Ruin weiter Teile der deutschen Hochschulgeographie (trotz des anderslautenden Verdikts von Carl Troll) wurde theoretisches Arbeiten erst wieder über einen szientistischen Ansatz möglich, welcher aus dem englischsprachigen Diskurs rückimportiert werden musste (Bartels, 1968; Sedlacek, 1982). Markantestes Beispiel dafür ist sicher die Zentrale-Orte-Theorie Walter Christallers. Auch im Folgenden wurden fast alle theoretisch gewandeten Ansätze in der deutschsprachigen Geographie zunächst über den englischsprachigen Diskurs zurückgeholt, wie die Triade von quantitativer, marxistischer und humanistischer Geographie in den 1960er und 1970er Jahren zeigt. Dem traditionellen deutschsprachigen Diskurs der Geographie dagegen blieb das „nicht-theoretische“ Feld eines traditionalistischen Konventionalismus vorbehalten.
In der Weimarer Republik gab es jedoch eine durchaus lebhafte geisteswissenschaftliche Debatte in der Geographie, welche in stillerer Form auch in Fragmenten durch die Zeiten des nationalsozialistischen Regimes hindurchgerettet wurde (Sahr und Arantes, 2012). Dies wurde jedoch von den Nachkriegsgeographen und den ganz wenigen Geographinnen rundweg ignoriert, ja, vielleicht waren diese Debattenkontexte nicht einmal bekannt. Die Situation ähnelt also durchaus dem oben erwähnten Verhältnis der französischen Geographinnen und Geographen zum Poststrukturalismus in den 1970er und 1980er Jahren. Die Einbeziehung der Angewandten Geographie schliesslich führte nach Wardenga et al. (2011) in den 1980er Jahren zur Präferenz der Fachverbände für eine szientistisch und pragmatisch orientierte Social Theory (z. B. in der Regional Science, vgl. auch Wirth, 1979), welche in den Diplomstudiengängen explizit angewandt wurde.
Auch in der seit der Jahrtausendwende stattfindenden Rezeption des cultural turn wurden die Geisteswissenschaften wieder vorschnell ignoriert, weil die Debatte hier über den Import der French Theory, ausgeborgt von der anglophonen Geographie, geführt wurde (vgl. Korf, 2021). Hermeneutische Ansätze dagegen schienen out of date zu sein und fristen bis heute in der Humangeographie ein Schattendasein, ausgenommen einige vereinzelte Interpretationsansätze von Birkenhauer (1987), Pohl (1986) und Tzschaschel (1986), welche selbst kurioserweise die Humanistic Geography importierten. Erst der etwas differenziertere Blick auf die Pluralität „epistemologischer Inseln“ (Sahr, 2003a) und die dezidierten Versuche zur Inkorporierung hermeneutischer Traditionen durch Rothfuß (2009), Verne (2012) oder Zahnen (2015) eigneten sich deutschsprachige Geistesgeschichte explizit an. Beide Rezeptionsdynamiken, der Szientismus und die Anglifizierung, verhinderten jedoch, so zumindest unser Eindruck, eine grundlegendere Auseinandersetzung mit den Geisteswissenschaften und blockierten einen nachhaltigen Einzug in humangeographisches Denken und Forschen.
In der jüngeren Theoriedebatte hat der material turn dazu geführt, dass das, was in den klassischen Geisteswissenschaften als Geist bezeichnet wurde, als inkompatibel mit der neuesten Theoriediskussion angesehen wird. „Geist“ wird, wie oben erwähnt, mit Hegel in Verbindung gebracht. Hier jedoch taucht – ähnlich wie beim Leib/Körper-Problem – zum Englischen ein Übersetzungsgraben auf. Denn das, was deutsch als „Geist“ verstanden wird, teilt sich im Englischen in zwei Begriffe auf: in spirit (eine eher noch religiös beeinflusste Konnotation) und in mind, ein Terminus aus dem Feld der Bewusstseinskonzepte. Im material turn nun hat der Begriff mind seinen Platz über die Tradition G. H. Meads (1973 [1934]), Whiteheads (1979 [1929]) oder Batesons (1985 [1971]) gefunden, und so führt dieser Import in der deutschsprachigen Geographie (inklusive seiner französischen Grundlagen à la Bruno Latour) dazu, dass die weitergehende deutsche Konnotation von „Geist“ inkompatibel mit einer Rematerialisierung der Humangeographie (Kazig und Weichhart, 2009) erschien.
Stattdessen scheint derzeit eher das Gespenst eines anti-humanistischen Affekts die Rezeptionsdynamik in der Humangeographie zu bestimmen. Sicher kann dies zunächst auf eine anti-humanistische Lesart Foucaults aus seiner mittleren Phase zurückgeführt werden, so vor allem auf sein berühmtes Schlussdiktum aus „Die Ordnung der Dinge“: „[…] der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault, 1971:462), welches für die Gründungsphase der Neuen Kulturgeographie stilbildend war (vgl. z. B. Gebhardt et al., 2003:15; Sahr, 2003b; Glasze und Mattissek, 2009:28; kritisch dazu: Hannah, 2010). Andererseits wird dieser anti-humanistische Affekt auch im Denkstil des material turn, more-than-human und posthuman geographies fortgesetzt (vgl. Schurr und Strüver, 2016).
Eine solche post-humanistische, materialistische Lesart von Subjektivität und Bewusstsein, wie sie in der anglophonen Geographie weit verbreitet ist, entwickelte sich insbesondere im Umkreis von Steve Pile und Nigel Thrift (1995) in engem Austausch mit den Neurowissenschaften. So betreibt die non-representational theory eine Art „Neuro-Kulturgeographie“ (Korf, 2012). Diese erklärte nicht nur diskurstheoretische Ansätze schon vor einiger Zeit für „tot“ (Thrift und Dewsbury, 2000; Lorimer, 2008), sondern verzichtete auch auf eine Auseinandersetzung mit der Bewusstseinsphilosophie (Husserl) und mit der Philosophischen Anthropologie (Dörfler und Rothfuß, 2018).
Dadurch ist eine wichtige Einsicht der Lehre der Bewußtseinsphilosophie seit Hegel (1970/86 [1807]) sowie jene der Phänomenologie seit Husserl (1976 [1936]) verloren gegangen. Beide haben auf ihre je spezifische (und unterschiedliche) Weise darzulegen versucht, daß einzig und allein der Mensch ein Bewußtsein über sich, andere und die Natur ausbilden könne, was als rein menschliche Fähigkeit begriffen werden müsse. Welt sei subjektive Verarbeitung objektiver Zusammenhänge: Diese Idee ist schon bei Fichte angedacht, wird bei Hegel in das Selbstbewußtsein übersetzt und nimmt von hier aus seinen Weg als einzigartige reflexive Aufmerksamkeitsstruktur des Menschen auf sich selbst und seine „Stellung im Kosmos“ (Scheler, 2016 [1928]).
Zugleich sei auch erwähnt, dass in der philosophischen Anthropologie von Helmuth Plessner die Bewußtseinsphilosophie von Husserl durchaus kritisch betrachtet wird. Plessner charakterisiert zwar Bewußtsein nicht nur als die wesentliche Eigenschaft des Menschen, sondern als Grundlage menschlichen Seins per se; er ist sich aber gewahr, nicht das körperliche Sein des Menschen idealistisch zu negieren, wie er dies bei Husserl am Werk sieht. Die menschliche Existenz entzieht sich einer rein bewußtseinsimmanenten Betrachtung, ebenso wie einer objektivierenden Sichtweise. In der „exzentrischen Positionalität“ wird die alleinige Fähigkeit des Menschen real, Ich zu sich sagen zu können. Der Mensch als einzige Lebensform ist eine Person (Plessner, 1980 [1928]; Lindemann, 2011).
Der österreichische Philosoph Alfred Schütz wiederum zieht aus Husserls Wesenhaftigkeit der Dinge die Konsequenz, dass es eine zwar subjektiv erfahrene, aber objektiv erkennbare soziale Typik des Alltags gäbe, welche es ermögliche, die Typisierung der Lebenswelt auch auf andere „Sinnprovinzen“ wie Wissenschaft, Traum oder Kunst zu übertragen, welche sich durch eine je spezifische, unterschiedlich intensive „Gerichtetheit“ des Bewußtseins – sogenannten „Bewußtseinsgraden“ – auszeichneten (Schütz, 1993 [1932]). Ohne subjektive Gerichtetheit des menschlichen Bewußtseins gäbe es folglich kein objektives Wissen von der Welt. Dieses Wissen ist subjektiv-leiblich organisiert, da der Leib Träger solchen Bewußtseins ist.
Der Leib steht also an der Grenzschicht zwischen innerem Bewusstsein des minds – ein Gedanke, der sich auch bei A. N. Whitehead (1979 [1929]) findet – und den empirischen Erfahrungen des Bewußtsein in der äußeren Welt. Somit ist der Leib keine abgetrennte „kognitive Zentrale“ des Menschen, wie dies der Cartesianismus nahegelegt hat, sondern ein „Zwischenraum“. Es kann so kein „abstraktes“ und „diskursives“ vom Subjekt losgelöstes Wissen (von) der Welt geben, da alle Wissensformen in Subjekten gründen, die diese erst erkannt und „verarbeitet“ haben (vgl. Dörfler und Rothfuß, 2021). Die englischsprachige Nähe von mind zu Bewusstein könnte hier eigentlich eine Brücke schlagen zu den leibtheoretischen Erwägungen, die in der neueren deutschsprachigen Philosophie wieder zum Tragen kommen (z. B. Böhme, 2019; Schmitz, 2007). In der deutschsprachigen Geographie ist dies jedoch wegen der Anglozentrik noch nicht der Fall (bis auf wenige Ausnahmen: z. B. Runkel, 2018).
Leib als körperlichen Geist zu verstehen, ist dabei die große Herausforderung. Die Leibphilosophie beruft sich dafür v. a. auf Arbeiten aus der Philosophischen Anthropologie (Scheler, Gehlen, Plessner) und der Phänomenologie (Husserl, Schütz, später Waldenfels) sowie der Neophänomenologie (Schmitz, 2007; vgl. auch Gugutzer, 2017). Auch wenn diese leibtheoretischen Arbeiten verschiedentlich in der deutschsprachigen Geographie diskutiert wurden (vgl. dazu: Dickel und Keßler, 2019; Dörfler und Rothfuß, 2018, 2021; Ernste, 2004; Hasse, 2014; Korf, 2012; Marquardt, 2015), wurden sie in der Diskussion zum material turn nur randständig beachtet.
Bis heute ist es nicht gelungen, dieses Diskurstableau der 1900–1930er Jahre epistemologisch-historisch ausreichend zu rekonstruieren. Diese phänomenologischen Ansätze entstanden zu einer Zeit, als die französischspachige Epistemologie (z. B. Gaston Bachelard, 1987 [1938] und Georges Canguilhem, 1979) mit ihrer Forderung einer sozialen Einbettung der Wissenschaft und ihrer Diskurse einen ganz anderen Weg einschlug als die wissenschaftstheoretisch-methodischen Überlegungen des in Deutschland dominierenden Neukantianismus, der sich auf methodologische Wahrnehmungsfragen konzentrierte, so z. B. bei Nicolai Hartmann und Hermann Cohen. Diese neukantianischen Debatten kontrastierten mit den damals noch geläufigen monistischen Ansätzen, z. B. des Leipziger „Positivistenkränzchens“, dem auch Ratzel angehörte, welche den Neukantianismus, aber auch verschiedene Formen des dialektischen Hegelianismus ablehnten. Hans Blumenberg sieht diese „deutsche philosophische Situation zu Anfang der zwanziger Jahre bestimmt durch die Viererkonstellation von Neukantianismus, Phänomenologie, Lebensphilosophie und Positivismus Prager Herkunft“ (Blumenberg, 2010:22).
Der „Materialismus“ war in diesem Diskurs immer schon konstitutiv und wurde besonders bei geisteswissenschaftlichen Fragen der Hermeneutik und Phänomenologie thematisiert. Aus unserer Sicht ist es deshalb bedauerlich, dass weite Teile der Humangeographie seit dem cultural turn diese philosophischen Elemente und Kontroversen der Geistesgeschichte schlicht übersprungen oder ignoriert haben. Denn die Frage nach Körper und Geist als konstitutive Bestandteile des Leibes war ein zentrales Feld dieser Auseinandersetzungen, die auch heute noch in den Debatten einer post-humanistischen Geographie anklingen.
Unser Eindruck ist, dass die diskurstheoretische Fokussierung, welche die Anfangsphase der Neuen Kulturgeographie stark geprägt hatte, zunächst den Materialismus ausblendete („there is nothing outside the text“) und dann auch nur sehr wenig mit einer Leibtheorie anfangen konnte („Tod des Subjekts“; vgl. auch Dörfler und Rothfuß, 2013). Mit der „Wiederentdeckung“ des „Materialismus“ (Kazig und Weichhart, 2009) – nun in avantgardistischem Duktus des new materialism – folgte ein Ausschlag in die andere Richtung: Die Rezeption – wieder über die anglophone Geographie – führte nun dazu, dass erneut eine engere Auseinandersetzung mit der Leib- und Bewußtseinsphilosophie ausblieb. Um dieses Versäumnis aufzuarbeiten, legt dieses Themenheft einen Schwerpunkt auf die Aufarbeitung dieser Denktradition.
Genauso wichtig wie die Wiederbelebung der hermeneutisch-phänomenologischen Debatte erscheint uns eine neue Interpretation des Denkens der „Frankfurter Schule“. Hier hat die Geographische Zeitschrift gerade ein eigenes Themenheft zur „Geographie mit Adorno“ (Belina und Reuber, 2021) vorgelegt. Darin (und anderswo) liest Chris Philo (2017, 2021) Adorno als Inspiration für mikrologische Untersuchungen einer „Geographie des Kleinen“. Bernd Belina (2020) wiederum hat besonders den Historischen Materialismus im Denken Adornos und Horkheimers betont und als vornehmliches Deutungsangebot unterbreitet. Doch hat die „Frankfurter Schule“ insgesamt weder in der anglophonen noch in der deutschsprachigen Geographie eine grosse Resonanz gefunden. Besonders in Hinsicht auf den für die Frankfurter Schule zentralen Begriff der Totalität, sei es als über allem stehenden Gesetz, sei es als die Vernunft übersteigende Sphäre der Göttlichkeit, gibt es wenig Überlegungen.
Vielleicht liegt diese zögerliche Rezeption daran, dass Michel Foucault, der in der kritischen Geographie lange eine zentrale theoretische Bezugsperson war (und noch ist), sein ambivalentes Verhältnis zur Frankfurter Schule dahingehend zum Ausdruck gebracht hat, dass er die Immanenz des Humanen betonte (Wolf, 2014:207 ff.). Diese Ambivalenz wurde auch von der anderen Seite geteilt: So bezeichnete Jürgen Habermas Foucaults genealogischen Ansatz als „relativistische und kryptonormative Scheinwissenschaft“ (Habermas, 1985:324). Erst Axel Honneth, dessen Arbeiten ebenso wie diejenigen von Rahel Jaeggi in der Geographie vereinzelt aufgegriffen worden sind (z. B. Hannah, 2019; Rothfuß, 2012; Boamah und Rothfuß 2020), hat eine erneute Annäherung zwischen der Frankfurter Schule und Foucaults genealogischem Ansatz möglich gemacht (Honneth, 1985, 2005, 2007). Dies könnte aus unserer Sicht auch Aufforderung für eine erneuerte Rezeption der Frankfurter Schule in der Kritischen Geographie sein.
Während der säkuläre sozialwissenschaftliche Diskurs oft im dialektischen Materialismus stecken bleibt, wird der transzendentale Aspekt der Debatte ausgeblendet, weil er zu sehr „stört“, vielleicht auch belastet. Die religionsphilosophische Grundierung der Kritischen Theorie wird deshalb kaum reflektiert, noch deren theologisches Umfeld4. In seinen geschichtsphilosophischen Thesen bezeichnet Walter Benjamin den „historischen Materialismus“ mit dem Bild einer „Puppe in türkischer Tracht“. Ein unsichtbarerer „buckliger Zwerg“ lenke „die Puppe an Schnüren“. Der Zwerg ist hier die Theologie, „die heute bekanntlich klein und hässlich ist“ (Benjamin, 1977:251). Doch sollten wir den Zwerg nicht unterschätzen, lenkt dieser doch die Puppe (den Historischen Materialismus). Zugleich gibt es hinreichende Indizien, dass auch Adorno und Horkheimer auf theologische Figurationen zurückgegriffen haben, um ihrer Hoffnung auf Utopie und vielleicht sogar Erlösung Ausdruck zu verleihen (vgl. Brumlik, 2014:103 ff.; Nagl-Docekal, 2020). So formulierten sie in der Dialektik der Aufklärung: „Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun“ (Horkheimer und Adorno, 1971 [1969]:4).
Die heftigen Kontroversen, die das theologisch grundierte Vokabular bei Adorno und Horkheimer, Benjamin, auch Kracauer (1979)5 und Ernst Bloch (1985) in „Das Prinzip Hoffnung“6 unter linken Theoretikerinnen und Theoretikern in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960 und 1970er Jahren ausgelöst hat, sollten zumindest nicht leichtfertig übergangen werden, ebenso wenig wie die vielfältigen Diskussionen im Umkreis von Jacob Taubes, die sich mit religionsphilosophischen Hintergründen auch der Frankfurter Schule (z. B. über ihren vermeintlichen Gnostizismus) auseinandersetzen. Taubes ist auch wegen seiner Auslegungen der Paulus-Briefe ein wichtiger Anknüpfungspunkt jüngerer theoretischer Debatten. Von seinen Lektüren aus lassen sich wieder vielfältige Verbindungslinien zurück in die Italian Theory knüpfen, z. B. zu Giorgio Agamben in Die Zeit, die bleibt (Agamben, 2006), und erneut spinnt sich ein polylogisches Netz als entanglements der German Theory, nun auch zur French Theory, z. B. zu Alain Badious „Paulus“ (Badious, 2002), oder auch zu Slavoj Žižek (2000) und dessen Relektüren der Pauluslektüren linker Theoretikerinnen und Theoretiker.
Anscheinend haben diese Autorinnen und Autoren weit weniger Hemmschwellen, sich eine theologische und religionsphilosophische Geistesgeschichte für eine dezidiert linke Theorie anzueignen, als es in der deutschsprachigen oder anglophonen Humangeographie üblich ist, wo diese Theoretiker sehr wohl rezipiert werden, deren religionsphilosophische Aneignungspraxis aber nicht weiter vertieft oder gegengelesen wird. Gleiches gilt auch für die Aneignung des Denkens Carl Schmitts, dessen theologische Grundierung (und gnostizistische Denkweise, die auch seinen tiefsitzenden Antisemitismus begründet) kaum berücksichtigt wird, wenn sein – politisch höchst problematisches – Denken für linke Theorie fruchtbar gemacht wird (Korf und Rowan, 2020). Diese fehlende „Musikalität“ für religionsphilosophische Resonanzräume in diesen Theoriedebatten mag mit einer Marginalisierung der Religionsgeographie im Fach zusammenhängen (vgl. hierzu Henkel, 2011; Korf, 2018), die jedoch dringend hinterfragt werden sollte. Dann eröffnen sich auch bei der Lektüre der Frankfurter Schule neue Perspektiven einer entangled theory.
Die Leerstellen, welche wir in diesem Themenheft um- und beschreiben, liegen wie Wrackteile versunkener Schiffe am Meeresgrund in den Sedimenten kontinentaler Geistestraditionen. Leerstellen sind immer kontingent, das heisst, die Erinnerung an sie verändert sich ständig und verändert auch die Traditionen selbst. In der Geschichte des Faches sind deshalb Rezeptionsdynamiken und das Vergessen auch umkehrbar, so dass Schiffwracks mitunter auch wieder geborgen und restauriert werden können, ja manchmal gelingt es sogar, dabei auch versunkene Schätze zu heben. Taktiken der Provinzialisierung sind dann nichts anderes als Tauchgänge zu geistesgeschichtlichen Grundlagen, in diesem Fall zur German Theory. Sie öffnen Möglichkeitsräume der entangled theory, in denen die Wrackteile archäologisch freigelegt, geborgen, restauriert, renoviert und neu in Wert gesetzt werden. Dazu versteht sich unser Editorial als Ermunterung und Einladung. Theoriearbeit zu provinzialisieren bedeutet hier, einen interkonnektiven und horizontalen Provinzialismus zu entwickeln, in der Erwartung gegenseitiger Bereicherung. Die Früchte dieses Themenheftes zur German Theory stellen deshalb ein konstruktives Angebot dar, Theorie in der Humangeographie dialogisch zu befruchten. So kann entangled theory inspirieren und Spass machen – ganz im Sinne von Juliet Falls Diktum: „Isn't the diversity, helped by bridges and go-betweens, rather fun, too?“ (Fall, 2013:58).
Für diesen Artikel wurden keine Datensätze genutzt.
Alle drei Autoren haben gleichwertig an der Konzeption, der Ausarbeitung, Verschriftlichung und Überarbeitung des Textes mitgewirkt.
Die Autor*innen erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.
Wir danken allen Kolleginnen und Kollegen, die sich am Zürichsee und in Würzburg zu Gesprächskreisen zusammengefunden haben und sich mit uns German Theory durch vielfältige Lektüren und Diskussionen angeeignet haben: Tobias Boos, Jos de Mul, Mirca Dickel, Peter Dirksmeier, Thomas Dörfler, Pascal Goeke, Olivier Graefe, Matt Hannah, Holger Jahnke, Nadine Marquard, Johannes Quack, Simon Runkel, Antje Schlottmann, Raji Steineck, Julia Verne. Auch danken wir allen Beitragenden und Mitdiskutierenden auf der Fachsitzung „German Theory“, die wir auf dem Deutschen Kongress für Geographie in Kiel im Oktober 2019 moderiert haben. Sie haben dazu beigetragen, German Theory in einem anderen Diskussionszusammenhang weiterzuführen.
This paper was edited by Nadine Marquardt and reviewed by one anonymous referee.
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In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft hat sich dieser Begriff schon seit längerem im Rahmen der Globalgeschichte eingebürgert, vgl. z. B. die Übersicht von Pernau (2011) zu unterschiedlichen Verflechtsansätzen wie connected history, Transfergeschichte, histoire croisée, entangled history (Conrad und Randeria, 2002) oder Translokalität (S. 36–85).
Eher in unserem Sinn verwendet Hannes Bajohr den Begriff „German Theory“ in einer Rezension zu einem Buch über Hans Blumenbergs Mythentheorie (vgl. Bajohr, 2015:358).
Hier ergeben sich wiederum neue Anknüpfungspunkte an die „Theoretische Biologie“ (von Uexküll, 1920) und die mit ihr verbundenen Überlegungen zur Philosophischen Anthropologie (z. B. Plessner, 1980 [1928]; Scheler, 2016 [1928]), die hier jedoch nicht näher ausgeführt werden können.
Zum Umfeld der Kritischen Theorie gehört v. a. die Theologie von Paul Tillich, die auf dem Entfremdungsgedanken zwischen dem Zeitlichen und Ewigen beruhte, und die sogenannte „Dialektische Theologie“ Karl Barths, welche – ohne direkten Bezug zur Frankfurter Schule – einer Theologie des Wortes Gottes die Krisenphänomene der Moderne gegenüberstellte.
Eine besonders interessante Studie von Kracauer ist „Der Detektiv-Roman. Ein philosophisches Traktat“ (Kracauer, 1979), der voller religiöser und geographischer Anspielungen ist.
Ernst Bloch stellt sogar einen direkten Zusammenhang zwischen geographischen und religiösen Utopien her.
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