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Imaginäre Naturverhältnisse: Psychoanalytische Einsichten zur Herstellung ontologischer Sicherheit in Berlin, Vancouver und Singapur
Lucas Pohl
Ilse Helbrecht
A central diagnosis driving research around social relations of nature is the thesis of the “end of nature”. In an era marked by climate change and global warming, the image of nature as a pristine and stable foundation of human existence seems outdated. In light of this, recent scholarship demonstrates how environmental changes and conflicts increasingly affect people's daily lives and present significant threats to psychic well-being. In contrast, in this paper we investigate the conditions under which nature continues to function as an effective source of `ontological security'. As part of an international comparative research project that engages geographical imaginaries of security and insecurity in Berlin, Vancouver, and Singapore, we analyze how nature is imagined by city dwellers as an object of desire that offers a place of refuge to escape the burdens from urban everyday life. Against this background, we emphasize imaginary nature as a powerful everyday source for the ontological security of subjects even under today's postnatural conditions.
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Eine zentrale Diagnose, die die Forschungen zu gesellschaftlichen Naturverhältnissen antreibt, ist die These vom „Ende der Natur“ (McKibben, 2006 [1989]). Das gängige Bild der (ersten) Natur als eines unberührten, harmonischen und stabilen Hintergrundes, vor dem sich Kultur und Gesellschaft abspielen, wird nicht zuletzt durch den Klimawandel obsolet. Phänomene wie Hitzewellen, Überschwemmungen, Wirbelstürme, Dürren oder Waldbrände lassen sich nur hinreichend erklären, wenn man sie im Sinne einer vergesellschafteten (zweiten) Natur versteht, die inhärent mit unseren sozialen, kulturellen und politischen Lebensweisen verbunden ist. Dieses Ende der (ersten) Natur bringt eine zutiefst verunsichernde Dimension mit sich, wie sie bereits Ulrich Beck (1986, 1999) in seiner Theorie der Risikogesellschaft beschreibt. Während das 19. Jahrhundert von der Phantasie einer vollständigen Naturbeherrschung beflügelt war, wurde dieser Glaube, so Beck, durch die ökologische Krise erschüttert und es setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Folgen menschlicher Eingriffe in die Natur mit zunehmenden existenziellen Verunsicherungen verbunden sind: „Die Kehrseite der vergesellschafteten Natur ist die Vergesellschaftung der Naturzerstörungen, ihre Verwandlung in soziale, ökonomische und politische Systembedrohungen“ (Beck, 1986, p. 10). Hiervon ausgehend hat sich eine Debatte zu Fragen der „Umweltunsicherheit“ (environmental insecurity) herausgebildet, in der die sozialen Auswirkungen der aus Ressourcenknappheit resultierenden Konflikte auf individueller, gruppenbezogener und staatlicher Ebene analysiert werden (siehe Dalby, 2003; Hall, 2013; Hough, 2012; Verhoeven, 2014; White, 2014).
Während diese Studien den Fokus auf raumbezogene Konflikte legen, die als ökologische „Geographien der Gewalt“ (Korf und Schetter, 2015) mit der zunehmenden Umweltzerstörung und Ressourcenknappheit einhergehen (Barnett und Adger, 2007; Welzer, 2008), konzentriert sich ein weiterer Forschungsstrang auf die alltäglichen Dimensionen von Umweltunsicherheit. Studien haben in diesem Zusammenhang untersucht, inwiefern das zunehmende Bewusstsein rund um Umweltveränderungen zu einer möglichen Bedrohung für die psychische Gesundheit und das psychische Wohlbefinden werden kann (für einen Überblick siehe Cianconi et al., 2020). Zentral wurde hierbei betont, wie mediale Berichte und Expert*innenprognosen gegenwärtig zu einem diffusen Gefühl der allgemeinen Verunsicherung führen, welches mit einer Reihe negativer psychologischer Auswirkungen verbunden ist, darunter Depressionen, Suizidgedanken und posttraumatischem Stress sowie Gefühlen von Wut, Hoffnungslosigkeit, Bedrängnis und Verzweiflung (Cunsolo und Ellis, 2018). Der Alltag sei demnach zunehmend begleitet von „ökologischen Ängsten“ (Robbins und Moore, 2013), „ökologischer Trauer“ (Cunsolo und Landmann, 2017), sogar einem „anthropozänen Horror“ (Clark, 2020), der aus Gefühlen des Entsetzens über die sich global verändernde Umwelt hervorgehen kann. Erik Swyngedouw (2015, p. 135) interpretiert die verunsichernde Dimension der vergesellschafteten Natur als eine Art bröckliges Fundament, mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Auswirkungen:
Die Natur ist unberechenbar, erratisch, sprunghaft und blind. Es gibt keine endgültige Garantie in der Natur, auf die wir unsere Politik oder das Soziale gründen können, auf die wir unsere Träume, Hoffnungen oder Bestrebungen stützen können. (eigene Übersetzung)
Unser Beitrag knüpft an diese aktuellen Debatten an. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Forschungen konzentrieren wir uns jedoch nicht auf jene Naturverhältnisse, die das Sicherheitsempfinden von Menschen gegenwärtig stören, sondern fragen danach, ob und wie Natur auch heute noch als sicherheitsstiftende Kategorie im Alltag von Subjekten aufgegriffen und verhandelt wird. Hierzu stützen wir uns auf einen psychoanalytischen Ansatz und fragen konkreter nach den bildhaften Vorstellungen, den imaginären Verhältnissen, die es Subjekten weiterhin ermöglichen, Natur zu einem Ort der Versicherung werden zu lassen – sowie nach den divergierenden, widersprüchlichen und teilweise konflikthaften Dynamiken, die sich durch dieses Verhältnis eröffnen. Anhand einer empirischen, internationalen Studie zeigen wir, wie die Natur – oder genauer gesagt: welche (Imagination von) Natur – herangezogen wird, um als ontologisch versicherndes Fundament zu dienen. Hierzu erläutern wir zunächst das Konzept der ontologischen Sicherheit, welches neben der Lacan'schen Psychoanalyse die theoretische Grundlage unserer Betrachtung bildet. Dieser weitgefasste, existenzielle Sicherheitsbegriff erlaubt es, den Einfluss der Natur auf das subjektive Wohlempfinden näher zu beleuchten. Im Anschluss daran präsentieren wir die empirischen Ergebnisse unseres Forschungsprojektes zu imaginären Naturverhältnissen in Deutschland, Kanada und Singapur. Auf Grundlage von 180 qualitativen Interviews, die zwischen 2018 und 2021 geführt wurden, zeigen wir auf, wie die Natur von den Interviewten als eine Art Zufluchtsort imaginiert wird, um den Belastungen des Alltags zu entkommen. Darüber gelangen wir zu dem Schluss, dass die Natur in den geographischen Imaginationen von Subjekten eine wirkmächtige Instanz für die alltägliche Herstellung von ontologischer Sicherheit bleibt.
Unserer Auseinandersetzung mit imaginären Naturverhältnissen liegt das Konzept der „ontologischen Sicherheit“ zugrunde. Eingeführt von dem Psychiater Ronald D. Laing (1983 [1960]) in seinem Buch Das geteilte Selbst, wurde dieses Konzept herangezogen, um jene alltäglichen Bedingungen zu erfassen, die es braucht, damit Menschen psychisch gesund sein können, bleiben oder werden. Laing arbeitete hiermit ein wesentliches Merkmal psychischer Gesundheit und persönlicher Autonomie heraus, eine Art Grundvertrauen des Individuums in dessen eigene Identität, die Rolle anderer Personen und auch in die Existenz einer kontinuierlichen, materiellen Welt um sich herum:
Ein Mensch kann das Gefühl seiner Präsenz in der Welt haben als eine reale, lebendige, ganze und, in einem temporalen Sinn, kontinuierliche Person. Als solche kann er in der Welt leben und andere treffen: Eine Welt und andere, die als gleichermaßen real, lebendig, ganz und kontinuierlich erfahren werden. Solch eine fundamental ontologisch sichere Person wird allen Zufällen des Lebens, sozialen, ethischen, geistigen, biologischen, begegnen mit einem zentralen, unveränderlichen Gefühl von der eigenen Realität und Identität und der anderer. (Laing, 1983 [1960], p. 47)
Anthony Giddens (1991, 1996) hat das Konzept der ontologischen Sicherheit in den Kanon der Geistes- und Sozialwissenschaften übertragen, indem er Fragen subjektiver Verunsicherung und Identitätskrisen ausgelöst durch Globalisierungsprozesse mit dem Begriff der ontologischen (Un)Sicherheit untersuchte. Nachfolgend fand das Konzept in weiteren Teilen der sozial-, politik- und raumwissenschaftlichen Forschung Verwendung: etwa in den Housing Studies (Colic-Peisker, 2010; Dupuis und Thorns, 1998; Genz und Helbrecht, 2022; Hiscock et al., 2001; Kearns et al., 2000; Pohl et al., 2022; Saunders, 1990), Politikwissenschaften (Browning, 2019; Homolar und Scholz, 2019; Mitzen, 2006b, a; Steele, 2008; Steele und Homolar, 2019) und der Humangeographie (Bondi, 2014; Botterill et al., 2019; Browning, 2018; Genz et al., 2021; Helbrecht et al., 2021; Sullivan und Akhtar, 2019; Vaughan-Williams und Pisani, 2020).
Mit diesem Beitrag machen wir das Konzept der ontologischen Sicherheit hinsichtlich der alltäglichen Bedeutung von Naturverhältnissen fruchtbar. Schließlich wurde es bislang hauptsächlich auf zwischenmenschliche Zusammenhänge angewendet und Mensch-Umwelt-Beziehungen wurden weitestgehend außer Acht gelassen. Dieser Mangel an Forschung spiegelt jedoch keineswegs das Potenzial des Konzepts der ontologischen Sicherheit für die Bedeutung menschlicher und nicht-menschlicher Interaktionen wider (Banham 2020, p. 134). Schon die Forschungen von Sarah Whatmore (2013) zu mehr-als-menschlichen Geographien haben gezeigt, dass Menschen durch bedrohliche Naturereignisse wie z.B. Flutkatastrophen fundamental affiziert werden. Gerade im Kontext gegenwärtiger Umweltveränderungen, insbesondere im Zuge des Klimawandels, wo die Vorstellung einer „natürlichen Umwelt, wie sie sich unabhängig von menschlichen sozialen Aktivitäten konstituiert“ (Giddens, 1991, p. 168, eigene Übersetzung), zunehmend obsolet zu werden scheint, werden von der Forschung ebenso wie von politischen Aktivist*innen oftmals die negativen Gefühle und Assoziationen hinsichtlich der bedrohlichen Umweltveränderungen stark gemacht. Die Frage, ob Natur gegenwärtig nicht auch (noch) als Garant für ontologische Sicherheit dienen kann, scheint theoretisch ebenso wie empirisch (und auch politisch) aus dem Blick geraten zu sein. In eben diese Forschungslücke schreiten wir hinein.
Wir untersuchen, wie Natur zu einer Instanz für die ontologische Sicherstellung von Subjekten wird (siehe auch Pohl und Helbrecht, 2022a) bzw. fragen danach, mit welchen Vorstellungen von Natur sich Subjekte ontologisch versichern. Damit knüpfen wir an eine grundlegende Prämisse an, die in der Humangeographie eine lange Tradition hat: die gesellschaftliche Konstruiertheit von Natur. Schließlich kommt die These vom „Ende der Natur“, wie wir sie in der Einleitung skizziert haben, nicht nur in den naturwissenschaftlichen Befunden über den Klimawandel zum Ausdruck, sondern findet auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften großen Anklang. Gerade in der Humangeographie besteht seit langem Konsens darüber, dass es keine einheitliche, vom Menschen losgelöste Natur gibt, sondern einzig konkurrierende Naturverhältnisse und umkämpftes ökologisches Wissen (Macnaghten und Urry, 1999; Castree, 2014; Castree und Braun, 2001; Flitner, 1998; Willems-Braun, 1997). So hat die poststrukturalistische Geographie den Fokus auf die soziale Konstruktion von Naturverständnissen gelegt, um nachzuvollziehen, wie der Natur diskursiv Bedeutung zugeschrieben wird (Bauriedl, 2016; Chilla, 2005; Demeritt, 2002; Otto, 2018). Posthumanistische Geographien betonen jedoch, dass es über die sprachliche Repräsentation hinaus weiterer empirischer wie methodischer Zugänge für die Erforschung von Interaktionen zwischen Menschen und nicht-menschlicher Mitwelt bedarf (Whatmore, 2006, 2013). Ein Aspekt, den wir daran anschließend besonders herausstellen, ist – neben der Analyse von Diskursen – die Rolle des Bildhaften bzw. Imaginären für das Verständnis emotionaler Gesellschaft-Natur-Verhältnisse (siehe auch Fischer, 2004). Im Anschluss an den Psychoanalytiker Jacques Lacan begreifen wir das Imaginäre als Prozess der „räumlichen Identifizierung“ (Lacan, 2016 [1966], p. 114), durch den ein Subjekt ein Bild verinnerlicht, um dadurch ein Gefühl von Stabilität, Konsistenz und Vollständigkeit (bzw. ontologische Sicherheit) in Bezug auf sich und die Welt um sich herum herzustellen (siehe auch Blum und Nast, 1996; Nobus, 1999). Von der Annahme ausgehend, dass Menschen keine „an sich“ vollständigen, konsistenten und stabilen, sondern dynamische, inkonsistente und konflikthafte Wesen sind, zielt das Imaginäre folglich darauf, nachzuvollziehen, wie Menschen überhaupt zu einer Vorstellung von sich selbst und anderen kommen, und betont dabei die Projektionen von Vorstellungen (von Kohärenz, Einheit, Stabilität usw.) auf Bilder, die dem Subjekt strenggenommen äußerlich sind.1 Im Folgenden heben wir diese Verbindung von Bild und Vorstellung methodisch hervor (siehe auch Pohl und Helbrecht, 2022b), um aufzuzeigen, welche Rolle imaginäre Naturverhältnisse für die Aufrechterhaltung ontologischer Sicherheit spielen.2
In unserem Forschungsprojekt wurden insgesamt 180 qualitative Interviews in Deutschland, Kanada und Singapur geführt, um über (ontologische) sicherheitsbezogene Themen und Herausforderungen zu sprechen, denen Menschen in ihrem jeweiligen Alltag begegnen.3 Da alle drei Länder hochgradig urbanisiert sind, wurden Berlin, Vancouver und Singapur als konkrete Untersuchungsorte gewählt. Die Auswahl der drei Fallstudienstädte erfolgte mit dem Ziel, einerseits eine hohe Vergleichbarkeit der räumlichen Settings zu erreichen, indem drei global sehr vernetzte, touristisch attraktive, kulturell diverse wie auch ökonomisch privilegierte Städte als Untersuchungsorte gewählt wurden. Andererseits sollte ein internationaler Vergleich durchgeführt werden, der unterschiedliche regionale Gesellschafts- und Naturverhältnisse wie auch geopolitische Positionierungen in Nordamerika, Europa und Südostasien berücksichtigt. Die Auswahl der Interviewten erfolgte entlang folgender Stichprobenstrategie: (a) ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis, (b) eine faire Repräsentation dreier verschiedener Altersgruppen (zwischen 15–30, 35–50 und 55–70 Jahren), sowie (c) ein polarisiertes soziales Profil in Bezug auf Einkommen und Bildung. Die Rekrutierung erfolgte durch Online-Postings, Aushänge, gezieltes Anschreiben, persönliche Kontakte und durch ein „Schneeballprinzip“.
Das strukturierende Element der Interviews waren Fotografien, die nach dem methodischen Ansatz der Foto-Elizitation verwendet wurden, um die emotionalen und affektiven Dimensionen sicherheitsbezogenen Raumwissens zu beleuchten (Dobrusskin et al., 2021; Pohl und Helbrecht, 2022b). Aufgrund des Samples an Bildern, die jeweils unterschiedliche Raumtypen und Maßstabsebenen in den Fokus rückten – von Zimmern über Plätze bis hin zu Grenzen und dem Weltraum –, berührten die Interviews eine Vielzahl von Themen: von den ontologisch ver(un)sichernden Aspekten, die vom Wohnen in Städten wie Berlin und Vancouver ausgehen (Genz und Helbrecht, 2022; Pohl et al., 2022) bis hin zu Fragen danach, wie migrantische Care-Arbeiterinnen in Singapur durch sozialräumliche Praktiken Sichtbarkeit und Zugehörigkeit erlangen, um sich dadurch ontologisch zu versichern (Dobrusskin und Helbrecht, 2021).
Für die Bildauswahl und Interviewführung in unserem Forschungsprojekt war es entscheidend, dass die Bilder und Gespräche genug Raum für Interpretationen und freie Assoziationen lassen. Abgesehen von der Auswahl der Fotografien folgten die Interviews einem offenen Ansatz, bei dem die Bilder den Befragten nacheinander gezeigt wurden, während ihnen allgemeine Fragen gestellt wurden, wie: „Was sehen Sie auf diesem Bild?“ oder „Löst dieses Bild irgendwelche Gefühle in Ihnen aus?“. Der Satz von Bildern, der in den Interviews verwendet wurde, bestand aus fünf Fotografien, die in jedem Interview verwendet wurden, sowie einer freien Auswahl von acht weiteren Fotografien, aus denen die Befragten selbst wählen konnten, worüber sie sprechen möchten (siehe exemplarisch Abbildung 1–3).
Zwar wurden ökologische Motive bei der Bildauswahl in unterschiedlicher Weise berücksichtigt, Naturverhältnisse standen jedoch zunächst nicht dezidiert im Fokus der Forschung. Erst im (offenen) Gesprächsverlauf und der anschließenden Interviewanalyse zeigte sich, dass „Natur“ beinahe in allen Interviews zur Sprache gebracht wurde und eine Vielzahl von divergierenden Reaktionen hervorrief, die einer genaueren Untersuchung bedurften. Insbesondere das Bild einer von den Interviewer*innen nicht weiter spezifizierten Landschaft (Abbildung 2), das dezidiert für die Vancouver-Empirie ausgewählt wurde, evozierte eine ganze Bandbreite naturbezogener Gesprächsthemen, die wir im Folgenden hinsichtlich Gefühlen von Sicherheit, Zugehörigkeit und Wohlbefinden näher erörtern.4 Dabei gehen wir in drei Schritten vor, um nachzuvollziehen, wie in den Interviews eine bestimmte Vorstellung von Natur angerufen wurde, die sich der Frage von ontologischer Sicherheit zuordnen lässt: (1) die Verortung der Natur in Distanz zur Stadt und damit außerhalb des eigenen Alltags, (2) die emotionale Aufladung dieser Natur mit Qualitäten, die die Natur zu einem sehnsuchtsvollen Rückzugsort werden lässt und (3) die Identifizierung mit dieser Natur als Ort, der Eigenschaften des eigenen Idealbildes zum Ausdruck bringt.
3.1 Die Natur in Distanz zur Stadt
Auf den ersten Blick scheint es sich bei Singapur, Vancouver und Berlin um drei vollkommen unterschiedliche städtische Naturverhältnisse zu handeln. Die Stadt mit dem prominentesten Naturbezug ist vermutlich Vancouver. Von Wasser umgeben und im Norden und Osten von einer Gebirgskette umschlossen, lehnt sich das Stadtgebiet Vancouvers unmittelbar an eine Natur an, die dünn besiedelt und infrastrukturell unerschlossen ist.5 Der Blick durch die Häuserschluchten Downtowns endet auf der einen Seite im dunklen Blau des Pazifischen Ozeans (English Bay) und auf der anderen Seite im satten Grün der Coast Mountains, weshalb es auch heißt, dass Vancouvers „dramatische Kulisse … so etwas wie ein irdisches Paradies ergibt“ (Berelowitz, 2005, p. 15, eigene Übersetzung). Berlin dagegen ist als kontinentaleuropäische Hauptstadt zugleich Teil der flächenmäßig größten Metropolregion des Landes. Und auch wenn die Bevölkerungsdichte außerhalb des städtischen Kerngebiets verhältnismäßig gering ist und die Stadt von einer Vielzahl dünnbesiedelter, ländlicher Räume umgeben wird, wird Berlin in der Regel mit keiner vergleichbar „paradiesischen“ Natur assoziiert. In Singapur als reinem Stadtstaat findet Natur wiederum maßgeblich innerhalb des Stadtgebietes statt (mit Ausnahme des Seezugangs und der damit verbundenen Meerlandschaft). Prominentes Beispiel hierfür sind die „Gardens by the Bay“, ein insgesamt 177 Fußballfelder fassendes Areal inmitten Singapurs, welches mit Botanischen Gärten, Gewächshäusern und anderen Gartenanlagen durchzogen ist. Hier gibt es künstlich angelegte Nebelwälder und Wasserfälle, Blumenhallen mit mediterranem, australischem und südamerikanischem Ambiente und 50 Meter hohe „Supertrees“ (aus Stahl und Beton konstruierte Mammutbäume), die das Areal durch Photovoltaikanlagen mit Strom versorgen.
Auch wenn die drei untersuchten Städte somit auf den ersten Blick mit sehr unterschiedlichen Naturverhältnissen in Verbindung gebracht werden können, werden wir im Folgenden eine zentrale Gemeinsamkeit herausarbeiten, die in den Interviews in Berlin, Singapur und Vancouver zum Ausdruck kam: In allen drei Kontexten wurde eine spezifische Naturvorstellung artikuliert, die in klarer Abgrenzung zum Stadtraum existiert. In der Vancouver-Empirie kulminierte diese Naturvorstellung in der sprachlichen Unterscheidung zwischen wilderness und nature, wodurch der Unterschied zwischen der Natur innerhalb und außerhalb der Stadt markiert wurde. In den Interviews wurde über die „Wildnis“ beharrlich das Bild einer „ersten“ Natur konstruiert, die frei von menschlichen Einflüssen sei:
Wenn man außerhalb von Vancouver ist, ist dort einfach nur meilenweite Wildnis. Ich habe ein paar Wanderungen in Northbound gemacht, und wenn du oben am Gipfel ankommst und herunter schaust, ist dort ein grenzenloses Tal ohne jegliche Zivilisation … und es ist irgendwie beängstigend, weil man sich fragt: was ist da draußen? (Van11, 257)
Die „Wildnis“, wie sie in den Foto-Elizitations-Interviews (vor allem über das Bild in Abbildung 2) heraufbeschworen wurde, ist mit einer Reihe von Attributen aufgeladen, wie bspw. Unberührtheit, Andersartigkeit und Grenzenlosigkeit.6 Im Gegensatz zu der Natur innerhalb der Stadt, fungiert die Wildnis als Raum, der sich dem Zugriff des Menschen entzieht und deshalb gerade aus städtischer Sicht etwas Faszinierendes und zugleich Beängstigendes an sich hat (Hofmeister, 2009). In den Berliner Interviews wurde analog hierzu immer wieder betont, dass die Natur zwar einen Platz in der Stadt habe bzw. haben sollte, es jedoch einen Unterschied mache, ob man in den nächstliegenden Stadtpark geht oder die Stadt verlässt, um in die Natur zu fahren. Orte wie das Tempelhofer Feld oder der Gleisdreieckpark wurden als alltäglicher Teil des städtischen Lebens beschrieben, während die Natur außerhalb der Stadt mit Assoziationen aufgeladen ist, die vor allem auf die Abnabelung vom urbanen Alltag abzielen. Während dieser Rückzug aus der Stadt von einigen durchaus positiv verhandelt wird, wie wir später noch genauer darlegen werden, wollen wir an dieser Stelle zunächst den Fokus darauf richten, wie die Anwesenheit der Natur auch in Berlin vor allem über die Abwesenheit von Stadt kenntlich gemacht wurde. Besonders markant wird diese Abgrenzung in folgender Aussage, in der sich des Motivs der „Rückkehr der Natur“ über die Rückkehr der Wölfe bedient wird:
Ich meine, warum entvölkern sich ganze Gegenden von Mecklenburg-Vorpommern? Weil sie halt wirtschaftlich abgehängt sind und du die Jobs hier findest in Berlin. Nicht? Und diese Entwicklung wird ja immer stärker. Nicht? Dafür kommen die Wölfe. (lacht) … Umso weniger Menschen dort im ländlichen Raum leben, umso stärker kommt die Natur wieder zurück in diese Räume. Nicht? (Ber31, 88)
Was entlang dieses Spannungsverhältnisses zwischen ländlichen und städtischen Räumen deutlich wird, ist die Vorstellung einer „ersten“ Natur, die im Gegensatz zur „zweiten“ Natur keinen Platz in der Stadt hat und die vor allem dort sichtbar wird, wo der Mensch nicht ist. Der Wolf steht repräsentativ für diese „erste“ Natur,7 insofern er zunächst durch den Menschen vertrieben wurde und schließlich vor allem an jene Orte zurückkehrt, an denen er sich ungestört verbreiten kann. Auch hier findet sich demnach eine latente Differenzierung in eine „echte“, vom Menschen losgelöste Natur und eine „künstliche“, menschlich geformte Natur. Analog hierzu wurde auch in den Interviews aus Singapur mehrfach der markante Unterschied zwischen der städtischen Natur Singapurs und der nichtstädtischen Natur außerhalb von Singapur betont:
In Singapur gibt es sehr viele hübsche Naturräume. Rasen, Gärten und Parks in Singapur sind oft für den Massenkonsum zugeschnitten. Das ist für mich im Zusammenhang mit meinen Erfahrungen, die ich in Gebieten wie Kambodscha, Vietnam und Indonesien gemacht habe so etwas, ähm, wie soll ich sagen … wie der Versuch des Menschen, die Natur zu zähmen. (Sing58, 285)
Mehrheitlich wurde in den Interviews aus Singapur auf die Existenz einer „ursprünglichen“ [primordial] Natur hingewiesen, wie sie sich vermeintlich in Singapurs Nachbarländern findet und die im deutlichen Gegensatz zur menschlich geformten Natur Singapurs steht. Gerade der Aspekt der „Zähmung“ [taming] ist hierbei ein wesentliches Motiv, das ähnlich wie im Fall von Vancouver und Berlin die Vorstellung einer „ersten“, ungezügelten Natur erzeugt.
In der Einleitung zu dem Sammelband Lacan and the Environment argumentieren Burnham und Kingsbury (2021, p. 3), dass Natur im Sinne des Imaginären sich vor allem entlang von Dualismen konstituiert, die es dem Subjekt gestatten, sich ein „Bild“ von der Natur als „schön, atemberaubend und erhaben“ zu machen. Um als „erhabenes Objekt“ (Žižek, 2021 [1989]) zu fungieren, muss die Natur dabei mit einer Phantasie der „Unerreichbarkeit“ und „Äußerlichkeit“ belegt werden (siehe auch Pohl und Helbrecht, 2022a, p. 8–9). Doch wohnt diese Unerreichbarkeit der Natur nicht „an sich“ inne, sondern wird erst durch das Subjekt und dessen emotionale Ausrichtung hergestellt.8 Mit Blick auf unsere Forschung zeigt sich, dass die (imaginäre) Natur gerade aus städtischer Sicht eine Erhabenheit erhält, da sie als Raum fungiert, der vom Standpunkt der Stadt aus nur schwer erreichbar bzw. sogar unerreichbar bleibt. Das bedeutet nicht, dass in den Interviews nicht auch auf die Natur innerhalb der Stadt hingewiesen wurde. Was die Perspektiven aus Vancouver, Singapur und Berlin gemein haben, ist jedoch die Annahme einer (imaginären) Natur, die über die städtische Natur hinaus und somit jenseits des urbanen Alltags existiert. Distanz wird dabei zu einem wesentlichen räumlichen Marker, wenn es um die emotionale Aufladung dieser Natur geht. Distanz meint dabei nicht nur die objektiv-messbare Entfernung, die es braucht, um „in die Natur“ zu gelangen, sondern zugleich auch eine subjektiv wahrgenommene Entlegenheit sowie Unzugänglichkeit dieser Natur.9 Diese subjektive Wahrnehmung der Entfernung von Natur steht wiederum in einem intrinsischen Verhältnis zu den gesellschaftlichen Bedingungen, aus denen heraus die Interviewten ihre Distanz zur Natur betrachteten. Beispielsweise weist ein Interviewpartner aus Vancouver darauf hin, dass er durch seine Arbeit an der Universität „in der Stadt feststeckt“ und es nur selten „raus“ in die Natur schafft:
Manche Menschen sind sehr gut darin, raus [in die Natur] zu kommen, aber ich mit meiner Promotion bin so beschäftigt. Ich arbeite bis spät, jeden Tag, und komme nicht oft genug raus aus der Stadt. (Van16, 284)
Im Hinblick auf das Konzept der ontologischen Sicherheit wird durch diese distanzierte Betrachtung der Natur die Vorstellung einer „natürlichen Umwelt, wie sie sich unabhängig von menschlichen sozialen Aktivitäten konstituiert“ (Giddens, 1991, p. 168, eigene Übersetzung), erzeugt und aufrechterhalten. Diese (imaginäre) Natur jenseits des städtischen Alltags wird dadurch zu einem Ort der Beständigkeit, der von dem dynamischen Treiben des städtischen Alltags unberührt bleibt. Euphorisiert schildert eine Interviewpartnerin mit Blick auf Abbildung 2, dass das Schöne an dieser Natur sei, dass man sie „einfach so genießen [kann], wie sie war, bevor man hierherkam und sie auch so bleiben wird, nachdem man [dort] gewesen ist“ (Van54, 58). Im Gegensatz zu den wechselhaften und sich stetig wandelnden Facetten des urbanen Alltagslebens, erscheint die Natur somit als zeitloser Ort, den man bereisen kann, zumindest wenn man die Möglichkeit dazu hat.
3.2 Die Natur als Rückzugsort
Im vorangegangenen Abschnitt haben wir dargelegt, dass der Natur gerade aus städtischer Sicht eine gewisse Erhabenheit zugeschrieben werden kann. Insofern die Natur, in ihrer vermeintlich unberührten „ersten“ Form, im städtischen Alltag vor allem aus der Distanz wahrgenommen wird, wird sie zu einem Ort der Beständigkeit, der losgelöst vom Treiben der Stadt existiert. In der Tourismusforschung gilt diese Vorstellung der Wildnis im Sinne einer „ersten“ Natur daher als Paradebeispiel für das, was Daniel C. Knudsen et al. (2016) als „Phantasie der Authentizität“ bezeichnen, einen gesellschaftlich produzierten Raum, zu dem sich Tourist*innen hingezogen fühlen, weil er von den entfremdenden Strukturen der Gesellschaft losgelöst zu sein scheint:
Als einzigartige und kraftvolle Bühne für die Phantasie schafft die Wildnis ein Gefühl für das Authentische und ist ein Mittel, durch das wir uns, insbesondere im Westen, mit der Phantasie der Authentizität beschäftigen. Als eine Quintessenz des „Anderen“ ist die Wildnis … ein Ort, zu dem sich viele von uns hingezogen fühlen, um sich erfüllt, autark, vollständig und nicht entfremdet von unserem wahren, biologischen Selbst zu fühlen (Vidon, 2019, p. 19, eigene Übersetzung).
Wie in diesem Zitat bereits angedeutet wird, lässt sich diese emotionale Bedeutung von Natur nicht ausschließlich auf Naturtourist*innen beschränken, sondern hat Einfluss auf eine Vielzahl möglicher Subjektpositionen. Die Vorstellung von Natur als dem „Anderen“ hat vor allem im Westen eine lange Tradition; sie gestattet es, die Natur mit Phantasien des Schützenswerten, Erstrebenswerten und Verlorenen aufzuladen (Pohl, 2020; Vidon et al., 2018). Dieser Aspekt ist gerade für Fragen der ontologischen Sicherheit relevant, wie wir im Folgenden näher ausführen, da Natur dadurch zu einer Art Zufluchtsort wird, an dem man sich frei von den Zwängen der (städtischen) Gesellschaft fühlen kann. Ein zentrales Motiv, welches in allen drei Städten Erwähnung fand, war die „Liebe zur Natur“. Wenn Interviewten das Bild der Landschaft (Abbildung 2) gezeigt wurde oder sie ganz offen gefragt wurden, wo sie sich wohlfühlen, fingen viele an, darüber zu schwärmen, wie wesentlich die Natur für ihr eigenes Wohlbefinden sei:
Ich liebe grün. Und ich liebe eh die Natur. Ich fühle mich ihr sehr verbunden, ich kann mich dort erholen. Also, da kann ich auftauen. (Ber13, 2)
… und die Blumen, es ist wunderschön. Und es gibt überall Vögel. Ich liebe es. Ja, ich fühle mich darin unglaublich glücklich. (Sing53, 637)
Ich liebe die Natur. Ich liebe die Bäume, ich liebe das Wasser, ich liebe die Tiere … seit ich ein Kind war. Ja, ich liebe die freie Natur … (Van07, 274)
Es ist auffällig, dass viele Interviewte eine bestimmte Art von Natur vor Augen haben, wenn es um ihre Zuneigung zur Natur geht. Ist hier von Bäumen die Rede, so meint die Interviewte nicht die Bäume im nächstliegenden Stadtpark. Ebenso das Wasser, auf das hier Bezug genommen wird, bezieht sich nicht auf jenes, welches in der städtischen Kanalisation fließt. Kurzum, die Natur, die hier mobilisiert wird, ist keine „graue“ Natur, wie sie etwa in der gebauten Umwelt und exemplarisch in Abbildung 1 und 3 zum Ausdruck kommt, sondern eine „grüne“ Natur (siehe hierzu auch Wachsmuth und Angelo, 2018), die man gerade deshalb liebt, „weil wir in unserem täglichen Leben sehr stadt- und bürogebundene Menschen sind“ (Sing50, 697) und diese Natur im Gegensatz hierzu „vom Lärm der Stadt abgeschirmt“ (Ber14, 31) zu sein scheint. Wie in der folgenden Reaktion auf das Bild aus Abbildung 2 deutlich wird, ermöglicht diese Naturvorstellung die Hervorbringung einer Phantasie von Authentizität, die als Projektionsfläche fungiert, um teils unbewusste Begehren zur Sprache zu bringen:
[W]enn man die Augen schließt und sich vorstellt, dass man dort ist, wird man das Gefühl haben, dass die Luft kalt ist und es sich sehr frisch und sauber anfühlt, weil niemand in der Nähe ist … Man hat das Gefühl, dass man den ganzen Raum genießen kann und ganz allein ist. Niemand sonst ist hier und verbaut oder ruiniert die Natur. (Van54, 58)
Durch die Vorstellung von Frische und Sauberkeit, die die Interviewte in das Bild hinein fantasiert, beschwört sie nicht nur die Imagination einer „grünen“ Natur herauf, sondern im gleichen Atemzug auch die Imagination einer verschmutzenden und zerstörerischen Stadt („verbauen“ und „ruinieren“ deuten wir hier als dezidiert urbane Assoziationen), wobei der Städtebau demnach als treibende Kraft herangezogen wird, der die „grüne“ Natur zurückdrängt und bisweilen sogar zum Verschwinden bringt. Oft hat die Sehnsucht nach unberührter Natur dabei nicht nur eine räumliche Komponente, die dadurch zum Ausdruck kommt, dass man mehr Zeit im Grünen verbringen möchte, sondern auch eine zeitliche bzw. raum-zeitliche Komponente, die wiederum stark an die jeweilige Biographie der oder des Einzelnen gebunden ist. Gerade ältere Interviewpartner*innen bezogen sich oft auf eine Zeit in der eigenen Kindheit, in der die Natur noch greifbarer und wahrnehmbarer gewesen sei. Ein Mann aus Singapur erzählte beispielsweise davon, wie er vor 30 Jahren mit seinen Freunden auf einem großen Feld Fußball spielte, bevor das Feld für den Bau weiterer Autobahnen umgebaut wurde:
Ich war sehr traurig, als ich diesen Ort [wieder]sah. Früher war es ein glücklicher Ort für mich, jetzt ist es eine Straße … Aber dann sagte ich mir, in Singapur kommen wir nur voran, indem wir in die Natur eingreifen, im Namen des Fortschritts. (Sing41, 594)
Das Verhältnis zur Natur wird hier als durch die Prozesse der Urbanisierung bedroht beschrieben. Die Einflüsse der modernen Stadtentwicklung erscheinen als eine „eingreifende“ Kraft, die der Präsenz von Natur entgegensteht. Zentral ist dabei jedoch die Annahme, dass die (imaginäre) Natur nicht vollends zum Verschwinden gebracht werden kann und dass die (phantasmatische) Authentizität, die mit einem Leben im harmonischen Einklang mit der Natur einhergeht, auch den Urbaniten weiter innewohnt:
Ich glaube, dass wir Menschen mit der Natur verbunden sind, auch wenn wir versuchen, in Städten zu leben und in Apartmenthäusern zu wohnen. Ich glaube, tief im Inneren sind wir immer noch so, wie wir uns entwickelt haben. Unsere Vorfahren waren es gewohnt, nahe an der Natur zu leben. Ich glaube, dass das immer noch ein Teil von uns ist. (Van21, 260)
Analog zu einer Beobachtung, die Greg Dash und Carl Cater (2015, p. 268) bei Naturtourist*innen gemacht haben, finden wir hier eine „Forderung nach Wiederherstellung einer verlorenen menschlichen Harmonie mit der Natur vor, eine Sehnsucht nach ihrer Funktion als ‚großer Anderer‘, der Sicherheit verspricht“ (eigene Übersetzung). Auf diese Weise wird die (imaginäre) Natur in einem doppelten Sinne zum Rückzugsort: Während sie einerseits als Ort fungiert, den man bereisen kann, um sich eine Auszeit zu nehmen und Abstand zum städtischen Alltag zu gewinnen, wird die Natur andererseits zu einem Ort der Nostalgie und des Ursprungs, an den man gedanklich und emotional zurückkehren kann, selbst wenn dieser Ort „real“ nicht (mehr) existiert. Aus psychoanalytischer Sicht muss betont werden, dass die moderne Stadtentwicklung jedoch nicht einfach zu einer „Verdrängung der Natur“ führt, sondern vielmehr als Indikator dafür dient, die Natur überhaupt erst zu jenem „glücklichen Ort“ werden zu lassen. Die Natur gewinnt erst dann ihre vollwertige (imaginäre) Existenz, wenn etwas an ihr als „verloren“ erachtet wird.10
3.3 Die Natur als Ort der Identifizierung
Auch wenn diese Art, die Natur in ihrem (verlorenen) Zustand der Unschuld und Unberührtheit zu erleben, wie Slavoj Žižek (2010, p. 80) betont, einem „Phantasma in Reinform“ verhaftet ist, möchten wir den machtvollen Gehalt dieses Phantasmas für die ontologische Sicherheit betonen. Als einem Interviewpartner aus Vancouver das Bild in Abbildung 2 gezeigt wurde, identifizierte er dieses unmittelbar mit Kanada und begann sofort einen Monolog darüber, was es für ihn bedeutet, in der (kanadischen) Natur zu sein:
Es fühlt sich an wie die Berge von BC [British Columbia] … Ich liebe diese Art von Aussichten … Ja, ich mag es. Es ist positiv. Wenn man solche Orte besucht, fühlt man diese innere Frische in sich … Es gibt einem das Gefühl, alles neu beginnen zu können. Selbst wenn man manchmal verloren ist, sich hoffnungslos fühlt … das Gefühl hat, dass alles, was passiert, alles Negative, alle negativen Gefühle auf einen gerichtet sind. Dann geht man in die Berge, sieht diese Natur, die Flüsse, die Gewässer … die frische Luft, das Sonnenlicht. Das gibt einem ein Gefühl des Neuanfangs … es gibt einem Hoffnung. Man fühlt sich vollständig. (Van18, 410)
Die Macht der Natur besteht in diesem Narrativ darin, ein Gefühl von Vollständigkeit zu verleihen, besonders dann, wenn man sich unvollständig fühlt. Genau dadurch wird die Natur zu einem phantasmatischen Objekt des Begehrens: „Orte, an denen ich wieder auflade, sind für mich im Freien. Es ist die Natur“ (Sing60, 24), wie ein weiterer Interviewpartner aus Singapur erläutert. Einige Interviewpartner*innen wiesen darauf hin, dass die Natur vor allem während persönlicher Krisen an Bedeutung gewinnt. Ein Mann Mitte dreißig aus Vancouver erklärte seine Zuneigung zur Natur damit, wie ihm seine Spaziergänge in der Natur halfen, zu regenerieren und seine innere Ordnung zurückzugewinnen, nachdem er seinen Job gekündigt hatte:
Ich habe vor kurzem meinen Job gekündigt und angefangen spazieren zu gehen… Wenn man in der Natur verloren geht, vergisst man sich selbst und lernt von der Natur. […] Du musst deine Ordnung von der Natur wiedererlangen. Das hilft dir, dich zu regenerieren. Das ist sehr wichtig. (Van09, 529)
Aus psychoanalytischer Sicht könnte man sagen, dass die Natur hier eine Art „Ideal-Ich“ verkörpert, durch die das eigene „Idealbild auf die Außenwelt projiziert“ wird (Chiesa, 2022, p. 37). Dies bedeutet, dass sich in der Natur gerade das zeigt, was man in sich selbst sehen möchte. Dadurch lässt sich ebenfalls erklären, warum ein Interviewpartner beispielsweise von sich sagt, er sei „stolz auf Kanadas natürliche Umwelt“ (Van10, 305) oder warum sich eine weitere Interviewpartnerin entschieden hat, sich die Berge Vancouvers auf den Körper zu tätowieren:
Aufzuwachsen und immer auf die Berge zu blicken, hat wirklich viel von meiner Art zu denken geprägt… Ich liebe die Berge… so sehr, dass ich sogar ein Tattoo von ihnen auf meinem Körper habe. (Van33, 666)
Der Grund, warum sich hier mit der Natur Kanadas geschmückt wird, ist, dass etwas an dieser Natur dem eigenen Idealbild entspricht. Bestimmte Eigenschaften, wie Ausgewogenheit, Stabilität, Gesetzmäßigkeit und Harmonie, die unbewusst dem eigenen Ideal-Ich zugesprochen werden, werden dabei auf die Natur projiziert, wodurch die Natur die Macht erhält, das eigene Selbstbild zu vervollständigen. Deshalb löst auch nicht jede Natur die gleiche emotionale Reaktion aus. Ausgehend davon, welches Bild der Natur mit dem eigenen Idealbild korrespondiert, zeigt sich, ob und wie die Natur zu einem Garanten für ontologische Sicherheit wird.
Die Humangeographie geht heute mehrheitlich davon aus, dass es „da draußen keine Natur“ gibt, die als „Fundament“ für menschliches Handeln fungieren könne, und dass jegliche Natur „radikal imaginiert, konstruiert und symbolisch aufgeladen“ ist (Swyngedouw, 2009, p. 378). Aufbauend auf dieser Einsicht haben wir in diesem Beitrag imaginäre Naturverhältnisse in Deutschland, Kanada und Singapur anhand von bildgestützten Interviews (Foto-Elizitation) untersucht. Hierbei stand die Frage im Mittelpunkt, welche Vorstellungen von Natur sich – unter Verwendung von Jacques Lacans Konzept des Imaginären – finden lassen und welche alltägliche Wirkmächtigkeit diese konstruierten Naturvorstellungen haben. Entgegen den potenziellen Verunsicherungen, die sich aus gesellschaftlichen Krisendiskursen rund um das „Ende der Natur“ etwa in Bezug auf Klimawandel, Umweltzerstörungen und ökologischem Raubbau ableiten ließen, konnten wir herausstellen, wie Subjekte über ein bestimmtes Bild von Natur zu ontologisch versichernden Vorstellungen über sich selbst und ihrer Umwelt gelangen. Dieser vermeintliche Widerspruch erinnert an ausgewählte Ergebnisse der Tourismusforschung, in denen entlang eines Lacan'schen Ansatzes untersucht wurde, inwiefern die „Wildnis“ bedeutungsvolle und damit „authentische“ Erfahrungen von Sicherheit und Geborgenheit in Naturtourist*innen hervorrufen kann, selbst wenn es an diesem Reiseziel per se nichts Authentisches gibt: „Auch wenn die unberührte Wildnis […] in keinem ‚wissenschaftlichen‘ oder ‚realen‘ Sinne existiert, hat sie dennoch die beabsichtigte Wirkung auf das touristische Subjekt“ (Vidon et al., 2018, p. 68, eigene Übersetzung).
Unser Beitrag erweitert diese Beobachtung der Tourismusforschung empirisch und überträgt sie auf städtische Subjekte im Allgemeinen. Wir konnten in unserem internationalen Vergleich zeigen, auf welche Weise die Vorstellung einer vom Menschen losgelösten Natur bis heute vielfältige und zugleich ähnlich emotional versichernde Wirkungen in städtischen Subjekten freisetzt − selbst wenn sie in ganz unterschiedlichen geopolitischen, gesellschaftlichen und raumstrukturellen Kontexten situiert sind. Im Anschluss an Bernhard Gill (2003, p. 53) ließe sich schlussfolgern, dass die Natur, wie sie in den Interviews aus Berlin, Singapur und Vancouver zum Vorschein kam, einer „alteritätsorientierten Objektkonstruktion“ folgt, die Natur als „das Andere“ verhandelt und somit zu einer „Gegenwelt“ macht, die von der Gesellschaft (bzw. in unserem Fall konkreter dem städtischen Alltag) losgelöst existiert, um als „Projektionsraum“ für versichernde Imaginationen zu dienen.
Das Ziel dieses Beitrages war es, einige der Bedingungen dafür zu identifizieren, wie Natur zu einem imaginären Bezugspunkt für ontologische Sicherheit werden kann. Auf Basis der Interviews haben wir dabei erstens herausgestellt, dass sich Natur in Distanz zum städtischen Alltag konstituiert, was die Grundbedingung dafür bildet, um sie mit bestimmten Qualitäten aufzuladen. Daran anschließend ist es möglich, die Natur zu einem Rückzugsort werden zu lassen, den man (gedanklich oder leibhaftig) bereisen kann, um sich eine Auszeit zu nehmen und Abstand zum städtischen Alltag zu gewinnen. Schließlich haben wir drittens herausgearbeitet, wie die Natur dadurch zu einem Ort der Identifizierung für das Subjekt und genauer für dessen Idealbild werden kann, indem sie einen Raum für Projektionen rund um Eigenschaften wie Ausgewogenheit, Stabilität, Gesetzmäßigkeit und Harmonie eröffnet, die das Subjekt als begehrenswert für sich selbst erachtet. Somit lässt sich ein ähnliches Modell, wie Ann Dupuis und David C. Thorns (1998, p. 29) es hinsichtlich des Verhältnisses von Wohnen bzw. Zuhause und ontologischer Sicherheit entwickelt haben, auch auf das Verhältnis von (imaginärer) Natur und ontologischer Sicherheit übertragen. Die Natur wirkt vor allem dann ontologisch versichernd, wenn sie:
-
als Ort der Beständigkeit aufgefasst wird (der losgelöst vom städtischen Alltag existiert);
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als (gedanklicher und leibhaftiger) Zufluchtsort dient, an den man sich frei von den Zwängen fühlen kann, die einem von der (städtischen) Gesellschaft auferlegt werden;
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als räumlicher Kontext fungiert, in dem alltägliche Routinen ausgeführt werden (insbesondere während persönlicher Krisen);
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als sichere Basis herhält, um die herum Identitäten (und Idealbilder) aufgebaut werden können.
Eine Forschung, die den Fokus darauflegt, unter welchen Bedingungen die Natur zu einem imaginären Bezugspunkt für ontologische Sicherheit wird, muss die möglichen Licht- und Schattenseiten zugleich in den Blick nehmen, die mit imaginären Naturkonstruktionen einhergehen. Was bedeuten unsere Forschungsergebnisse zur subjektiven ontologischen Versicherung durch Imaginationen von Natur angesichts von Klimawandel und zunehmender Umweltzerstörung weltweit?
Einerseits könnte man pessimistisch argumentieren, dass die Persistenz der Vorstellung einer „ersten“ Natur, die unabhängig vom menschlichen Handeln existiert und ontologisch versichernd ist, die politische Notwendigkeit und Handlungsbereitschaft schmälert, global wie lokal etwas gegen die weltweite Klimaerwärmung und die zerstörerischen Konsequenzen dessen zu unternehmen: „Auf diese Weise wird die Natur zur Ideologie schlechthin, da ihr leerer Bedeutungskern mit homogenisierten Generalisierungen gefüllt wird, was als Geste der Entpolitisierung schlechthin fungiert“ (Dash und Cater, 2015, p. 269, eigene Übersetzung; siehe auch Smith, 2008; Swyngedouw, 2011). In dieser Sichtweise haben die von uns untersuchten Imaginationen von Natur zwar eine ontologisch versichernde Funktion, könnten jedoch zugleich politisch lähmend auf Subjekte wirken. Imaginierte Natur liefe Gefahr, zu einer „zeitgenössischen Form des Opium des Volkes“ zu werden (siehe auch Swyngedouw, 2009).
Andererseits könnte gerade die ontologische Sicherheit, die Menschen durch ihre Imaginationen von Natur erfahren, sie dazu veranlassen, den Schutz ihrer imaginierten Natur als existenziellen Wert zu einem politischen Ziel zu machen. So argumentiert Rosa (2019, 463) in seiner kritischen Gesellschaftstheorie, dass gerade dort, wo der Mensch die Natur nicht instrumentell und zweckrational betrachtet, etwa als auszubeutende Ressource, sondern als „Resonanzsphäre“ emotional in großer Tiefe erlebt, auch ein geschärftes Umweltbewusstsein und modernisierungskritisches Handeln möglich wird.
Beide gesellschaftspolitischen Deutungen unserer empirischen Ergebnisse, die optimistische wie die pessimistische, sind gleichermaßen spekulativ und möglich. Um zu erfahren, welche Deutung die Oberhand behalten wird, sind weitere empirische Studien nötig.
Aufgrund der getroffenen Datenschutzvereinbarungen sind die Daten, auf denen dieser Artikel beruht, nicht öffentlich zugänglich.
Die beiden Autor*innen haben den Artikel gemeinsam konzipiert. Die Datenanalyse wurde von LP durchgeführt.
Die Autor*innen erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.
Wir danken Miro Born, Janina Dobrusskin, Yannick Ecker, Carolin Genz und Ylva Kürten und Carlotta Reh für die Durchführung eines Großteils der Interviews, auf die wir uns in diesem Beitrag beziehen, Carl-Jan Dihlmann für seine Unterstützung als Forschungsassistent sowie Henning Füller für seine Unterstützung in der Frühphase des Forschungsprojekts „Geographische Imaginationen: Sicherheit und Unsicherheit im Generationenvergleich“ im DFG-geförderten Sonderforschungsbereich „Re-Figuration von Räumen“ (SFB 1265). Wir bedanken uns auch bei den Herausgebern des Special Issues Boris Michel und Jan Winkler sowie den anonymen Gutachter*innen für ihre sehr hilfreichen Hinweise und Kommentare zur Überarbeitung dieses Beitrages.
The research for this paper was funded by the DFG-funded collaborative research center “Re-Figuration of Spaces” (CRC 1265) with the grant no. 290045248.
This paper was edited by Nadine Marquardt and reviewed by two anonymous referees.
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Das wichtigste Bild, das Lacan hierbei in den Blick nimmt, ist das Spiegelbild, durch das das Subjekt von früh an fälschlicherweise annimmt, dass es „sich selbst“ sieht und nicht nur die Projektion des Spiegels. Dieses Bild fungiert für Lacan als eine Art Prototyp für das Imaginäre, weil darin der illusorische Charakter der subjektiven Verbindung von „Ich“ und Bild sehr deutlich zum Ausdruck kommt. Allerdings macht Lacan von Beginn an klar, dass der Spiegel nicht das einzige Bild ist, auf das sich das Subjekt projiziert. Im Gegenteil: „Alle möglichen Dinge in der Welt verhalten sich wie Spiegel“ (Lacan, 2015 [1978], p. 67).
Lacan findet bei Giddens eher beiläufig Erwähnung als jener Psychoanalytiker, der in „manchen Bereichen der Gesellschaftstheorie einen stärkeren Einfluss“ habe, dessen Ansatz jedoch für die Frage der ontologischen Sicherheit wenig hilfreich sei, da er zwar „die Zerbrechlichkeit und Fragmentierung des Ichs zu erfassen“ helfe, nicht jedoch auf „die Art und Weise eingeht, in der das Individuum zu einem Gefühl von Kohärenz gelangt, und [auch nicht] untersucht, inwiefern das zusammenhängt mit der Sicherheit hinsichtlich der ‚Realität‘ der Außenwelt“ (Giddens, 1996, p. 122). Dem widersprechen wir, indem wir aufzeigen, wie ein Lacan'scher Ansatz sehr wohl hilfreich sein kann, um nachzuvollziehen, wie ein Individuum auf Basis der Annahme einer „Realität“ als Außenwelt zu einem Gefühl von Kohärenz gelangt. Für vorangegangene Verknüpfungen des Konzepts der ontologischen Sicherheit mit einem Lacan'schen Ansatz siehe auch (Browning, 2019; Eberle, 2019; Pohl et al., 2022).
Die Interviews in Vancouver und Singapur wurden auf Englisch geführt. Alle Zitate wurden von uns ins Deutsche übersetzt.
Einige Ergebnisse der Vancouver-Fallstudie haben wir bereits in einem englischsprachigen Paper dargelegt (siehe Pohl und Helbrecht, 2022a). Diese Erkenntnisse werden im Folgenden über einen vergleichenden Ansatz mit Singapur und Berlin vertieft.
Im Fall von Vancouver muss betont werden, dass die Vorstellung einer vom Menschen unberührten Wildnis wesentlich von der kolonialen Geschichte und einer neokolonialen Rhetorik geprägt ist. Nur auf Basis einer (verbalen und physischen) Unsichtbarmachung der First Nations, was in British Columbia eine lange und andauernde Tradition hat (siehe hierzu auch Willems-Braun, 1997), lässt sich auf die Wildnis in jener phantasmatischen Weise Bezug nehmen, wie wir sie im Folgenden rekonstruieren werden.
Insbesondere der US-amerikanische Wildnisbegriff ist bereits seit langem Bestandteil wissenschaftlicher Auseinandersetzungen (siehe Callicott und Nelson, 1998; Nash, 2014; Nelson und Callicott, 2008). Für eine kritische Perspektive sei auf den einschlägigen Aufsatz von William Cronon (1996) verwiesen. Für einen kürzlich erschienen deutschsprachigen Beitrag, siehe auch Katharina Kapitza und Sabine Hofmeister (2020) hierzu.
Siehe hierzu auch kritisch Julia Poerting and Nadine Marquardt (2019) sowie Poerting et al. (2020).
Dieser Gedanke wird von Lacan an vielen Stellen seines Werkes wiederholt. Exemplarisch beschränken wir uns auf ein Zitat aus seinem sechsten Seminar. Hier heißt es: „Für das Subjekt erscheint das Objekt, wenn ich das so sagen kann, draußen“ (Lacan, 2020 [2013], p. 416).
Timothy Morton (2007, p. 113) weist auf diese subjektive Dimension der Ferne hin, die an den Begriff der Wildnis gekoppelt ist: „Was die Wildnis betrifft, so ist die Distanz keine empirische, sondern eine soziale und psychologische, die auch dann bestehen bleibt, wenn man sich in einer Wildnis befindet. Wenn man ihr zu nahekäme, sagen wir, indem man tatsächlich in ihr lebt, dann wäre sie keine Wildnis mehr“ (eigene Übersetzung).
Dieser Aspekt ist wesentlich, gerade für Lacan. So schreibt Bruce Fink (2011, p. 131) in seiner Einführung in die Lacan'sche Subjekttheorie: „Das ‚verlorene Objekt‘ gab es nie; es wird bloß im Nachhinein als Verlorenes konstituiert, da das Subjekt nicht in der Lage ist, es anderswo als im Phantasma oder im Traumleben zu finden“. Ähnliches können wir über die Natur sagen, wie sie in den Interviews verhandelt wurde: Die „verlorene Natur“ gab es (in der Form) nie; sie wird erst im Nachhinein als Verlorenes konstituiert, da die Interviewten nicht in der Lage waren, sie anderswo als im Phantasma zu finden.