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Oral history in geographischer Forschung: Emotionen und Verlust in Erfahrungsgeschichten ehemaliger Werftarbeiter:innen erforschen
Nora Mariella Küttel
This article presents a spatially sensitive approach to the narratives of transformation processes, employing oral history to explore the connection between loss, emotions, and memory in the context of changing shipyard work in East Germany since 1989. The former place of work, the shipyard, serves as a central place where loss, emotions and memory condense. The method of oral history enables the subjective narration of past experiences and forms the basis for recording and analyzing narratives of experiences. Empirically, the article draws on oral history interviews with former shipyard workers to gain deeper insights into their memories, experiences and the emotional impact of the loss or impending loss of their jobs. This research contributes to understanding the social and emotional effects of transformation processes, emphasizing the importance of oral history in incorporating the subjective experiences of those affected in geographical research.
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Der Transformationsprozess ostdeutscher Werften begann mit der Privatisierung nach 1990, der ein Jahrzehnte langes wirtschaftliches Auf und Ab der ostdeutschen Schiffbaubranche folgte. Krisen, Eigentümerwechsel und Insolvenzen prägen die Entwicklung der Warnowwerft in Warnemünde, der Volkswerft in Stralsund und der Mathias-Thesen-Werft1 in Wismar von 1990 bis zur finalen gemeinsamen Insolvenz 2022. Damit einher gingen für die Beschäftigten die ständige Angst und reale Bedrohung, den Arbeitsplatz zu verlieren – etwas, was bis 1989 undenkbar war. Ehemalige Beschäftigte erscheinen in Berichten über die Transformationen der Werften oft nur als Zahlen: die Anzahl jener, die ihre Arbeit verloren, erfolgreich in andere Jobs überführt wurden oder wegen Alter und Erwartungen schwer vermittelbar waren. Selten kommen einzelne und unterschiedliche Stimmen zur Sprache, subjektive Erfahrungsgeschichten sind bisher wenig dokumentiert2 und in der geographischen Forschung zu Strukturwandel, Transformations- und Deindustrialisierungsprozessen spielen sie bisher kaum eine Rolle3. Dabei haben diverse Publikationen inzwischen gezeigt, dass Lohnarbeit meist „[…] more than just a job“ (Dutta, 2020:1357) ist und die Tätigkeit, der materielle und soziale Arbeitsort und das Produkt der Arbeit in emotionalen und identitätsprägenden Beziehungen mit den Arbeitenden stehen (bspw. Alheit und Dausien, 1991:356; Brunnbauer et al., 2022:55; Dutta, 2020:1358; Strangleman et al., 2013:19). Die Relevanz für die Geographie wurde spätestens durch Masseys Spatial Division of Labour (1995b) und das Ende der 1990er Jahre aufkommende Feld der Labour Geography (Herod, 1997) deutlich, das die Subjekte der Arbeit und ihre räumlichen Verflechtungen in den Fokus rückte. Nach Masseys relationaler Raumbetrachtung (1994, 1995a) ist Raum ein dynamisches Konstrukt sozialer Beziehungen, mit multiplen, temporären und unsicheren Identitäten, das untrennbar mit Zeit verbunden ist. Aus dieser Perspektive betrachtet, sind Arbeiter:innen nicht nur Raumproduzent:innen, sie werden gleichzeitig von Raum beeinflusst und geformt. Raum und Arbeiter:innen prägen und produzieren sich wechselseitig. Folglich sind ihre Erfahrungsgeschichten im Kontext von Transformationsprozessen der ostdeutschen Werftindustrie und dem damit verbundenem tiefgreifendem wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Wandel auch für eine geographische Untersuchung von Bedeutung. Vergangene Erfahrungen und die mit ihnen verbundenen Emotionen sowie materielle und soziale Überreste (Linkon, 2018:4) können Teil der Gegenwart sein. Das bedeutet wiederum, dass deren Abwesenheit oder Verlust gegenwartsprägend sein kann, wie Mau in einer Abqualifizierung der „Identität, Erinnerung und Sinngebung [von ehemaligen DDR-Bürger:innen] als minderwertig, rückwärtsgewandt, obsolet oder gar entwicklungshemmend“ (Mau, 2019:210) beobachtet, der auch, aber nicht ausschließlich, in „Formen der festhaltenden, mitunter auch trotzigen Reaktanz und des inneren Rückzugs“ (Mau, 2019:210) begegnet wird.
Am Beispiel dreier ostdeutscher Werften zeige ich in diesem Beitrag, inwiefern die Methode der oral history in geographischer Forschung geeignet ist, um zu untersuchen, wie Verluste subjektiv erlebt, verhandelt und erinnert werden und setze dabei an einer Leerstelle der Kultur- und Sozialgeographie innerhalb bzw. zwischen der geographischen Erinnerungsforschung und der deutschsprachigen Labour Geography an. Im Folgenden entwerfe ich dafür eine raumsensible Herangehensweise an Erfahrungsgeschichten von Transformationsprozessen über die Methode der oral history. Ich fokussiere mich unter Bezugnahme auf das empirische Material meines Forschungsprojektes zum Wandeln von Werftarbeit auf die Verschneidung von Verlust, Emotionen und Erinnerung, gerahmt durch ein relationales Raumverständnis. Der Ort (place), an dem Verlust, Emotionen und Erinnerung in diesem Projekt zusammenlaufen, ist der ehemalige Arbeitsort, die Werft. Verlust begreife ich als eine Erfahrung, die unter anderem Emotionen wie Trauer oder Frust hervorrufen kann. Erinnerung wird als das Erinnern einer Erfahrung verstanden, die im Erzählen abgerufen, (neu)justiert und in Beziehung gesetzt wird. Erinnerungen sind nicht einfach vorhanden, dauerhaft gespeichert und objektiv abrufbar (Wierling, 2021:72). Sie sind konstitutiv und existieren „[…] an keinem anderen Ort und zu keiner anderen Zeit als im Hier und Jetzt […]“ (Jureit, 2009:86). Ich verwende den Begriff der Erfahrungsgeschichte, um das Narrative und Situierte der Erfahrung zu betonen. Die Möglichkeit und Grundlage des Erzählens bietet wiederum die oral history, die das subjektive Erzählen vergangener Erfahrungen fokussiert. Obwohl in den Geschichtswissenschaften etabliert, gehört sie in der Geographie bisher nicht zum Methodenkanon, obwohl sie sich gut eignet, „[…] for unpacking both the emotionality and spatiality of historical narratives“ (Levine Hampton, 2022:469). Oral history interviews bieten Einblicke, wie Forschungsteilnehmende ihre räumlichen und emotionalen Geschichten erzählen. Gleichzeitig wird ihr Potential für eine räumliche Forschung selten genutzt (Andrews et al., 2006:156–157). Aus methodologischer Perspektive ist es wichtig, so Levine Hampton (2022:473), die Verbindung zwischen historisch-geographischer Forschung und der Theorie der oral history zu stärken, um „[…] a dialogue around the necessary tools for a careful and generous engagement with emotional historical geographies in particular“ herzustellen.
Ich werde im Folgenden zunächst einen Überblick über Forschungen zu Deindustrialisierungs- und Transformationsprozessen geben, die relevant für die rahmenden Themen von Arbeit und Raum sind. Daran anknüpfend widme ich mich der geographischen Forschung zu Erinnerung und arbeite dabei vor allem das subjektive Erinnern im/und Erzählen im Rahmen von oral history heraus. Im Anschluss werde ich mich mit der spezifischen Erfahrung von Verlust auseinandersetzen. Hierbei werde ich zunächst Reckwitz` (2021) Entwurf einer Soziologie des Verlusts aufgreifen und erste Ideen für eine Geographie des Verlustes entwickeln, verbunden mit Erkenntnissen aus der geographischen Emotionsforschung. Anschließend verknüpfe ich die Stränge und untermauere sie mit empirischem Material, um die Eignung des theoretischen und methodischen Zugangs für die Auseinandersetzung mit Erfahrungsgeschichten von Transformationsprozessen aufzuzeigen.
Für das vorliegende Vorhaben schlage ich vor, Forschungen zu Deindustrialisierung4 enger mit denen zu Transformationen post-sozialistischer Räume, insbesondere der ehemaligen DDR, zu verbinden5. Beide Forschungsstränge, die weder als in sich geschlossen noch homogen verstanden werden sollten und die lediglich ausschnitthaft aufgegriffen werden, bieten wichtige Anknüpfungspunkte für die Analyse der emotionalen, sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Folgen von Deindustrialisierung und Transformation von Arbeit.
Untersuchungen zu den Transformationen Ostdeutschlands zeigen, dass das Erleben und Erinnern dieser Prozesse sehr unterschiedlich ausfallen kann (Böick, 2022; Kollmorgen et al., 2011, 2015; Mau, 2019). Während einige Transformationen als Fortschritt und Chance erleben, bedeuten sie für andere den Verlust von beispielsweise Arbeit, Zukunftsperspektiven oder Materiellem (Bretschneider, 2019). Großbölting (2020:134) zeigt für die frühen 1990er Jahre in Ostdeutschland, dass trotz unterschiedlicher Erfahrungen eine Gemeinsamkeit darin bestand, dass „[…] das Schließen von Industriebetrieben oder anderen Produktionsanlagen für die davon betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die jeweiligen Familienangehörigen und die nahe gelegenen Ortschaften immer einen großen Einschnitt“ (Großbölting, 2020:134) bedeutete, der auch heutige Erzählungen dominiere. Hinzu kommt, dass sich dieser Umbruch „[…] vor allem in dem raschen Abbau von traditionell geprägten industriellen Strukturen, die oft gar nicht oder nur marginal durch andere wirtschaftliche Aktivitäten ersetzt werden konnten“ (Großbölting, 2020:134), zeigte. Während dies auch auf andere Regionen zutrifft, so ist Großbölting (2020:136) folgend „das Spezielle im Fall der Entindustrialisierung Ostdeutschlands […] die Breite, die Tiefe und die Geschwindigkeit, mit der der Umbruch einsetzt […]“. Mau (2019:150) beschreibt in diesem Zusammenhang die Einführung der Marktwirtschaft in der ehemaligen DDR als einen „gesellschaftlichen Tsunami“, der Entsicherung, Turbulenz und Zerstörung mit sich brachte. Deindustrialisierung wird nicht nur als ökonomischer Prozess verstanden, sondern als „[…] a social and cultural phenomenon that reshapes places and identities“ (Rhodes, 2013:57), dem politische und wirtschaftliche Entscheidungen zugrunde liegen (High, 2020; Peck, 2018). Deindustrialisierung ist kein natürlicher oder kreativer Prozess, sondern „[…] the result of a complicated set of factors including globalization, offshoring, deregulation, downsizing and technological change that are inherently interconnected“ (Russo und Linkon, 2009:151).
In einer kulturwissenschaftlichen Studie zum Strukturwandel der westdeutschen Schiffbauindustrie zeigt Katharina Bothe (2020), dass Eigentümerwechsel, Schließungen, Kurzarbeit und Entlassungen in den 1980er und 1990er Jahren als „existenzielle Belastungen“ durch die Beschäftigten wahrgenommen wurden, die heute noch entsprechend erinnert werden: ‚Wiederkehrende Formulierungen, in denen diese Phasen als ‚schwer‘, ‚ganz schlecht‘ und ‚ganz schlimm‘ beschrieben wurden, markierten diese Zeitperioden als für die Arbeiter in der Rückschau besonders unsichere Arbeitssituationen“ (Bothe, 2020:269). Zudem seien „mit den betrieblichen Rupturen und Umbrüchen […] Existenzängste im Familienleben einhergegangen“ (Bothe, 2020:270). Trotz dieser Parallelen zum ostdeutschen Schiffbau muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass der Strukturwandel des westdeutschen Schiffbaus insofern ein anderer war, als dass er nicht nur etwa 20 Jahre früher einsetzte, sondern sich vor allem langsamer und weniger abrupt vollzog als in Ostdeutschland (Brunnbauer et al., 2022:10). Was in den frühen 1990er Jahren noch verstärkend hinzukam, ist, dass der Prozess der Deindustrialisierung in Ostdeutschland bekanntermaßen mit einer grundlegenden Transformation weiterer Lebensbereiche zusammenfiel.
In der geographischen Forschung liegt der Schwerpunkt der Auseinandersetzungen mit Erinnerung bisher auf kollektiven Formen des Erinnerns und/oder dem Erinnern im Sinne eines öffentlichen Gedenkens (siehe z. B. Alderman, 1996, 2000, 2003; Alderman et al., 2020; Atkinson-Phillips, 2020; Drozdzewski et al., 2021; Dwyer und Alderman, 2008; Foote und Azaryahu, 2007; Hintermann, 2019; Maus, 2015; Petermann, 2009, 2014; Rose-Redwood et al., 2008, 2022; Walker, 2021). Mir geht es in der vorliegenden Auseinandersetzung jedoch um das Erinnern von Erfahrungen auf einer subjektiven Ebene, ein Aspekt, der in der geographischen Erinnerungsforschung bislang unterrepräsentiert ist (Hill, 2013; Jones und Garde-Hansen, 2014; Leipold, 2019; Meier, 2013). Dabei betonen Maus und Petermann bereits 2019, dass die geographische Erinnerungsforschung, „[…] einerseits der kollektiven Besinnung auf die – unter Umständen individuell ganz unterschiedlich erfahrene – Geschichte und andererseits der persönlichen Erinnerung und Identitätsbildung an, durch und mit Orten unserer Vergangenheit und Biographie“ (Maus und Petermann, 2019:9) verpflichtet sei. Subjektives Erinnern ist nicht isoliert, sondern steht in Verbindung zu und Wechselwirkung mit kollektiven Erinnerungsformen, insbesondere durch das Erzählen (Bertaux und Bertaux-Wiame, 1980). Zwei weitere zentrale Aspekte sind die Verbindung von Erinnerung, nicht-Erinnern und Vergessen sowie die Rolle von Macht (Kübler, 2023:3f.). Relevant ist auch das, was nicht erinnert, vergessen bzw. dessen Erinnerung nicht (mit)geteilt wird. Dies ist häufig mit machtvollen Prozessen verbunden, in denen bestimmte Ereignisse als weniger (gesellschaftlich) relevant und damit weniger erinnerungswürdig dargestellt werden. So herrsche beispielsweise in Bezug auf die Entwicklungen nach 1989 ein „erinnerungskulturelles Vakuum“, was insofern problematisch sei, als dass „[…] der gemeinsame Wissensvorrat wichtiger Identitätsbaustein und Element der Legitimierung gesellschaftlicher Ordnungen ist […]“ (Bretschneider, 2019:o. S.). Die fehlende Möglichkeit der Bezugnahme sei wiederum „[…] tiefgreifend für kollektive Strukturen wie individuelle Selbstverortungen“ (Bretschneider, 2019:o. S.). Gleichzeitig sind „[…] die Umbruchserfahrungen Teil der Identitäten ehemaliger DDR-Bürger:innen“ (Bretschneider, 2019:o. S.) geworden, die in Erinnerungen daran Identitäten (re)produzieren (Drozdzewski et al., 2016:447). Erinnerungen sind also nicht nur relational und dynamisch, sondern stehen auch in wechselseitiger Beziehung zu Identitäten. Der zentrale dritte Aspekt im Zusammenspiel von Identität und Erinnerung ist Raum, der sowohl identitätsprägend als auch durch Identitäten geprägt ist und ebenfalls Erinnerungen evozieren kann und durch Erinnerungen geformt ist (Drozdzewski et al., 2016). Räume, verstanden als relationale und dynamische Konstrukte sozialer Beziehungen, die physisch-materielle Aspekte haben (Massey, 1994:271), können zum Abruf von Erinnerungen beitragen (Drozdzewski et al., 2016:447). Sie sind jedoch nicht Speicher von Erinnerungen (Hubner, 2023:146), sondern vielmehr reproduziert sich die Erinnerung in der Beziehung von Raum und Subjekt bzw. Gemeinschaft und ebenso (re)produziert Erinnerung Räume (Maus und Petermann, 2019:9).
In Erzählungen, die verstanden werden können als „[…] eine versprachlichte Sequenz von Handlungen, Ereignissen oder/und Zuständen, zwischen denen ein Zusammenhang besteht oder hergestellt wird“ (Koschorke, 2020:2), werden Erinnerungen abgerufen und in Beziehung gesetzt. Im Mittelpunkt stehen sowohl die Erinnerung als auch das Erzählen: „Memory and narrative enable and reinforce each other, and they in turn shape the way people understand themselves and their social worlds. Memory provides the basis for, but is also made usable through, narrative“ (Linkon, 2018:4). Die Art und Weise, wie Menschen über die Vergangenheit denken, beeinflusst ihre Wahrnehmung von sich selbst und den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Gegebenheiten der Gegenwart (Strangleman et al., 2013:20). Laut Scharvogel und Rost (2009:72) ist die Vergangenheit „[…] nicht als eine reale oder chronologisierbare Sammlung von Gewesenem“ zu verstehen, sondern das Erinnern ist „[…] ein Akt des Aktualisierens von Vergangenheit“ (Scharvogel und Rost, 2009:72). Das Erzählen ist zudem „[…] eine selektive Tätigkeit […]. Es kondensiert sich um einprägsame Erzählkerne […] während es vieles andere in Vergessenheit geraten lässt“ (Koschorke, 2020:5, Hervorhebung im Original). Wenn etwas nicht erzählt oder nicht für erzählenswert gehalten wird, bedeutet dies weder, dass es nicht erinnert wird, noch dass es nicht passiert ist. Es ist lediglich nicht Teil dieser Erzählung.
Methoden, die das Narrative in den Vordergrund setzen, eignen sich besonders, um subjektive Erinnerungen zu erfassen. Aus diesem Grund habe ich mich für die Erforschung von Erfahrungsgeschichten von Transformationsprozessen ehemaliger Werftarbeiter:innen dazu entschieden, oral history6 zu verwenden. Das Ziel der oral history ist es,
„[…] to gain first-hand knowledge from people who have lived through different social–historical–political periods and events. This methodology allows the researcher to document what the person has lived through and to analyze this information for underlying meanings and significance that such an event or a time period has for the informant“ (Chaitin, 2008:583).
Dieses Erfahrungswissen ist als situiert und subjektiv zu verstehen und kann gleichzeitig in Verbindung mit beispielsweise historischen Ereignissen stehen.
Die gegenwärtige7 oral history hat ihre Ursprünge in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg und ist eng verknüpft mit der Einführung tragbarer Tonbandgeräte, die die Aufzeichnung und Archivierung von Interviews erleichterten. Insbesondere in Großbritannien konzentrierten sich die ersten oral history Projekte auf die Erfahrungen der Arbeiter:innenklasse und gaben damit jenen Raum, deren Alltagswelten und Selbsterzählungen bis dahin wenig Beachtung fanden (Perks und Thomson, 2016a:2). Thompson (2000:8), einer der bekanntesten Vertreter der oral history, beschreibt dies als eine Demokratisierung von Geschichte. Diese werde durch die Verlagerung des Forschungsfokus, die Erschließung neuer Themenfelder und die Infragestellung etablierter Annahmen von Historiker:innen möglich. Dies führt auch dazu, dass bisher wenig beachtete Gruppen in der Forschung Anerkennung und Berücksichtigung finden würden. Ein zentrales Potential dieser Methode ist, dass sie ermöglicht, „[…] histories ‚from below‘“ (Boyle, 2020:7) zu Tage zu fördern und anderes Forschungsmaterial, insbesondere jenes offizieller Erzählungen, ergänzen, unterstützen, kontrastieren oder in Frage stellen kann. Linkon (2018:4) betont zudem, dass die Vergangenheit, sei es durch Geschichten (stories) oder soziale und physische Strukturen, aufgrund ihrer sozialen Funktion in der Gegenwart weiterhin von Bedeutung ist. Die Vergangenheit spielt eine zentrale Rolle bei der Bildung von Identitäten, der Schaffung sozialer Bindungen und der materiellen Erfahrung. George und Stratford (2010:141, Hervorhebung im Original) heben die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart in der oral history hervor, wenn sie schreiben, dass „as a research method, it provides a means to step back to the mix of past times and places as they are mediated through the word and memories of another person in the present“.
Obwohl die oral history seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle in geschichtswissenschaftlicher Forschung zu Erfahrungen und dem Erbe von Deindustrialisierungsprozessen spielt (siehe zum Beispiel High, 2021; High et al., 2017; High und Lewis, 2007; Linkon und Russo, 2002; Orange, 2015; Rogovin und Frisch, 1993), ist sie in geographischer Forschung bisher kaum vertreten. Dies ist überraschend, da oral histories sich gut für räumliche Fragestellungen eignen, denn Erzählungen sind immer zeitlich, räumlich und sozial relational (Jackson und Russell, 2010:186). Levine Hampton (2022:469) beschreibt oral histories als „[…] emotionally complex historical-geographical narratives“, deren „distinctive spatialities“ sich in der Auswahl der Erinnerungen und der Art des Erzählens niederschlagen. Sie bieten großes Potential für die Erforschung der Rolle von Erinnerung in der „[…] creation of place-based identities“ (Jackson und Russell, 2010:188). Über oral histories können sich Forscher:innen verborgen gebliebenen Geschichten (histories) und Geographien benachteiligter Menschen und anderer, deren Perspektiven, Erfahrungen und Erinnerungen bisher kaum oder keine Beachtung fanden, widmen (George und Stratford, 2010:141). Subjektive Raum-Beziehungen, insbesondere solche aus marginalen, informellen und/oder anderweitig nicht dokumentierten Perspektiven, werden zugänglich (George und Stratford, 2010:149). Massey (1992) betont zudem in ihrer Auseinandersetzung mit space-time, dass Raum und Gesellschaft relational sind und auch Raum und Geschichte sowie deren jeweilige Produktion miteinander verwoben sind. Dies verdeutlicht das Potenzial der Methode für Geographien des Verlusts: Mit oral histories und den darin enthaltenen verbalisierten Erfahrungsgeschichten können die subjektiven Verluste sowie der Umgang damit rekonstruiert werden, denn „[…] oral histories inform us about how social processes play out in place. […] Oral histories offer insights into complex mixes of place attachments and identities […]“ (Andrews et al., 2006:170). Interessant ist daher, wie subjektive Lebenserfahrungen erzählt werden (Riley und Harvey, 2007, S. 347; siehe dazu auch Jackson und Russell, 2010, S. 172f.). Das Ziel ist nicht, eine möglichst präzise, objektive Geschichte wiederzugeben. Stattdessen ist oral history selbst eine situierte soziale Praxis: „Oral histories do not capture past events, rather they reveal the current platforms from which memory takes place. The oral history interview is generative coauthoring memories rather than performing as a ventilator neutrally bringing preexisting memories to the surface“ (Boyle, 2020:9). Von Interesse sind nicht die (vermeintliche) Wahrheit einer Erinnerung, sondern deren Partialität und Subjektivität (Riley und Harvey, 2007:347) sowie die Emotionen, Einstellungen und Meinungen (Boyle, 2020:8), die durch sie vermittelt werden. Oral histories sollten daher nicht als objektive und unmittelbare Repräsentationen der Vergangenheit betrachtet werden. Vielmehr dienen sie als Werkzeug zur Erforschung, wie individuelle Erzählungen innerhalb sozialer und kultureller Rahmenbedingungen entstehen und Teil eines kontinuierlichen, kooperativen und relationalen Prozesses sind (Jackson und Russell, 2010:175; siehe dazu auch Jureit, 2009). Die Methode nähert sich dem wachsenden Anspruch einer reflektierenden Wissensgenerierung, die sich unter anderem mit Fragen der Positionalität und Situiertheit aller in der Forschung involvierten Personen auseinandersetzt (Jackson und Russell, 2010:187f.).
Der 1990 einsetzende Transformationsprozess des ostdeutschen Schiffbaus erzeugte für die Beschäftigten Verlustbedrohungen sowie Verlusterfahrungen. Der Fokus liegt auf dem Verlust der Arbeitsstelle, wobei Arbeit nicht nur als ökonomisches Einkommen, sondern auch als eine soziale, kulturelle und politische Sphäre verstanden wird, die verräumlicht ist und Raum produziert. Zudem ist Arbeit eng mit anderen Bereichen des Alltags verknüpft (Götz und Wittel, 2000:8–9). Dies ist relevant zu betonen, da das Ende der DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands grundlegende Veränderungen in nahezu allen Lebensbereichen mit sich brachte.
Verlust begreife ich zunächst als eine Erfahrung des „[…] Verschwinden[s] von etwas in der zeitlichen Sequenz der sozialen Welt […] und zwar ein Verschwinden, welches markiert, negativ bewertet und häufig mit negativen Affekten verknüpft wird“ (Reckwitz, 2021:o. S., Hervorhebung im Original). Die negative Bewertung ist zentral, denn um etwas als Verlust wahrzunehmen braucht es eine „[…] bewertende Interpretation von etwas als Verlust“ (Reckwitz, 2021:o. S., Hervorhebung im Original). Das zu verlierende „etwas“ unterscheidet Reckwitz (2021) in zwei Kategorien8: konkrete Verluste und abstrakte Verluste. Konkrete Verluste beziehen sich auf physisch-materielle Körper, Objekte und Dinge, die zerstört werden oder verloren gehen können. Abstrakte Verluste betreffen hingegen soziale Bindungen, Zukunftserwartungen, Sinn, Status, Anerkennung oder Macht. Trotz der Unterscheidung ist es notwendig zu ergänzen, dass auch die von Reckwitz als abstrakt bezeichneten Verluste ganz konkret erfahren werden können. Schließlich stellt Reckwitz (2021:o. S., Hervorhebung im Original) die These auf, und dies knüpft an die Beobachtungen Maus (2019) und Bretschneiders (2019) an,
[…] dass es sich bei allen Verlusterfahrungen im Kern um einen Identitätsverlust handelt, seien nun individuelle oder kollektive Identitäten berührt. Das Verschwinden von etwas wird immer dann und nur dann als Verlust erlebt, wenn es für das individuelle oder kollektive Selbst schmerzhaft ist.
In meinem Projekt zum Wandel von Werftarbeit untersuche ich sowohl materielle Verluste, wie den Abriss von Werftgebäuden und Kränen, als auch abstrakte Verluste, wie den Verlust von Anerkennung, Status, Sicherheit und Zukunftsperspektiven. Beide Ebenen begreife ich darüber hinaus als räumlich relational, fokussieren sie im vorliegenden Beispiel der Werften nun ganz konkret den Arbeitsort als Ursprungs-, Erfahrungs- und Aushandlungsort der Verluste, die sowohl subjektiv als auch kollektiv erfahren sowie be- und verarbeitet werden können. Die Schmerzerfahrung, die Reckwitz als zentrales Element von Verlust herausarbeitet, kann mit verschiedenen Emotionen einhergehen bzw. diese auslösen, wie Trauer, Frust oder Unverständnis. Transformationsprozesse sind jedoch nicht ausschließlich von negativen Erfahrungen und Emotionen geprägt. So umfasst der Wandel von Werftarbeit für einige ehemalige Beschäftigte Hoffnung, Zuversicht und Stolz. Dies deutet an, dass Verlust nicht als eine isolierte und alleinige Erfahrung auftritt und andererseits nicht alle Werftarbeiter:innen ständig und gleichermaßen betrifft. Linkon (2018:9) betont, dass „if we want to understand the cultural influence of economic restructuring, we must attend to its emotional, intimate, everyday effects“. Ich verstehe Emotionen als „[…] spatially, temporally and socially situated“ (MacKian, 2004:616) „[…] ways of knowing, being and doing in the broadest sense […]“ (Anderson und Smith, 2001:8). Emotionen nehmen Einfluss darauf, wie Menschen Raum und Zeit wahrnehmen, wie sie sich in ihnen bewegen und verorten (Bondi et al., 2007:1; Davidson und Milligan, 2004:524). Eine emotional geography, so Bondi et al. (2007:3), versteht Emotion „[…] in terms of its socio-spatial mediation and articulation […]“ und ist sozial-räumlich relational. Dementsprechend sind Räume in der Lage, Emotionen hervorzurufen – auch durch Erinnerungen (Jones, 2007). Pini et al. (2010:564) schreiben beispielsweise über die Schließung eines Kohlebergwerks in Australien:
Overall, employees expressed a grief and disorientation wrought by a disconnection from a place to which many were attached. These emotional attachments to the workplace had been forged by everyday encounters and interactions with colleagues, through the smells and sounds of the mine operation and via the rhythms of the working day which began and ended for most with a collective bus ride to the site.
Der Verlust der Arbeitsstelle ist also auch ein Verlust von Routinen und Gewohnheiten, die in sozialen, materiellen und immateriellen Verbindungen bestanden, und drückt sich in Trauer und Orientierungslosigkeit aus. Eine stärkere Auseinandersetzung mit diesen und anderen Emotionen, so Pini et al. (2010:570) weiter, sei insofern wichtig, als dass sie Aufschluss geben können, über „[…] notions of inclusion, home, community, work as well as both ‚place‘ and being ‚out-of-place‘“.
Um einen Zugang zu der Erforschung von Erfahrungsgeschichten von Transformationsprozessen zu entwickeln, werde ich im Folgenden die drei zuvor herausgearbeiteten inhaltlichen Stränge mit Ausschnitten aus Interviews mit ehemaligen Werftbeschäftigten verknüpfen. Diese sind Teil von bisher (Stand September 2024) über 30 oral history interviews, die ich im Rahmen meines Forschungsprojektes nutze. Etwa ein Drittel davon habe ich selbst geführt, die anderen stammen vom Stralsunder Geschichtsverein e. V., der anlässlich des 75. Jahrestages der Volkswerft im Jahr 2023 lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen Beschäftigten der Werft führte und mir diese zur Verfügung stellte. Über einen Gate-Keeper und ein Schneeballsystem sowie eine Zeitungsanzeige konnte ich meine Gesprächspartner:innen rekrutieren. Fast alle waren sowohl vor als auch nach 1989, und zumeist über Jahrzehnte, auf einer der drei Werften beschäftigt. Der Großteil der Interviewpartner:innen ist inzwischen in Rente, ein kleinerer Teil war zum Zeitpunkt des jeweiligen Interviews entweder noch über eine Transfergesellschaft angestellt, in Arbeitslosigkeit oder in einer Anstellung außerhalb der Werften. Ein Drittel von ihnen ist weiblich und sie sind überwiegend zwischen 65 und 85 Jahre alt. Sie haben unterschiedliche Ausbildungen durchlaufen, einige wenige von ihnen haben studiert und sie haben in verschiedenen Bereichen auf den Werften gearbeitet: von der IT, über die Konstruktion bis zur Fertigung.
Das Interviewmaterial wurde in einem offenen Verfahren kodiert und in einem iterativen Prozess zunehmend verallgemeinert, um Muster erkennen und diese an dem Material überprüfen zu können (Mattissek et al., 2013:201f.). Die Analyse wird geleitet von der Frage danach, wie Werftarbeiter:innen Transformationsprozesse erlebten, deuten und erinnern und welche sozialen, politischen und kulturellen Phänomene und Beziehungen sich in Transformationsprozessen um-, über- bzw. neuformen. Das offene Kodierverfahren eignet sich aus zwei Gründen besonders gut: Erstens kann so das narrative, vielschichtige und eher unstrukturierte Textmaterial möglichst uneingeschränkt (= offen) und eng am Ursprungsmaterial bearbeitet werden und Erkenntnisse hinsichtlich des subjektiven und intersubjektiven Erfahrens gewonnen werden. Zweitens erlaubt es die Einbindung weiteren Materials aus anderen Quellen und Formaten. Dies ist für den vorliegenden Beitrag zwar weniger relevant, sollte hier jedoch angemerkt werden, da das gesamte Projekt neben den Interviews auf diverses zeithistorisches und aktuelles Material9 zurückgreift und methoden- und datentriangulierend arbeitet.
Die Auswahl der folgenden Interviewpassagen basiert auf zentralen, in diversen Interviews wiederkehrenden Themen, an denen das Potential der oral history im Kontext von Arbeit und Verlust besonders deutlich wird. Hierzu zählen die nach 1990 einsetzende Arbeitsplatzunsicherheit, die Entlassungen von Kolleg:innen und eine mögliche eigene Entlassung sowie ein Spektrum von Emotionen, das von Sorge, Angst und Enttäuschung bis zu Spaß, Hoffnung und Zuversicht reicht.
5.1 Entwicklung der Werften nach 1990
Anfang der 1990er Jahre wurde zunächst der VEB Kombinat Schiffbau, zum dem die Werften gehörten, inklusive seiner Zulieferer durch die Treuhandanstalt privatisiert und umstrukturiert (Eich-Born, 2005:145ff.). Hiervon waren neben Produktionsabläufen und Lieferketten insbesondere an die Betriebe angegliederte Einrichtungen, darunter Polikliniken, Kulturhäuser und Kindertagesstätten, betroffen (Wieschiolek, 2000:76). Diese Entwicklungen führten unter anderem zu einem hohen Arbeitsplatzabbau – die Zahl der Beschäftigten im Schiffbau in Mecklenburg-Vorpommern fiel von etwa 55 000 (1980) auf nicht mal 16 000 (1992) (Lütkemeyer, 2020:56) – und machten aus einem über Jahrzehnte garantierten Arbeitsplatz einen unsicheren. 1992 bzw. 1993 wurden die Wismarer und die Stralsunder Werften von der Bremer Vulkan AG übernommen, die Werft in Warnemünde wurde 1992 von Kvaerner ASA übernommen. Beginnend mit der Insolvenz der Bremer Vulkan AG 1996 bzw. finanziellen Engpässe der Kvaerner ASA ab den frühen 2000 Jahren setzte bei allen drei Werften eine Reihe von Eigentümerwechseln ein, bis 2016 das Unternehmen Genting Hong Kong die drei Werften kaufte. Im Januar 2022 ging wiederum Genting Hong Kong insolvent.
5.2 Hoffnung, Optimismus und Enttäuschung durch Eigentümerwechsel
Insbesondere die Insolvenz der Bremer Vulkan AG, die für Ostdeutschland geplante Subventionierungen in ihre westdeutschen Standorte investierte (Wolf, 2018:102–103), wird von vielen meiner Gesprächspartner:innen als besonders prägend hervorgehoben. Dabei war nicht nur die Insolvenz selbst einprägsam, sondern ebenfalls, dass mit der Übernahme durch die Bremer Vulkan AG zunächst eine positive Entwicklung erwartet wurde. Es sei eine „Weltfirma“, die jeder kannte (Interview mit Harald, August 2023) und die Zeit unter dem Bremer Vulkan wird zunächst als sehr hoffnungsgebend beschrieben. Ein ehemaliger Geschäftsführer, so eine Erinnerungserzählung von Klaus, soll auf einer Betriebsversammlung verheißungsvoll verkündet haben, „Wir werden hier in 50 Jahren noch Schiffe bauen“ (Interview mit Klaus, Juni 2023), was den Beschäftigten Optimismus gab. Heute ordnet Harald diese Hoffnung als Folge von Unwissenheit über die wirtschaftliche Lage des Bremer Vulkan ein (Interview mit Harald, August 2023). Die Enttäuschung, die dann einsetzte, beschreibt er wie folgt:
So, und das Geld, was an Fördermitteln gekommen ist, hat unsere Werft gar nicht gekriegt. […] Das ist alles nach Bremen geflossen und damit haben die sich noch ihre Prämien ausgezahlt. Und so weiter. Und dann war nachher Feierabend. Vom Vulkan konnte keiner was zurückholen. Da war schon alles weg, ne. Und wir hatten wieder nichts. Da hingen wir wieder in der Luft. Ja und dann geht das immer wieder so weiter. Immer wenn wir dachten, es läuft, [lacht] war wieder Schluss. Und das war dann immer wieder alles mit Entlassungen verbunden“ (Interview mit Harald, August 2023).
Andere ordnen die Situation ähnlich ein, teilweise mit einer drastischeren Wortwahl wie „nur abgezogen“ und „alles rausgezogen“ (Interview mit Gerd, Mai 2023), der Bremer Vulkan wird als „eine Schleudertruppe“ (Interview mit Heinz, Mai 2023) benannt, wobei unklar bleibt, wer genau beim Vulkan damit gemeint ist, und Dieter spricht von „ausgesaugt“ (Interview mit Dieter, Juni 2023). Gerd, Heinz und Dieter beginnen zudem die Ausführungen zum Bremer Vulkan mit dem fast identischen Satz, „Und dann kam ja Bremer Vulkan“. Dies macht den Eindruck einer eingeübten Geschichte, die die Personen in eine für sie schlüssige Erzählung geordnet und bereits mehrfach erzählt haben und die in Medien auf diese Weise erzählt wurde (Gehrke, 1997:2; Rebuschat, 1999:o. S.; Schwandt, 1997:2; Vinke, 2021:17, 24–25). Die subjektiven Erzählungen der einzelnen stehen in Bezug zu kollektiven Erfahrungen. Harald unterscheidet zudem zwischen einem eher unspezifischen „die“, der westdeutschen Unternehmensführung, und „wir“, den ostdeutschen Beschäftigten. Es ist aber nicht nur die Gegenüberstellung, sondern auch die Zuschreibung: „die“, die etwas haben/sich genommen haben und „wir“, die nichts haben/denen etwas genommen wurde. Zudem drückt sich die Enttäuschung besonders durch die Beschreibungen des sich Wiederholenden und Wiederkehrenden im zweiten Teil des Zitates von Harald aus. Die Ereignisse rund um die Insolvenz des Bremer Vulkan waren kein singuläres Ereignis. Sie reihen sich für ihn rückblickend in anhaltende Unsicherheiten und zerstörte Hoffnungen ein, die bereits mit der Wende begonnen haben und in den Folgejahren anhielten. Haralds Lachen mitten im vorletzten Satz ist nicht ein Ausdruck von Freude, sondern Unverständnis über die Situation und ein Gefühl von Macht- und Handlungslosigkeit durch sich immer wieder auftuende Krisen. Bevor diese jedoch auftreten, stellt sich meist doch wieder Hoffnung und Zuversicht ein. 1998, beispielsweise, als A. P. Møller die Volkswerft übernimmt, sei es ein „Lichtblick“ (Interview mit Klaus, Juni 2023) gewesen, 2007 bei der Übernahme durch die Hegemanngruppe hätte man sich „nicht vorstellen können, dass das mal so in die Grütze geht“ (Interview mit Klaus, Juni 2023) und 2016, als der letzte Gesamteigentümer die Werften übernimmt, „kam natürlich eine Euphorie auf, die wahnsinnig war“ (Interview mit Peter, August 2023) und in der Betriebszeitung sei verkündet worden, man würde „Papenburg10 in Lichtgeschwindigkeit überholen“ (Interview mit Udo, August 2023). Diese positiven Emotionen und von außen vermittelten vielversprechenden Aussichten wurden immer wieder abgelöst von zunächst Ernüchterung und Enttäuschungen, später dann Unsicherheiten, Ängsten und Frustrationen, aber auch Resignation, Vertrauensverlust, Unverständnis und Unzufriedenheit. Udo, beispielsweise, berichtet davon, wie die anhaltenden Unsicherheiten auf der Werft ihn und seine Frau davon abgehalten hätten, größere Investitionen zu tätigen, für die sie einen Kredit hätten aufnehmen müssen. Er betont, dass die Unsicherheiten mit zunehmendem Alter und schwindenden Alternativen stärker geworden seien. Immer wieder spricht er von einem unsicheren Gefühl, einer Ungewissheit und dem Bangen, ob er der nächste sei, der entlassen wird (Interview mit Udo, August 2023). Heinz beschreibt ähnliches, wenn er sagt, „So, und da ging mir das auch ein bisschen so ans Nervenkostüm, weil du nie wusstest, wird da schon wieder die Trommel gedreht, da wird schon wieder gemacht. Bist du dabei? Fällst du hinten runter?“. Er geht aber noch einen Schritt weiter, denn dann sagt er:
Und dann habe ich eines Abends zu meiner Frau gesagt, ‚Weißt du was, jetzt mache ich mir keine Gedanken mehr. Ich habe meine Ausbildung, ich weiß, was ich kann, und wenn sie meinen, das reicht nicht oder sie haben einen Besseren, müssen sie es machen‘. Und ab dem Moment ging es mir besser. Ich habe das einfach so hingenommen, wie es war“ (Interview mit Heinz, Mai 2023).
Aus der Unsicherheit und dem Unwissen darüber, wie die eigene Zukunft auf der Werft aussieht – und ob es sie überhaupt gibt – stellt sich bei Heinz sowohl Resignation als auch Akzeptanz ein: Er reflektiert und besinnt sich auf die eigenen Fähigkeiten und nimmt gleichzeitig die Spielarten des Kapitalismus hin, die jederzeit ein Arbeitsende für ihn bedeuten könnten. Es ist das, was High in seiner Forschung zu Deindustrialisierung in Detroit als „[…] the depressing inevitability of capitalism and the disposability of humanity“ (High, 2019:131) beschreibt. Doch selbst wenn Beschäftigte manche Phasen als schlimme oder dunkle Zeit beschreiben, in denen sie die Lust und Freude an der Arbeit verloren haben, so zieht sich durch alle Interviews Spaß an der Arbeit, eine Faszination für Technik und Handwerk und ein Stolz auf das Produkt, das gemeinsam mit Kolleg:innen geschaffen wurde. Dies drückt sich in minutenlangen Ausführungen über Schiffstypen und Produktionsabläufe aus und zeigt sich in Erinnerungen an Stapelläufe, wie bei Martin: „Aber das war schon immer etwas, was einen mit Stolz erfüllt hat, weil man gesagt hat, da hast du irgendwo deinen Anteil dran gehabt“ (Interview mit Martin, Mai 2023). Diese sichtbare, finale Materialisierung der eigenen Arbeit, die sich in einem Schiff und damit in einem der größten von Menschen geschaffenen Industrieprodukte zeigt, beschreiben viele als Stolz. Hierbei ist zudem relevant, dass es sich nicht nur um die eigene Arbeit handelt, sondern um die Zusammenarbeit mit hunderten oder tausenden Kolleg:innen, die schließlich ein Schiff entstehen lässt.
5.3 Angst und Unsicherheit durch wirtschaftliche Umstrukturierungen
Lütkemeyer (2023:287) hält in ihrer geschichtswissenschaftlichen Arbeit zu den ostdeutschen Werften fest, dass „[…] zumindest [in der] retrospektiven Wahrnehmung vieler Betroffener […]“ man zu DDR-Zeiten mehr zusammengehalten habe. In meinem Interviewmaterial kann ich dies ebenfalls identifizieren. Die Jahre bis zur Wende sind in vielen Erzählungen von der Betonung der Kollegialität und des Zusammenhaltes dominiert. Udo, beispielsweise sagt, „zu Ostzeiten war der Zusammenhalt auch noch anders, mit den Kollegen jetzt“ (Interview mit Udo, August 2023). Später habe er ehemalige Kollegen noch zu Bowlingabenden oder zum Grillen getroffen, dennoch wird der Zusammenhalt in der DDR als anders, in einem positiven Sinn, hervorgehoben. Gegenseitige Unterstützung bei der eigenen Weiterentwicklung oder der gemeinsamen Herstellung des Produktes werden in verschiedenen Erzählungen betont, oftmals mit dem Verweis darauf, dass man sich kenne und Jahrzehnte zusammen gearbeitet habe. In den ersten Nachwendejahren wird noch ein Zusammenhalt hervorgehoben: Das gemeinsame Streiken und das Einstehen für ein gemeinsames Ziel sowie die infrastrukturelle Organisation hinter den Streiks Anfang der 1990er Jahre werden als prägend und als „zusammenschweißend“ (Interview mit Dieter, Juni 2023) beschrieben. Ab Mitte der 1990er Jahre ändert sich dies allerdings schließlich, weil spätestens nun der sicher geglaubte Arbeitsplatz zu einem unsicheren wurde. Als schlimm beschreibt Harald die Phase regelmäßiger Entlassungen zur Zeit der Insolvenz des Bremer Vulkan:
Und dann montags war bei uns immer, montags früh zur Arbeit kommen, war schon immer schlimm. Meistens, da war, zum Frühstück war die Besprechung zu Ende und dann wurden die Namen verlesen, die dann bis Wochenende, bis Freitag, konnten die die Werft verlassen. So und dann war es natürlich für alle eine schlimme Situation, weil einmal die, die jetzt benannt wurden, die haben natürlich nichts mehr gemacht. Die hatten die Nase voll, die hatten ja auch alle Familie. Und wir, die dann bleiben durften, hatten sich einerseits gefreut, dass der Name nicht gefallen ist, aber man wusste auch nicht mehr, wie man sich gegenüber den Kollegen verhalten soll. Wir waren im Prinzip nachher froh, die, die dann ja noch da waren, wenn die weg waren. Das war, brachte dann wieder Ruhe rein, ne?“ (Interview mit Harald, August 2023).
Neben der wiederkehrenden Angst, ob die eigene Stelle vom Abbau betroffen war, und der Erleichterung darüber, dass dies nicht der Fall war, kam bei Harald eine neue Unsicherheit auf, wie mit den entlassenen Kolleg:innen bis zu ihrem Ausscheiden umgegangen werden sollte. Udo beschreibt eine ähnliche Veränderung im Umgang miteinander nach der zweiten Insolvenz der Wismarer Werft. Einige Kolleg:innen hätten sich abgekapselt, es fühlte sich an, als sei man nun Konkurrent:innen geworden und er fährt fort:
Ja, aber man konnte selber ja auch nichts dafür, jeder hat bloß gehofft, ‚Boah, hoffentlich bin ich nicht dabei‘. So und wenn es dann den einen oder anderen getroffen hat, dann [bricht ab]. Einige haben einen dann trotzdem, aber viele waren auch ganz schön gnatzig, jetzt wenn man sich dann auf der Straße getroffen hat, als wenn man da was für konnte. Was einem natürlich auch leid tat, aber [bricht ab]“ (Udo, August 2023).
Die „[…] emotional, intimate, everyday effects“ (Linkon, 2018:9) von wirtschaftlicher Umstrukturierung genauer in den Blick nehmend, wird an diesen Erinnerungen von Harald und Udo deutlich, wie sich wirtschaftliche Entscheidungen auf das Individuum, aber auch das Arbeitskollektiv auswirken. Die Arbeit und vor allem der Arbeitsort, von dem Harald zumeist mit einer Begeisterung erzählt, wird in dieser Erinnerung durch die drohenden Entlassungen und der damit verbundenen Gefahr des Verlustes der Arbeit, inklusive ihrer sozialen Beziehungen, zu einem Ort der Unruhe, Angst und Unsicherheit. Hinzu kommen ein soziales Zerwürfnis und eine Überforderung damit, wie mit den ausscheidenden Kolleg:innen umgegangen werden sollte. Die Angst vor einer möglichen Entlassung führt dazu, dass das zur-Arbeit-Kommen in einer Phase regelmäßiger Entlassungen von Harald als „schlimm“ erinnert wird. Die rationalen wirtschaftlichen Entscheidungen nehmen direkten Einfluss auf Haralds und Udos „ways of knowing, being and doing“ (Anderson und Smith, 2001:8) am Arbeitsort und darüber hinaus. Warum man selbst nicht oder erst sehr spät arbeitslos geworden ist, wird zumeist mit einem der folgenden drei Argumente begründet: Entweder ist es das Alter, denn es war eine gängige Praxis, Beschäftigte vorzeitig in den Ruhestand zu entlassen. Wenn es einen nicht oder nicht bereits früher getroffen hat, wird dies andererseits eher unspezifisch mit „Glück gehabt“ begründet, worin sich eine fehlende Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Entlassungsentscheidung ausdrückt. Schließlich wird von einigen das eigene Können, die Expertise und die eigene gute Arbeit als Begründung herangezogen.
Am Beispiel des Transformationsprozesses dreier ostdeutscher Werften möchte ich in diesem Beitrag aufzeigen, inwiefern sich die Methode der oral history eignet, um das subjektive Erleben, Verhandeln und Erinnern von Verlust in geographischer Forschung zu untersuchen. Den historischen Rahmen bildet die Wiedervereinigung, die nicht nur Deindustrialisierungsprozesse auslöste, sondern Transformationen aller Lebensbereiche mit sich brachte und deren ausgelöste Umbruchserfahrungen als identitätsprägend betrachtet werden können. Erinnerung und Identität, wiederum, stehen in relationaler Beziehung zueinander und Erinnerungen können in Erzählungen neu-, um- und re-arrangiert werden. Die Art und Weise, wie Menschen über Erfahrungen und Erlebnisse erzählen, wie sie sie zu Geschichten verweben und was sie für erzählenswert halten und was nicht, ermöglicht Aufschluss über ihr Denken über die Vergangenheit und Gegenwart (Maus und Petermann, 2019:10; Strangleman et al., 2013:20) sowie darüber, wie sie ihr Selbstempfinden konstruieren (Levine Hampton, 2022:470). Jones und Garde-Hansen (2014:11) unterstreichen das Räumliche darin: „Our spatial relationships of the moment are shaped by previous (spatial) experiences. Memory (of one kind or another) is then a fundamental (geographic) aspect of becoming, intimately entwined with space, affect, emotion, imagination and identity“. Oral history ist eine geeignete Methode, diese situierten und narrativen Erfahrungsgeschichten, die bisher (noch) nicht aufgeschrieben sind, zu erfassen und ermöglicht eine Pluralisierung von Wissen und Erfahrungen. Da diese Erzählungen zeitlich, räumlich und sozial relational sind, handelt es sich hierbei für die Geographie um einen produktiven Zugang, der sowohl über die erzählenden Subjekte als auch über die erzählten Räume Aufschluss geben kann. Im vorliegenden Fall der Transformation von Werften ist ein Teil dieser Erzählungen die Auseinandersetzung mit Verlust bzw. einem drohenden Verlust. Verlust, verstanden als das negativ bewertete Verschwinden von Materiellem und/oder Immateriellem, ist bei Reckwitz (2021) immer auch Identitätsverlust, der schmerzhaft für das Selbst ist. Transformationsprozesse generell und Verlusterfahrungen im Speziellen lösen verschiedene Emotionen wie Angst, Trauer oder Hoffnung aus. Emotionen beeinflussen unsere Wahrnehmung und unser Verständnis von Raum und Zeit sowohl in der Gegenwart als auch in Erinnerungserzählungen und nehmen Einfluss darauf, wie wir uns in ihnen orientieren, positionieren und bewegen (Andrews et al., 2006:170). Den analytischen Fokus auf Emotionen zu richten, ermöglicht es, hinter, neben und zwischen die scheinbar rationalen Entscheidungen von Betriebsverkäufen oder Entlassungen zu schauen und die Effekte, die diese auf die betroffenen Beschäftigten haben, herauszuarbeiten (Meier, 2013:480). Die Auseinandersetzung mit Emotionen ist daher „[…] crucial to properly appreciating how lives are lived, histories experienced, geographies made and futures shaped“ (Wood und Smith, 2004:533).
Die Auseinandersetzung mit Ausschnitten aus meinem empirischen Material hat es ermöglicht nachzuvollziehen, wie sich der Arbeitsort durch mehrere Umbrüche und die damit verbundenen Verlusterfahrungen und Verlustbedrohungen für Beschäftigte auf emotionaler Ebene verändert: von einem stabilen Ort zu einem der Unsicherheit, von einem der Freude zu einem der Angst, immer wieder durchzogen von Hoffnungen und Enttäuschungen. Drei Erkenntnisse sind hierbei zentral: Erstens ist in dem exemplarisch gezeigten empirischen Material ein immer wieder und unterschiedlich stark drohender Verlust besonders relevant. So verliert beispielsweise Harald zwar seine Arbeitsstelle, dies jedoch erst am Ende seiner Arbeitszeit und etwa 20 Jahre nachdem die ersten Unsicherheiten durch einen möglichen Verlust einsetzten. Dies bedeutet, dass Harald und ebenso viele seiner Kolleg:innen über Jahre und Jahrzehnte Unsicherheiten durch das wirtschaftliche Auf und Ab der Werft navigieren und einen Verlust von Sicherheit und Stabilität, gewohnten betrieblichen Strukturen und Beziehungen zu Arbeitskolleg:innen akzeptieren musste. Sowohl ein eintretender Verlust als auch die ständige Bedrohung, dass ein Verlust eintreten könnte, nehmen Einfluss auf das Subjekt und sein Erleben, wie sich in den vorhergehenden Abschnitten zeigte. Zweitens wird die Vielschichtigkeit von Geographien des Verlusts deutlich: Sie sind nicht zwingend linear, eindeutig und stagnierend, sondern können prozesshaft und veränderbar sein, wenn sie, angelehnt an Massey (1992) als raumzeitlich gedacht werden. Gleichzeitig werden Verluste von den jeweiligen Subjekten unterschiedlich und unterschiedlich gravierend erfahren, abhängig beispielsweise vom Alter, ihrer Lebenssituation oder davon, was gemeinhin gesellschaftlich als Verlust begriffen wird (Jakoby, 2015:123). Diese Beobachtung stärkt schließlich nochmals den Ansatz, Geographien des Verlusts auch auf einer subjektiven Ebene zu untersuchen. Der vorgeschlagene Zugang gibt, drittens, Aufschluss über die zahlreichen, sich überlagernden Identitäten von Orten (places) und die mit ihnen relational verbundenen und sich wechselseitig hervorbringenden Geschichten, Menschen, ihren Un/Sicherheiten und Brüchigkeiten und leistet einen methodischen und thematischen Beitrag zu dem sich derzeit entwickelnden Feld der Geographien des Verlusts (Andrews et al., 2006:170). Oral history zeigt sich schließlich als eine besonders geeignete Methode, die sowohl das situierte Erzählen durch Forschungsteilnehmende erlaubt als auch der Forscherin die Möglichkeit gibt, die Bedeutungen, die Ereignisse und Zeitperioden für die Forschungsteilnehmenden haben, zu untersuchen (Chaitin, 2008:583). So konnte in der vorliegenden Forschung über die oral history empirisches Material gewonnen werden, das zeithistorisch, intim und persönlich ist und dessen Tiefe als auch Breite durch anderes Material wie Fotografien oder Dokumente nicht erreicht worden wäre. Insbesondere diese Ergänzung offizieller Erzählungen durch partiale und subjektive Geschichten bringt auch eine Verschiebung des Fokus mit sich von zumeist homogen und abgeschlossenen Erzählungen hin zu vielen einzelnen Geschichten, die Kontinuität haben (Riley und Harvey, 2007:347). Es sind situierte Geschichten, die nachwirken und teilweise noch heute eine Rolle im Leben der Erzählenden spielen. Durch die vorwiegend zuhörende Rolle der Forscherin erlaubt die Methode, dass Meinungen, Emotionen und Einstellungen im Gespräch geäußert und dargelegt, entwickelt und reflektiert werden können (Boyle, 2020:8). Auf diese Weise ermöglichen die Erzählungen tiefe Einblicke in das eigene Selbstverständnis sowie die Beziehungen mit anderen Personen, Objekten und Orten und lenkt damit auch die Aufmerksamkeit auf „marginal place and people, both of which are sometimes lost ‚off the map‘ of formal historical scholarship and historical geography“ (Andrews et al., 2006:170). Gleichzeitig muss anerkannt werden, dass auch durch die oral history kein vollkommenes Bild von Erfahrungen gezeichnet werden kann und es bei einem Ausschnitt aus dem Leben eines Menschen bleibt, bei dem immer etwas fehlt, nie der gesamte Kontext erschlossen werden kann und zudem häufig unklar bleibt, was in der Erzählung ausgelassen wird. Die zuhörende Haltung der Forscherin bringt auch eine Schwierigkeit mit sich: Um den Erzählfluss nicht zu stoppen, werden Nachfragen an das Ende des Gesprächs gestellt. Doch ist es, insbesondere bei längeren Gesprächen, nicht immer möglich, noch alle Nachfragen zu stellen. Auch die Möglichkeit, mehrere Gespräche zu führen, um diesem Umstand zu begegnen, ist nicht für alle Gesprächspartner:innen möglich oder von ihnen gewollt. Als eine besondere Herausforderung stellte sich für mich außerdem der Umgang mit nicht selbst erhobenem Material dar, da hierbei nicht nur Nachfragen nicht möglich waren, sondern auch die gesamte Interviewsituation und interpersonale Beziehung nur in Ansätzen reflektiert werden konnte. Dies ist insofern relevant, als das in der zwischenmenschlichen Beziehung von Forscher:in und Forschungsteilnehmenden emotionale Dynamiken entstehen. Die Beziehung zwischen den Beteiligten kann aufgrund ihrer jeweiligen Positionierungen und wechselseitigen Wahrnehmung maßgeblichen Einfluss auf die Emotionsartikulation (sprachlich und nicht-sprachlich) der Forschungsteilnehmenden haben (Bondi, 2007; Laliberté und Schurr, 2016; Obertreis und Stephan, 2009:34). Noch ein weiterer Aspekt ist relevant, nämlich die unterschiedliche Un/Fähigkeit, Emotionen zu erkennen und ihnen Ausdruck zu verleihen. Häufig, so habe ich an meinem Material beobachten können, sind es weniger direkte Emotionsartikulationen, sondern eher Erzählungen, die auf bestimmte Emotionen verweisen. Denkbar wäre eine Weiterentwicklung der Methode oder die Integration einer weiteren Methode, die weniger stark die verbale Artikulation fokussiert, sondern andere Formen des Ausdrucks aufgreift. Ratsam ist außerdem, wie Bondi (2007:236) anmerkt, das verwendete empirische Material als produziert bzw. (ko-)konstruiert zu betrachten: „Both parties are actively involved in the creation of data in the course of their various interpersonal encounters, and these encounters are rich with emotions and emotional dynamics“ (Bondi, 2007:236). Bei den von mir durchgeführten Interviews beginnt dies bereits mit der Rahmung, die ich meiner Forschung gebe, setzt sich fort in der Art und Weise, wie ich gegenüber Forschungsteilnehmenden über meine Forschungsinteressen spreche, welche Fragen und Nachfragen ich in den Interviews stelle, wie die Gesprächsatmosphäre ist und schließlich anhand welcher Kategorien ich das Material auswerte. So konnte ich beobachten, dass Interviews, die ich in den Räumlichkeiten der Forschungsteilnehmenden geführt habe, zwar nicht signifikante inhaltliche Unterschiede mit sich brachten, aber dennoch eine vertrautere und persönlichere Gesprächsatmosphäre schufen. Durch das gemeinsame Kaffee trinken und Kuchen essen, was Teil dieser Gespräche war, und das dabei ausgeschaltete Aufnahmegerät, wurden Pausen in den Gesprächen geschaffen, die allen Involvierten einerseits eine Möglichkeit der Reflektion boten und andererseits ein informelles Kennenlernen ermöglichten. So waren dies die Momente, in denen die Gesprächsführung umgedreht wurde und Forschungsteilnehmende mir Fragen stellten, die persönlicherer Art waren. Darüber hinaus zeigte sich, dass es sich bei den Beziehungen zwischen mir und den Interviewpartner:innen nicht nur um „interpersonelle Angelegenheiten“, sondern in einigen, aber nicht allen Fällen auch um „gesellschaftliche Beziehungen“ handelt (Bertaux und Bertaux-Wiame, 1980:164). Ich habe indes versucht, meinen Interviewpartner:innen zu vermitteln, dass sie die Expert:innen ihrer eigenen (Arbeits)Geschichte sind und mich selbst in eine möglichst offene und empathische Rolle zu versetzen, um antizipierten Erwartungshaltungen über etwas Bestimmtes und/oder auf eine spezielle Art und Weise zu sprechen zu entgegnen. So habe ich in passenden Momenten mein geringes technisches Wissen offengelegt, was bestimmte Erzählungen bei meinen Interviewpartner:innen evozieren konnte und sie in ihrer Expertise und ihrem Wissensvorsprung bestärkte. Gleichwohl ist mir bewusst, dass die interpersonellen und gesellschaftlichen Beziehungen und Machtverhältnisse weiterhin existieren und mich und die Forschungsteilnehmenden prägen. Ich kann sie nicht nivellieren, aber ins Bewusstsein rufen, transparent machen und ihnen, wenn möglich, begegnen (Bertaux und Bertaux-Wiame, 1980:164; Montell, 1980:431f.). So ist dies ein Appell an ein sensibles, fürsorgliches und reflektiertes Umgehen mit dem (eigenen) Material und den Forschungsbeziehungen.
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Die Autor:innen erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten, institutionellen Zugehörigkeiten oder anderen geographischen Begrifflichkeiten neutral. Obwohl Copernicus Publications alle Anstrengungen unternimmt, geeignete Ortsnamen zu finden und im Manuskript anzupassen, liegt die letztendliche Verantwortung bei den Autor:innen.
Ich möchte mich herzlich bei Simon Runkel und Manuel Schramm sowie den anonymen Gutachter:innen für ihre Zeit und Mühe sowie die konstruktive Kritik bedanken. Ich bedanke mich außerdem bei Finja Onnen und Josephine Mosch für die Unterstützung bei der Transkription der Interviews, dem Geschichtsverein Stralsund für die Möglichkeit der Nutzung diverser Interviews sowie meinen Interviewpartner:innen für ihre Zeit und Offenheit, mit der sie dieses Projekt erst möglich machen.
This research has been supported by the Fritz Thyssen Stiftung (grant no. Az. 50.23.0.009SO).
Dieser Artikel wurde von Simon Runkel redaktionell betreut und durch zwei Expert:innen in einem double-blind Review-Verfahren begutachtet.
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Da die Werften über die Jahrzehnte mehrmals ihre Namen gewechselt haben, nutze ich der Einfachheit halber jene, die sie am längsten trugen. Die Werft in Warnemünde trägt heute noch einen Teil ihres ursprünglichen Namens im Titel, das Gelände wird nun als Marinearsenal Warnowwerft bezeichnet. Die Volkswerft in Stralsund trägt seit dem Kauf des Geländes durch die Stadt Stralsund auch wieder ihren ursprünglichen Namen.
Eine Ausnahme ist beispielsweise der Stralsunder Geschichtsverein e. V., der zum Anlass des 75. Jahrestages der Volkswerft im Jahr 2023 lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen Beschäftigten der Werft führte (Stralsunder Geschichtsverein, 2022), wovon ich einen Teil nutzen darf.
Die Transformationen westdeutscher Werften, die bereits in den 1970er Jahren einsetzten und zumeist mit einer geringeren Geschwindigkeit abliefen, sind in den vergangenen Jahrzehnten aus soziologischen, wirtschaftsgeographischen und historischen Perspektiven bereits besser beforscht worden; siehe zum Beispiel Bothe (2020), Bothe und Decker-Lange (2021), Bothe und Wolf (2021), Fornahl et al. (2012), Mossig et al. (2010), Schumann (1982, 1983) and Wolf (2018).
Hierbei sind vor allem Arbeiten aus Großbritannien und Nordamerika, die Raum im Kontext von Deindustrialisierung stärker mitdenken, anschlussfähig, wie unter anderem Byrne (2002), Conlon (2019), Cowie und Heathcott (2003), Dudley (1994), High (2021), High und Lewis (2007), Linkon (2018), Linkon und Russo (2002), Mah (2009, 2014), Orange (2015), Strangleman (2004, 2013, 2022), Strangleman et al. (2013), Sugrue (1996, S. 125ff.)
Arbeiten, die Anknüpfungs- und Bezugspunkte bilden, sind beispielsweise jene von Böick (2022), Bretschneider (2019), Brunnbauer et al. (2022), Kollmorgen und Schrader (2003), Kollmorgen et al. (2011, 2015), Mau (2019)
Für eine noch tiefere und breitere Auseinandersetzung mit der Methode und ihren diversen Entwicklungslinien, Potentialen und Kritikpunkten, verweise ich gern auf bspw. The Oral History Reader von Perks und Thomson (2016b), Oral History and Public Memories von Hamilton und Shopes (2008) sowie, für eine Auseinandersetzung mit dem Einsatz von oral history in Forschungen in/zu post-industriellen Räumen, das Themenheft (Post-)Industrial Memories. Oral History and Structural Change (2/2018, 31. Jahrgang) der Zeitschrift BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen.
Andere Formen der mündlichen Überlieferung, auch als oral tradition oder oral storytelling bezeichnet, gibt es jedoch bereits seit mehreren hunderten Jahren (George und Stratford, 2010:140).
Nina Jakoby entwirft in dem englischsprachigen Beitrag Toward a Sociology of Loss von 2015 ebenfalls eine Klassifizierung für Verlust entlang der zwei Dimensionen „[…] personhood/artifact and materiality/immateriality. This allows sorting loss experiences into three general categories: (a) relationship loss (person, animal), (b) status loss (way of being, such as health, or job), and (c) (im)material object loss (e.g., artifacts, places, ideals)“ (Jakoby, 2015:112)
Hierzu zählen Zeitungsberichte, Werftzeitungen, politische Reden, Autobiografien, berufliche Tagebücher, eigene Fotografien der Forscherin, Fotografien von Forschungsteilnehmenden und offizielle Betriebsfotografien, Dokumentarfilme sowie Feldnotizen.
Papenburg ist der Hauptsitz des Schiffbauunternehmens Meyer Werft.
- Kurzfassung
- Einleitung
- Hintergrund und Rahmen: Deindustrialisierungs- und Transformationsforschung
- Erinnern und Erzählen im Rahmen von oral history
- Verlusterfahrungen und ihre Emotionen
- Verlustbedrohung und -erfahrung von Werftarbeiter:innen
- Abschluss
- Datenverfügbarkeit
- Interessenkonflikt
- Haftungsausschluss
- Danksagung
- Finanzierung
- Begutachtung
- Literatur
- Kurzfassung
- Einleitung
- Hintergrund und Rahmen: Deindustrialisierungs- und Transformationsforschung
- Erinnern und Erzählen im Rahmen von oral history
- Verlusterfahrungen und ihre Emotionen
- Verlustbedrohung und -erfahrung von Werftarbeiter:innen
- Abschluss
- Datenverfügbarkeit
- Interessenkonflikt
- Haftungsausschluss
- Danksagung
- Finanzierung
- Begutachtung
- Literatur